I
XKITSCH Kl FT
des '
Vereins für Volkskunde
Begründet von Karl Weinhold
Unter Mitwirkung von Johannes Bolte
hevausgegeben
von
Fritz Boehm
Mit 25 Abbildungen im Text.
n
Fünfunddreißigster
sechsunddreißigster
Jahrgang:
1925 / 26 .
BERLIN
JULIUS SPRINGER
192(1
I J l 11;» 1 t
Abhandlungen und größere Mitteilungen.
Volkskunde und Schulreform. Von Fritz Hodnn. . i < (
■•Wenn du mich Runen forschest —% Von Walther II.*inri«h V* ji 7
Die Gebetstracht bei den Juden. Von lh rtliold Kohlhaeh . . . II-'..
Der heilige (Miri.stoplioro-s. Von Bruno Schröder. Mit iö Abbild ?• u« i >ü ps
Ft was vom Rinden, Sperren und Finkreison. Von Theodor Zaeharia* Ui) \c
Die Bibernelle in der iVst.Nige. Von Heinrich Märze 11 . . 101 G
Zur Geschichte des Osterhusen und meiner Fier. Von Albert Uecker . . 17! 17^
Die Marspanik in Fsthind 1P21. Von Walter Ander-u» . ........ 22‘.» *\V!
Neue Votivfundo aus Xiedorbayern und Steiermark. Von Uudoll' K r i Li.
Mit 7 Ahbildun gen.2Ö2—2." s
Das Doniröschenspiei. Von t ieorg .soh l\i «jer y. . . 2öb—271
Mit
Kleine Mitteilungen.
Zum deutschen Volksliede öd — (in. Von Johannes Bolte . . ......
Der Randeitanz. Von Johannes Bolte .
Zum Volkslied ..Fuhrmann und Wirtin 11 . Von Selnia IIir*ch .
Die Krankheitsdümonen nach lettischem Volksglauben. Von Fdith Kurt/
Zur Volkskunde Berlins. Von Lutz Mackensen .
Zitronen und Leichen. Von CMut Müller . .
Zur Sage von der Wiederbelebung eines Fisches. Von Georg Folivka
Fine neue Teufels-Legende ans dein modernen Rußland. Von Georg Do*
1 1 v k a .
Drei Liebeslieder dies 17. Jahrhunderts. Von Walter Ziest»in er. .
Die märkische Sagt 1 von der keuschen Nonne. Von Johannes Bolte.
einer Abbildung .
Fine Hebelselie Kalendergesehiehtc auf Reisen. Von Johannes Bolt<
Line afrikanische Freierprobe. Von Johannes Bolte .. .
Fine neue vollständige Sammlung lettischer Volksmärchen. Von Max Bo**lim
Die Wundorfeder. Von Kaarlc Krolin .
Bemerkungen zu neueren Volksliedern I- ö. Von Hermann Kiigler . . .
Lin Bachscher Kanlatentext im Volksmunde. Von Fritz Boelim ....
Zur Pflege der Volkskunde im Fniversitätsiinterricht. Von Fritz Bo« lim
Abgeordneten- Versammlung «les Verbandes deutscher Vereine für Volks¬
kunde. \'on Fritz Boelim . . ..
Der Besuch irn Feenlande, ein chinesisches Märchen. Von Johannes Bol t
Zu Goethes Legende vom Hufeisen. Von Johannes Bolte .
Zum deutschen Volksliede 07 — 7ö. Von Johannes Bolte .
Nochmals ..eni judr'a 1 *. Von Walter Anderson .
’s Vergelzget. eine Volkssage in proveiser Mundart Von Josef Uamp**r
Ftwas vom Abtritt. Von Alfred AI artin .Mit einer Abbildung . . .
Eine neue Variante zu Grimms Märchen Nr. 115. Von Gurt >ehr«*in«‘r
und Johannes Bolte ...
Zur Pflege der Volkskunde in < )ber^clih*sien. Von Eduard Mahn ....
Zur slavischen Volkskunde 1 — 7. Von Georg Polivka .
J. P. Xovyckyj y. Von Zeno Kuziela ... ..
Die ..Ethnographische Gesellschaft’ 1 in Kiev. Von Zeno Kuziela ....
iGm Gedächtnis N. F. Katanows. Von Hans Find eis*» n.
Das Heimatmuseum der Stadt Kostroma an der Weichsel. Von Ilans
F i n d e i s e . .
Schöppenstedter Streiche. Von Johannes Bolte .
Ein verschollenes Spandauer Lied.. Von Johannes Bolte ..
Zitronen und Leichen. Von Albert Becker . ..
Die russische volkskundliche Arbeit in den letzten Jahren. Von Xadine
Eliasch .
Lorbeer als Schutz vor dem Blitze. Von Franz Klar der.
Isabellas Gelübde. Von Franz Harder .
Parturient montes. Von Franz Harder .•
Eine Treppe auf den Knien erklimmen. Von Franz Harder . . . . .
Wie der Wirt weder in den Himmel noch in die Hölle kam. Karl
Lütge .. .
Die Feindschaft zwischen Katzen und Hunden. Von Karl L itg« ...
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Berichte und Biiclieranzeigcn.
Nein- Arbeiten zur MavDchen Volkskunde 1 , I. Polnisch mul BöhmDeh. Von Seite
Alexander Brno kn er.50—06
(i rriimb, V. Volkskunde der Steiermark Kd. Halm).2ü3 — 205
Deut sehe Volk heil, hsg \ori P. Zaunert i P. Boolnn . 200 - 'JOT
Meier, .1. Deutsehe Volkskunde F. Boolnn) . 282 —2*5
X o t i z e li :
Abegg, Adrian. Alpenfreund-Büeherei, Androjev. Arnim und Brentano, Becker,
Bonz. Benzmann, Berge, Bergiseher Kalender, Besoli, Böcke], Boelini und Specht,
Bokoiic von'n plattdiits» hon LamUverhand Meckelborg, Holte. Calliano, Cappeiler,
< h.nn er. Uhristensen. t 'onsriitiu>. Dieterich, Erdel janovie, Fruengor. Frobenius,
liir.unli, hin (inrinn, Gottwald. Grauet. tirulm, (? Iint hör, Gntniann, Haas, Ham-
I»rueli. 1 htinpo, llantko. Heimatkalender Regenwalde, Hepding. Homburger, Hüb¬
ner. Hyckel. 1 (ring, Jacob, Jahrbuch für jüdische Volkskunde, Jungbauer, Kaup.
Knoop.' Knnop und Haas, Koch-Grimberg, F. Krause, Kreidner. Krickeberg, Klick
und Solmroy. Kyriakides, Lehtisalo, Lindner, Lochner, Loose, E. Luther.
M«*ijhnuin-1 taliaander, Meinhof. Mensing, Mentz. Mielke. Mittelalterliche Volks¬
bücher, Moe, Mogk und FrcK de Mont und de Dock, <)>chile\vski, Pfister,
lhmtasalo, Reichmann-Schneider-1 IotStaetter. Beuschel, Kotter. Riitimever,
Schell. Schemke. M. Schmidt, Sehbnennark, H. Schuchardt. Schütte, Siebs
und Schneider, Solstrand, Spieß, Stanitzke, Stückrath, Tardel, Tetzner, Tiefen¬
de. Vasiljev, Vorträge 'der Bibliothek Warlnirg. de Vric“', (). Walter, Wei¬
gert, Wesselski, Weßmann, Wilms. AVilten, Wirth, Ziegler und Oppenheim, Zoder.
— Acta Academiae Aboensis. Aichele. Anderson, Äußerer, Badische Volks¬
lieder. Benz. Blümnil-Gngitz. Bolte, Borchardt-Wustrnann. Boette. Brage. Brand¬
stetter, Brockhaus. Brunner, Biililer, von Biilow, Christiansen, tdeinen, de Cork,
('ml, Deutsch-Nordisches Jahrbuch, Bilde, Durnseiff, Du Bois-Reymond, d'Ester.
Eesti Baliva Mmisemni. Eieliblatt. Bisen, Eitrem, Elsaß-Lothringisches Jahrbuch,
Engelhardt, Festschrift für Michael Ilaberlaudt, Findeisen. Förster, Francke.
Fronken, Gemoll, Giese.bin Gorion, Görres, Gräber, von Greyerz, Gundel, Heicrli,
Ileintze-Casoorbi, lleitz und Kitter, Helm, Herzog, Heusler, Hintermann. Horn.
Uungerhind, Jacob, Jegcrlehner. Jessat, Ilmee, Jungwirth. Klapper, Knoop, Krügel,
Lambertz, Landstad, Lange, LavaL Lehmann-Xitsche, Lenschau, Linder, Liung-
liiann. Lorcntz. Lorenzen, Lüpkes, Masche. Mega. Meier. Meyer. Moe, Moor, N T uß-
baum. Norman, Overbeck, Peters, Plenzat. Pocci. Porzig, Pöttinger, Qvigstad,
Kadermaeber, Kaff, Rheinland-Heft der Zs. f Deutschkunde, Rosenteld, Rud-
nyokyj, Rutgers. Schäfer, Schlosser. A. Schmidt, H. Schneider, Siddharschi-Kirfel,
Siegen und das Siegerland (KriiseL Siegris. Stif, Stiickrath. von Sydow. Teirlinck,
Thierfelder. Tnryn. de Vlies, K. (). Wagner. Wallner, Wehrhan. Wienert. Wos-
sidlo. Zaunert. Zimmermann, Zitzen*. — Alpers, Badische Heimat, Bavtök. Blimck.
Böhm und Bnrkhart, Brahms, Biisclum, Busse, (’ario, Diener, Ebert, Edda (Sim-
roek-Xeekol . Die jüngere Edda (Neckcl-Niedner), Estonnm Carmina popularia 1.
Peldmann, Findeisen, I\. W Fischer, Fittbogen, Freytag, Frobenius. van Gennep,
(icramb, Giehrl. Goldmann, Günther. Haas. Hefele. Hertel. Horäk. Jahresbericht
der estnischen Philologie. Janiotz und Giebel, Jnngbauer. Kapff, Karwath, Knauer.
Kober. Konopacki. Kopp. F E A. Krause, Krauß, Krohn, Kubin, Kiigler, Kiihnau,
Kümmel, Landstad. Läufer. LavaL £ Lehmann, Lohmeyer. Lynch, Mackensen,
Mailly. Manninen, Marzell. Mehl. Monke, G. Müller, F. Xeumann, Obert, Opper¬
mann. Paul. Plenzat, Keymout. Rink. Rojas-U’sarizza-Fortc. Riihle, Scheftelowitz,
Scheidt. A Schmidt, .). Sclimidt-Petersen. Sehullerus. F. E. Schulz. Seitli. Skar,
Stahl, von Sydow. Williams. Wunderlich. Zaunert —Auslandsstudien. Azadovskij,
Banrngaiton. Beek, Bobzin. Bolte, Deutsche Volkheit, Ek, Ellekilde. Grüner
Nielsen. Knoop. Landtman. Landschaftliche Volkslieder, Laserstein, Lehmann.
Lohmeyer. Levy, de Llano. Marzoll, de Meyere, Pez-Crane, Plöckinger, Preuß,
Duenscl, Rostock. Samter, Sauer-Stefansky. Ä. F. Schmidt, Schlitze, Sieber, Skaf-
tymov, S])ohr-Gumbel, Tegetlioff Tetzner, Ungarische Balladen v Gragger-Liideke\
IVsing, de Vise-Schmidt, Volk und Rasse, Volkov, de Vries. Wesselski, Winkler,
Wisset*, Wossidlo, Zimmer. 57—81. 117—144 207 225 285-29$
Aus den Sitzungsberichten des Vereins für Volkskunde. Von Karl Brunner
und Hermann Kiigler.S2—84. 146—147. 226—228. 298—299
A Aarne f. Von Johannes Bolte. 81 —82^
E. Lemke t. Von Johannes Bolte (Mit einem Bildnis' .145 — 146
E. Samter 7 . Von Fritz Boehm. 228
Zum Gedächtnis Ernst Samters. Von Fritz Boehm . 299—301
R. Gragger -J*. Von Johannes Bolte. 301—302
Zum 70. Geburtstag von Eduard Hahn. Von Johannes Bolte . 228
Volkskundliche Bibliographie. Liederhefte und FF Communications (Mit¬
teilung). Von Fritz Boehm .147—148
Register. Von Fritz Boehm .^03 31J2
Volkskunde und Schulreform.
Von Fritz Boelnn.
Die Bei iieksichtiguug mul Verwerti 11114 der Volkskunde im l 111 <* 1 *-
rieht der höheren Schulen Preußens war Ins vor kurzem dein Zufall
überlassen. In den „Lehrplänen und Lehraufgaben für die höheren
Schulen in Preußen“ vom dalire 11 ) 01 , die bis zum Jahre 1024 die Grund¬
laue für den Unterricht an Gymnasium, Realgymnasium und Oberreal-
sclmle bildeten, ist die Volkskunde weder namentlich noch inhaltlich
erwähnt. Gelegentliche Nachträge, wie der 51 nndartpflege-Erlaß vom
Dezember 1010 . waren schüchterne Versuche, volkskundliche Elemente
in den Unterricht nufzunehmen, änderten aber nichts an der Tatsache,
daß es im allgemeinen von den Kenntnissen und der ganzen Einstellung
des Lehrers abhing, oh er seine Schüler volkskundlich belehren und an-
reuen wollte*. Und die Verpflichtung auf die* amtlichen Lehrpläne
machte* es auch den vedkskundlieh vorgebildeten und interessierten
Lehrern schwer, über gelegent liehe Exkurse aufs volkskundliche Gebiet
hinauszukommen.
Die im Februar 1022 vom Unterriehtsministe*rium herausgegebenen
Richtlinien für die Deutsche Oberschule und für die Deutsche Aufbau-
seluile stellen für diese beiden Schult vpen nie deutsche Kultur bewußt
in den Mittelpunkt ihrer Bildungsarbeit. Wenn auch die \ olkskuude
als solche hierbei nicht erwähnt wird, so geht doch aus der ganzen
Tendenz dieses neugeschaffenen vierten Schultyps deutlich hervor, daß
die Volkskunde im weitesten Umfange berücksichtiut werden muß, wenn
das Sonderziel dieser Sehulgnttung erreicht werden soll. Die Ober- und
Aufbansclmle spi(*It, wie bekannt, im Gesamtorganismns des höheren
Schulwesens vorläufig noch eim* sehr geringe Dolle, so daß es
für die weitaus größte Zahl der höheren Schulen Preußen* bei dein bis¬
herigen Zustand blieb.
Die Schulreform vom Jahre 1024 brachte hierin (»inen völligen
Wandel. Die „stärkere Betonung der spezifisch nationalen Bildungs¬
stoffe für alle Schularten“ (vergl. die Denkschrift des Ministeriums zur
Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, Berlin, \\ eidmann
1024, S. 10 ), die Hervorhebung der — nicht ganz glücklich so bezeich-
ueten - „knlturkundlichen“ Fächer (Religion, Philosophie, Deutsch,
Geschichte*, Erdkunde), stehen unter den Leitgedanken der Reform an
erster Stelle, so daß sich von vornherein erwarten ließ, daß die in Aus¬
sicht gestellten Richtlinien für die neu aufzustellenden Lehrpläne der
Volkskunde endlich die ihr gebührende Rolle znweisen würden. Diese
Aussicht bestätigen in der Tat die inzwischen erschienenen Richtlinien
(Beilage zmn Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung,
1025, Heft S, Weidmann 1025, abgedruckt ferner in Nr. 15 Iß und 18/10
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 1
Boehm:
des Deutschen Philologen-Blattes, 33. Jahrgang 1B25 und in Heft 1J)/2I)
der Weidmannsehen Taschenausgaben, mit A nmerkungen und Literatur-
naelnveisen, heraus«;, von Richert), die in den „Methodischen Bemer¬
kungen für die einzelnen Unterrichtsfächer“ unter „Deutsch“ Wesen
und Methode der Volkskunde durch folgende Ausführungen charak¬
terisieren :
„Volkskunde. Die Volkskunde 1 auf der I ntcr- und Mittel¬
stufe will dem Schüler die Heimat und durch sie das Vaterland geistig*
vertraut machen. ihre Grundlage ist (‘ine lebensvolle, nicht aus
Büchern, sondern aus Schauen und Erleben geschöpfte Heimatkunde.
Im Heimatsort und durch Wanderungen in den* engeren und weiteren
Heimat lä 1.11 sie den Schüler zunächst hineinwachsen in die Stammes-
gcmeinscliaft, wie sie in der Mundart, in der Volksdichtung, in Tracht
und Nahrungsmitteln, in der besonderen Wertschätzung gewisser
Pflanzen und Tiere, in der Namengebung, in Siedlungs- und Bauformen,
in Recht, Sitte und Brauch, in Pest- und Trauergewohnheiten, in aller¬
lei Aberglauben sich ausgeprägt hat; sie lehrt ihn beobachten, Tat¬
sachen sammeln, ordnen und verstehen, sie deutet ihm die Spuren der
Geschichte, die auf dem heimatlichen Boden sich abgespielt hat.
Von der engeren Heimat erweitert sich ihr Kreis allmählich zum
Vaterland; von der Stammeseigentümlichkeit zum Volkstum, immer mit
dem Ziele, den Schüler das, was an Volkstümlichem noch lebendig ist,
sehen und erleben zu lassen. Was nur archäologisches Interesse hat,
gehört nicht in den Schulunterricht. Die Oberstufe gibt zusammen¬
fassende Besprechungen volkskundlicher Art. Ausgehend von der
deutschen Altertumskunde und der deutschen Stammeskunde, im engen
Zusammenhang mit der deutschen Geistesgeschichte, sucht der Unter¬
richt den Schüler allmählich zum psychologischen Verständnis der
deutschen Art, wie sie in Märchen, Sage, Mythos, Volkslied, ganz be¬
sonders aber auch in der Sprache selbst, in Recht, Sitte und Brauch sich
ausprägt, zu führen. Die Belehrung geschieht auf Grund eines deutscli-
kundlichen Lesebuchs oder einzelne]* Quellen. Eigene Betrachtung und
heimatliche Überlieferung sind, wenn irgend möglich, zu verwerten.
Manchmal wird die Eigenart des Deutschen durch Vergleich mit
Fremdem besonders deutlich gemacht werden können. Das oberste Ziel
der Volkskunde ist, in den Schülern das Gefühl zu wecken für die in
der Mannigfaltigkeit der einzelnen Stämme sich offenbarende einheit¬
liche Volksgemeinschaft, die hinter allem Wechsel der Geschlechter und
Lebensformen steht und alle Standes- und Bildungsunterschiede hinter
sich läßt.“
Unter „Kunstbetrachtung“ heißt es in dem gleichen Abschnitt;
„Auch die Volkskunde kann der Kunstbetrachtung dienen: sie macht
die Schüler bei Ausflügen auf die Schönheit volkstümlicher Baukunst
auch in ihrem Zusammenhang mit der Landschaft aufmerksam und
erschließt ihnen die in den Erzeugnissen des bodenständigen Kunst¬
gewerbes enthaltenen künstlerischen Werte. Manchen Schulen, viel¬
leicht gerade solchen, denen kein Museum zugänglich ist, dürfte es noch
möglich sein, eine kleine Sammlung heimatlicher Art und Kunst zu
gründen“. Bei Gelegenheit der „Freien Arbeitsgemeinschaften“ wird n. a.
die Behandlung von Mundartdichtungen empfohlen, die Bemerkungen
zur Musik verlangen vor allem eine Pflege des deutschen Volksliedes,
auch des heimischen Dialektliedes und der Lieder des 15. und 16. Jahr-
Volkskunde und Schulreform.
:*
hundert«. Der ITiterrieht in „Xaelelarbeit“ soll „namentlich im Dienste
der Heimatkunde die Erzemgnisse der \ T olksknnst berücksichtigen und,
wo es möglich ist, zu eigenen Versuchen am Handwehstuld odei* an
kleineren Webapparaten anleiten“. ln den ins einzelne gehenden
„L<‘hrnnfgahen“ für die einzelnem Klassen wird volkskundlieher Stoff
von der untersten Klasse an besonders in den Lehrplan des Deutschen
eingcreiht, so sollen in \ 1 Sitte 4 und Brauch, Märchen, TiergeSchiehtui.
Kinderreigen. Rätsel, MärehtmballaeUm, kleine (ledielite, Geschiehtem
und Scherze in heimischer Mundart behandrlt werden, in V deutsche
Mythologie, soweit sie noch im Volksleben fortwirkt: (leisterglauben,
Hexen, Alben, Werwölfe, Zwerge, Riesen, Elfen, Rechtssitten. Festsitten,
Humor im Volksleben, Lieder, Sprichwörter, Rätsel, in l III Kultur¬
geschichtliches in Redensarten und Sprichwörtern, Volksetymologie.
Personen- und Ortsnamen, deutsche Volksbücher. Schwänke, Weib
nachtsspiele, Stammessagen, in FI1: die Heimat in Sprichwort, Lied
und Heimatskunst, in 0 11: Übersicht über die geschichtliche Entwick¬
lung der (kutschen Sprache und die deutschen Mundarten an Hand des
Sprachatlasses. Auch die spezielleren Bestimmungen über Religion,
Beschichte. Erdkunde, Musik und Zeichnen verlangen an verschiedenen
Stellen das Eingehen auf volkskundliche Erscheinungen,
So erfreulich die Berücksichtigung ist, die die Volkskunde hiermit
endlich bei der Fnterriehtsbehörde gefunden hat, so wenig darf man
sich verhehlen, daß damit erst ein Anfang geschaffen ist, und daß bei
allem guten Willem der Lehrenden die Aussichten auf eine allgemeine
Durchführung der Richtlinien, soweit sie die Volkskunde 4 bedredfen, vor¬
läufig nicht allzu günstig sind. Dem Mangel an gedrucktem Lehrstoff
abzuhelfen, sind zwar die großem Verlage nach Kräften hemiiiht. Die
deutschen Lesebücher, die in letzter Zent erschienen sind, tragen dem
Bedürfnis nach volkskundlichen Quellenstücken und Darstellungen in
sehr anznerkennendein Maße Rechnung, znin Teil erlmben sie sogar
durch Herstellung besondertu* „Heimatausgaben“ das stannnhaft be¬
dingte Volkstum zum leitenden Prinzip der Stoffwahl. Dies gilt z. H.
für das Lesebuch des Verlage»« Diesterweg „Lebensgut“, lisg. von
H. H. Schmidt u. A., dessen Ausgabe für Brandenburg von 0. Muris
besorgt wurde, sowie für das ausgezeichnete Teubnersche „Wägen und
Wirken“, hsg. von Hofstaetter, Bertliold und Nicolai, in dessen „Aus¬
gabe für Brandenburg und Berlin“ P. Müllen* und E. L. Schmidt mit
Erfolg bemüht sind, auch der Großstadt in volkskundlichem Sinne
gerecht zu werden. Wir nennen ferner, ohne irgendwelche Veillstandig-
keut der Übersieht zu beanspruchen, das Lesebuch „Aussaat“, hsg. von
W. Scheel (Verlag Grote & Mittler), ebenfalls mit einen* Sonderausgabe
für Brandenburg, und „Deutsche 4 « Leben“, hsg. von IL Kreymark u. A.
(Verlag Velhagen & Klasing). Als Ergänzungen treten neben die Lese¬
bücher kleine und wohlfeile Hefte, die 4 teils kurz zusaimnemfassemle
Darstellungen abgegrenzter Stoffgebiete, te 4 ils Quellenstücke enthalten.
So begannen bereits vor der ReTorm die Hefte der „Demtsehkimdliehen
Bücherei“ bei Quelle & AIe*yer zu erscheinen, deren für die* Volkskunde
wichtige Nummern zum Teil in dieser Zeitschrift angezeigt wurden;
zu neunen sind hier u. a.: Bergmann: Deutsche Wortkunde in Bildern
aus der deutschen Kultur, Kluge: Deutsche Namenkunde, Menz: Deut¬
sche Ortsnamenkunde, Böekel: Das eleutsedie Volkslienl, von der Leven:
Das eleutsehe Märchen, Lauffer: Deutsche Sitte. Eine große Zahl
4
Boehm:
.solcher Hilfsmittel enthält die von Peters und Wetzel im Diesterweg-
M*lu , n \erlag herausgegebene Sammlung: „J )<mi tsc*likund 1 ic-lie Schüler-
hefte“. Speziell volkskumlliehe Quellen finden wir hier vorläufig nur
in geringer Zahl, z. B. Peters: Das Volkslied des hinderlichen Mittel¬
alters, doch sind die Randgebiete mehrfach bedacht, z. B. die Vor¬
geschichte durch 2 Hefte, Steinzeit und Bronzezeit (Lundius), Dich¬
tungen von Hans Sachs (Lorenzeu), Tierdichtnng des Mittelalters (Sege-
breeht). Ackermann aus Böhmen (Beek). Für die Volkskunde können
auch einige der im gleichen Verlage erschienenen „Lateinischen Quellen
des deutschen Mittelalters“ diensthur gemacht werden, z. B. die Legen da
Aurea des Jaeohus a Voraginc (Peters), Carminu Bnrana (Lundius),
Tierfaheln und Schwänke (Lundius), dasselbe gilt für einige» Hefte der
Teuhm»rschen „Erlogne Graeeolatinae“, z. B. Lateinische Gedichte des
Mittelalters (2 Hefte, Kurfeh). Aus Renaissance und Reformation
(Kranz, enthält n. a. Petrarcas Bericht über Cöln). Ausschließlich der
Volkskunde gewidmet ist das 15. Heft diese] 4 Sammlung: Auswahl ans
den Humanisten zur deutschen Volkskunde, hsg. von Fritz Boehm und
Fricli Ludwig Schmidt, das Stücke ans Enea Silvio Piccolomini, Konrad
(’eltis und Joannes Boemns enthält.
Hilfsmittel für die Behandlung der Volkskunde im Unterricht sind,
wie man schon ans dieser kurzen Übersicht sieht, bereits in großer Zahl
auf den Markt gebracht worden, und die Rührigkeit der Verleger wird
ohne Zweifel dafür sorgen, daß sie ständig vermehrt werden. Der
Lehrei 1 , der sie verwenden will, wird fraglos hei seinen Schülern dank¬
bares Entgegenkommen finden. Denn das Interesse gerade für volks¬
kundliche Stoffe* war schon zu einer Zeit bei unserer Schuljugend groß,
als seine planmäßige Befriedigung durch den Lehrer vielleicht nicht
immer auf Zustimmung und Anerkennung seitens der Vorgesetzten
Stellen rechnen durfte. Durch die bewußt auf das Volkstümlieh-
Xatiirliehe eingestellte Jugendbewegung ist dieses Interesse stark ver¬
mehrt worden, und ohne Zweifel wird mancher Wandervogel an prak¬
tische]] volkskundlichen Kenntnissen, besonders auf dem Gebiet des
Volksliedes, seine Lehrei 4 weit übertreffen. Um so mehr wird jeder
Lehrei 4 , dem an einer wahren Arbeitsgemeinschaft mit seinen Schülern
gelegen ist, den Wunsch haben, diesem Interesse belehrend und ver¬
tiefend Genüge zu tun. Hier stellen sich jedoch manche Schwierig¬
keiten entgegen. Erstens ist die Volkskunde ja nur eines von vielen
neuen Arbeitsgebieten, die durch die Reform Eingang in die Schule
gefunden haben: allein in dem Abschnitte „Deutsch“ der Richtlinien
wird die Volkskunde neben 15 anderen Gebieten aufgeführt, die zum
Teil zwar, äußerlich betrachtet, keine Erweiterung des „Pensums“
bedeuten, in der Tat aber durch die Überfülle der in ihnen nieder¬
gelegten Anregungen in bezug auf Stoff und Behandlung eine radikale
Umstellung und gewaltige Ausdehnung des gesamten Unterrichts¬
betriebes mit sich bringen. Zwar betonen die einleitenden Bemerkungen
der Richtlinien, daß innerhalb der von ihnen gebotenen Stoffauswahl
den Anstaltslehrplänen in weitem Umfange Bewegungsfreiheit gegeben
sei, ja. daß der Versuch, sämtliche, lediglich zur Auswahl gestellten
Stoffgebiete in der Jahresarbeit der Klasse zu bewältigen, im schärfsten
Widerspruch zum Geiste der ganzen Unterrichtsreform stehen würde.
Trotzdem aber werden gerade die Lehrer, die dieser Reform nicht mit
einer reservatio mentalis oder einem geheimen „§ 1: alles bliwwt bi’n
Volkskunde und Schulreform.
Ö
Ollen“ gegenüberstehen, «Um i Mut verlieren in dum Gefühl, «laß zur
Bewältigung micdi «dner nur beselnmlemm Auswahl der Vorstdiläge
äußert 11 und innere Vorbedingungen nielil erfüllt .sind. Erstens: „Woher
ntdnne ich die Zeit?“ Zwar haben die kaltnrkundlieben Fächer, in
denen die Volkskunde in erster Linie zur Sprache kommen soll, auf
Kosten anderer (Jehiete eine Vermehrung der Wochenstundenzahl
erhalten, doch selbst «liest 1 genügt nicht, um den Forderungen der Richt¬
linien einigermaßen gerecht zu werden, die ja mit Recht von einer «‘in¬
seitigen Darbietung durch «hm Lehrer nichts wissen wollen, somlern
möglichst alle K«mntnisse durch gvnndnsame Tätigkeit von Lehrer und
Schüler erarbeiten lassen wolhm, wozu seihstv«‘rstän«llich Zeit und Ruh« 4
nötig ist. Aber selbst wtmu «*s durch klügste Auswahl und rontinmrteste
Zeitausnutzung möglhdi sein sollt« 4 , «li( 4 quantitativen Fonhumiigen d«*r
Richtlinien einigerinaIhm zu «‘rfiilhm, so stellt sich eine zweit« 1 , innere
Schwierigkeit «‘in, die für «li« 4 Volkskunde ganz b« 4 son«lers gilt. Fs war« 1
falsch, sieh zu verhehlen, «laß die Anzahl den* Stmlienräte, «lie di« 4 nötig<m
Kenntniss« 1 für < 4 in« 4 n volkskundliclu 4 n l uterrieht besitzt, nuß«?rordent-
lich gering ist. Fs rächt sich hier di« 4 auch noch heut« 1 geltend« 4 er-
nachlässigung der Volkskumle auf «hm «lentschen Universitäten, von
denen keine «»ine Pr(>f« 4 ssur für Volkskumle b«\sitzt. Fs bleibt durchaus
dem Zufall überlassen, ob hi« 4 und da ein Vertr« 4 ter «ler Germanistik,
der Geschieht« 4 o«ler irgen«lein« 4 s an«h 4 ren Faches, z. B. der Altphilologie,
eine volkskundliche Vorlesung hält «)d« 4 r wenigstens die \ olksknud« 1 in
seinen Vorlesungen einigermaßen gebührend berücksichtigt. Man
«larf sagen: für alle in den Richtlinien bei «hm Lelmum v«»raus-
gesetzten Kenntnisse .sind di« 4 Vorb« 4 tlingung , en im Lektionsplan der
V ui versitäten gegeben, nur für die Volkskunde nicht. Diesem Übel¬
stand kann auch die gedruckte Literatur, die ja für alle Gebiete
der Volkskumle sowohl durch populäre wie durch wissenschaftliche
Darstellungen ndehlich v« 4 rtreten ist und jährlich amvächst, nur in
geringem Umfange abhellen. Denn «»rstens ist t 4 s eine alt« 4 und nicht
lediglich durch Bequemlichkeit zu begründende Frfahrnng, daß sich
nur wenige Lehrer in gereifterem Alter in Wissenschaftsgebiete hinein¬
arbeiten, für «li« 1 si« 1 in ihr« 4 r Universitätszeit in keiner W«‘is« 4 durch
ein« 4 Vorlesung «»der w«migst«ms durch gelegentliche Hinw«‘is« 4 angeregt
worden sind, ln «len meisten Fällen hindern sie «lie Bünlen und Sorgen
des Amtes und der Familie, sieb selbständig «li« 1 Wege in bisher un¬
bekannte Gebiete zu bahnen, was angesichts der zur Zeit geltenden
Rfliehtstunilenzahl volhmds «‘rklärlitdi wird. Doch seihst d«m besten
Willen vorausges< i tzt, wehdier Ltdirer, ja welche Lehrerhihliothek wäre
heute dazu imstande, sich «len zu solcher selbständigen Finarheitung
erforderlichen Apparat an Büchern zu bestdmffcm, von «lenen «li« 1
Richertsclie Taselumausgabe «ler Richtlinien eine Auswahl «les Nötigsten
gibt? Als unerläßliche Vorb< 4 «lingmig für ein« 4 wirklich fruchtbar« 4 und
wissenschaftlich fundierte Behandlung «ler Volkskunde im Unterricht
ist daher vor allem di« 4 Finriehtung von volkskundlichen Professuren
wenigst« 4 ns an einigen l T nivt 4 rsität«m Preußens zu fonlern, und diese
For«lerung sollten auch «li« 4 volkskundlich« 4 !! Veivine neben ihr« 4 n
Wissenschaftliehen Bestrelnmgen von jetzt ah nhdit mehr verstummen
lassen.
Die Großstadt, die durch ilne Bibliotheken mul gelegentlich v«*r-
a]istaltet«m Kurse (z. 13. in ]3crlin die Deutschen Abende d«*s Z« 4 ntral-
0
Boehm: Volkskunde und Schulreform.
Instituts für Erziehung und Fnterrieht) dom geschilderten Mangel
wenigstens zum Toil abhelfen kann, ist in bezug auf volkskundliche
Belehrung der Ju^cuid gegen kleinere Städte durch ihren Manuel an
lebendigem Anschauungsmaterial stark im Xachteil. Die oben an¬
geführten Sätze der Richtlinien über die „lebensvolle, nicht aus Büchern,
sondern aus Schauen und Erleben geschöpfte Heimatkunde“ als Grund¬
lage der Volkskunde usw. sind für eine Stadt \vi(» Berlin so gut wie
völlig- belanglos, auch die Schulwanderungen können schon aus
pekuniären Gründen nur ausnahmsweise das von großstädtischer Art
durch- und zersetzte Gebiet überschreiten. Da aber Anschauung im
modernen t T nterriehte nicht entbehrt werden kann, muß das Museum
die Übendige Natur ersetzen. Welcher staatlichen Fürsorge sich die
Berliner Sammlung für Deutsche Volkskunde erfreut, ist bekannt. In
ungenügenden, zum Teil unwirtlichen und engen Räumen an einer vom
übrigen Museumsviertel abgelegenen Stelle untergebracht, führt es ein
großen Teilen der Bevölkerung unbekanntes Dasein; seine Geschichte
wäre völlig eine Leidensgeschichte, hätten sich nicht immer wieder
private Wohltäter gefunden, wenn es galt, die Bestände durch Neu¬
erwerbung wertvoller Stücke zu erweitern, denn für Neuanschaffun¬
gen erhält dies Stiefkind der Museumsverwaltung bekanntlich von
staatlicher Seite keinen Pfennig. Und selbst die Opferwilligkeit der
privaten Spender und des gesamten „Museumsvereins“ muß, wie sich
bereits jetzt deutlich zeigt, erloschen, wenn infolge Raummangels jede
Möglichkeit fehlt, neu erworbene Gegenstände aufzustellen. Besuche
des Museums durch Schulklassen sind durch die Enge und Dunkelheit
der Räume außerordentlich behindert, so daß sie kaum ihren Zweck
erfüllen und in den seltensten Fällen wiederholt werden, was nötig
wäre, wenn wirkliche Kenntnisse erzielt werden sollen. Wir sind die
letzten, die der klassischen Archäologie, der Kunde Vorder-, Mittel- und
Ostasiens die schönen, zum Teil bereits bestehenden, zum Teil noch im
Ban befindlichen Museumsräume mißgönnen, können aber doch ein
bitteres Gefühl nicht unterdrücken, wenn wir bedenken, daß auch in
diesem Falle eine Wissenschaft zurückstehen muß, die wie wenige
berufen ist mitzuarbeiten an dem inneren Wiederaufbau deutschen
Wesens. Daß die Regierung diese nationale Bedeutung der Volkskunde
theoretisch anerkennt, zeigt die ihr in der Unterrichtsreform zugewiesene
Stelle. Wir hoffen und verlangen, daß sie auch Schritte tut, um Leh¬
renden und Lernenden die Erreichung der von ihr so hoch gesteckten
Ziele zu ermöglichen.
B e r 1 i n - P a n k o w.
Vogt: r \Yenn du nacli Ruuen forschest
„Wenn du nach Runen forschest — “
(Ein Nachtrag zu Meissners Ganga til frettar,
ein Beitrag zu Olsens Deutung des Eggj um Steins.)
Von Walther Heinrich Vogt.
Rudolf Meissner hat in dieser Zeitschr. 27. Jalirg. 1 Ul7 S. 1—L».
Dü —105 eine eingehende Darstellung von ganga Ul frettar gegeben.
Ausgehend von einer als fnih 1 ) bezeichneten Divinationshandlung,
die sich nach W. Mackenzies Bericht auf den Hebriden erhalten hat,
stiebt er für die von J. Grimm zusammengestellten Worte an. freit,
alul. frehta, freht Kluges Herleitung von got. *frct-aihfs auszunützen,
indem er das gotische Wort als ‘Sonderhabe, Anteil’ deutet. Diesen
Sinn auf sakralen Brauch bezogen, sei es möglich, daß freht einmal
den Gottesanteil bezeichnet bat. Die freit kann mit Opfer verbunden
sein. Sie ist ‘Einholung einer Antwort mit übernatürlicher Gewahr
(S. 0). Sie stellt dem feilet blötspan nahe, liat zuweilen Verbindung
mit seidr und mit der utiseia . Meissner sammelt und bespricht die
einschlägigen Stellen aus der altnordischen Literatur 2 ) unter Be¬
ziehung auf Tacitus, Germania 10 und sammelt aus volkskundlicher
Literatur Beispiele dafür, wie im zauberischen Forschen nach be¬
deutungsvollen Zeichen durch Werfen von Stäben, Muscheln, Steinen,
Zauberwürfeln oder Beobachtung von sich anscheinend seihst be¬
wegenden Gegenständen, Stäben, Pfeilen, Knöcheln die Antwort ge¬
wonnen wird.
Zwei bedeutsame Stellen der altnordischen Literatur sind bisher,
wie ich glaube zu Unrecht, nicht in diesem Zusammenhang ver¬
standen worden, Hävamäl v. 80 und 142.
pat er pä reynt, er pü at rünom spyrr,
inom reginkunnom,
peim er gordo ginnregin
ok fädi fimbulpulr:
pä liefir bann batst, ef bann pegir. 3 )
Rünar liiunt pü finna ok räitna stafi,
miok störa stafi,
mipk stinna stafi,
er fädi fimbulpulr
ok gordo ginnregin
ok reist hroptr rpgna. 4 )
1 Vgl. Jakob Jakobsen, Etymologisk ordbog over det norrene sprog pa Shet¬
land. Kobenhavn 1908—1921: fr 0 tt 1 . sandsetgn, spadom (under ledsagelsc af gamle
talemäder og formier), isaer sandsagn af en gammcl klog kone. X. orertvoisk skik , reve-
tuoni, fonmdar.
2) Neuere Arbeiten s. Vatnsdcela saga hg. v. Vf., An. Sagabibi. 16 zu Cp. 10.
3) Das ist dann erprobt, wenn du nach Runen forschest, den mächte-entstammten,
die die ganz großen Mächte schufen und der Riesenpulr färbte: da (hat man's'i ist 1 «
am besten, man schweigt.
4) Runen wirst du finden und gedeutete Stäbe, sehr große Stäbe, sehr starke
Stäbe, die der Riesenfmlr färbte und die ganz großen Mächte schufen und der Be¬
schwörer der Mächte ritzte.
8
Vogt:
Der Text ist mich Xeckels Eddn-Ausgabe angeführt, doch setzt
Xeckel nach v. 142. 7 Komma, wohl indem er sie mit 14.*) zu einer v.
zusammeiischlioßt.
Ich erörtere die vv. im folgenden nach Stil und Wortverständnis
nur, soweit es fiir den gegenwärtigen Zweck notwendig ist. Über
hrol>tr rogna habe ieli Zeitschr. f. deutsche Altert. 62, 41 48 gehandelt,
V. SO, 6 Juuni gegen Z 2. j>u verstehe ich als Anakoluth.
Was v. 80 betrifft, so tragt für ihre Übergebung letztlich Müllen-
hoff die Schuld, der sie DAK. 5, 259 als humoristischen Schlu߬
schnörkel des ersten großen Sittengedichtes in Hüv. bestimmte. Da¬
gegen ist alles nötige von A. Heusler. Sitzungsberichte der kgl. preuß.
Akad. d. Wiss. 1917 S. 121 f. gesagt worden. Die Strophe steht in
ihrer Umgebung isoliert. Sie hat stilistisch und inhaltlich ihre äusserst
nahe Verwandte in v. 142. Die hatte Müllenboff a.a.O. S. 271 als zu
einem ‘wirklichen Runenliede' gehörig erkannt.
V. 142 hat ihrerseits keinen ursprünglichen Zusammenhang mit
der Runenfindung durch 'Odin v. 138f. (140> 141. Während es sich
hier um eine höchst kunstvolle Verwendung von Variation und
Gleichlauf des Ausdruckes handelt, arbeitet v. 142 mit den über¬
schwersten Mitteln einer sinnfälligen Parallelisierung der Zeilen:
Z. 3. 4 sind durch Spitzen- und Schluß-Vollreim, Mittel-Sinnreim ge¬
bunden, 1 ) Z. 5—7 durch die Folge Kopula (er, ok) + Verbum + Sub¬
jekt. Z. 5. 6 wiederholen sich in v. 80 in der Folge 6. 5. Wir haben
es in diesen beiden Strophen mit einer Verwendung des für die altgenn.
Dichtung so charakteristischen Kunstmittels der Variation und Wieder¬
holung zu tun, die von dem Brauch der Anspruch auf gesellschaft¬
liche Geltung machenden Gattungen des Sittengedichtes, Helden- oder
Götterliedes weit absteht, dagegen mit dem im germ. Zauberliede ge¬
übten (vgl. Skirnis fpr v. 26—36, Merseburger Zaubersprüche usw.)
aufs genaueste stimmt. 2 )
Der Stil dieser beiden Strophen sagt uns, daß sie mit Zaubern zu
tun haben, und zwar nicht als künstlerische Fassungen von Ge¬
glaubtem und Geübtem wie v. 138f. 141, die durch das ästhetische
Genießen von Inhalt und Form sich von dem Interesse an der Wirk¬
lichkeit des Vorgestellten erheblich entfernen, sondern als Fassungen,
die der praktischen Verwertbarkeit gerecht werden, mag nun Zauber
oder Lehre vom Zauber in Frage zu stellen sein. 3 )
Häv. 80. 142 gehören stilistisch und inhaltlich zu einer Einheit;
ob v. 143 die Fortsetzung zu 142 bildet, ist mir höchst fraglich, spielt
aber für die hier zu behandelnde Frage keine Rolle. 4 )
1 S. L. Fr. Läffler, Om nagra underarter av Ljodahattr. Studier i nord. fil. 4 5
(1913. 14), bes. 5, 32 f.: J. Lindquist. Galdrar. Göteborg Högskolas Ärsskrift 19*23. S. 8ff.
Hier wird die oben gebrauchte Terminologie vorgeschlagen.
2, S. A. Heusler, Altgerm. Dichtung £ 53 in Handbuch d. Lit.-Wiss., hg. v. Walze!
vl924 und A. Brandls schöne Schilderung des altengl. Zauberspruchs in seiner Gesch.
der altengl. Lit. 1 (190S § S.
3^ Vgl. zu dieser Unterscheidung die Gedanken M. Olsens, Ark. f. n. fil. 37 G‘*21)
bes. S. 228 und Heuslers Altgerm. Dichtung £ 54.
4 V. 143 könnte als zweiter Helming zu v. 142 nur genommen werdeD. wenn
'Odinn und das folgende nach Doppelpunkt stark als Apposition und Variation ver¬
standen wird: vgl. Sdr. 6. 30; HHi. 25: Grm 43: Vm. 49 u. a. Sollten wider alles Er¬
warten Z. 3. 4 nicht zu v. 142 ursprünglich gehören, so böten die beiden Strophen zwei
ungemein verwandt gebaute Helminge.
„Wenn du nach Runen forschest —
9
Was ist spt/ria at rtniom'f Ihm entspricht klärlieh fmna nmar
als sein Ergebnis.
Daß man schweigen muß. wenn man jemanden nach etwas, z. B.
nach Runen gefragt hat, scheint nicht des Dohrens wert zu sein.
Spt/ria ist hier nicht ‘irgend jemanden nach irgend etwas fragen';
das Acc.-Übj. fehlt mit Grund. Das, wonach gefragt wird, wird da¬
gegen mit den stärksten Mitteln ansgedrüekt: Runen. Sie werden
wie schon auf dem Stein von Xoleby (Xoreen, Altisl. Gramm. 1 S. 3S3,
um GOU) als reginkunnar ‘Mächte^-entstammt’ bezeichnet (vgl. dskunnr
Fm. 13, Akv. 27; dlfkunnr Fm. 13; trullknndr Yngl. t. 3, 5 und Brate.
Arkiv. f. nord. lil. 14, 331 f.; Feist, Etym. Wörterbuch der got. Sprache
airpakunds). Die ginnregin ‘die ganz großen Mächte" haben sie ge¬
schaffen (s. zu ginnheilagr Lexicon poeticum). Dm* finibidpatr ‘der
Riesen-pnlr" im Sinne von ‘ganz groß, ganz gewaltig , selbst hat >ie
gefärbt (s. Xoreen, Altisl. Gramm 4 §317,1). Der ist 'Odinn.
Spt/ria ist hier ‘forschem nach Dingen, die dem Erreichen durch
menschliche Kräfte entrückt sind’. 2 ) Wie die Runen einst durch die
ginnregin geschaffen (und durch 'Odin gefunden, entdeckt) worden
sind, so wird nach Runen hier geforscht durch zauberisch«* Handlung,
damit sie auf ähnlich übernatürliche Weise ‘heraufkommen wie bei
ihrer Schöpfung und ersten Entdeckung.
In solcher Handlung herrsche sakrales Schweigen.
Dem Forschenden wird verheißen v. 142 Rnnar innnt / n't fmna
ok rudna sta/i . . . Rn mir und rddnir stafir stehn im Variations-
Verhältnis: die rddnir stafir , um die es sich handelt, sind rünar.
Über die Möglichkeit rddinn in dieser Verbindung als Part, praet.
der Möglichkeit zu nehmen (vgl. M. Olsen, Eggjum-stenens Indskritt
1919 S. 37 u. Meissner, Gött. Gel. Nadir. 1921 S. 95f.) werde ich mich
andern Orts äußern. Hier genügt: die stafir sind als rünar rddnir
‘gedeutet’, also auch im vorgestellten Falle ‘deutbar’.
Das Gedieht — ich glaube, daß es mehr Teile hatte — wird
vielleicht über die Gegenstände, zu deren Aufklärung die Runen ge¬
funden und gedeutet werden sollen, sich geäußert haben, doch ist
das nach dem allgemeinen Charakter der erhaltenen Stücke nicht
sehr wahrscheinlich. Soviel wird aber auch uns deutlich, daß es
sich um Erforschung von Dingen, die für die Zukunft Bedeutung
haben, handelt, sei es zur Lösung von Fragen, wie sie durch den
von Tae. Germ. Kap. 10 geschilderten Vorgang, durch fetla bldtspdn ,
fretta , ntiseta zur Beantwortung gebracht werden sollen, sei es zur
Feststellung von Runen, die in der gegebenen Gelegenheit zauberisch
zum Guten oder Bösen verwendet werden sollten. Jedenfalls handelt
es sich aber hier nicht um Applikation der Zauberkraft bekannter
1) S. Yerf. a. a. O.
2 Eine verwandte Verwendung ‘Forschen nach übernatürlichem,
lichem’ hat spyria im Hervyrlied v. 3 Edd. min. S. 13; »Skjd. II B 2(11
Hervyr ^v. 2, 7 f. :
Hirclir:
hvar rd Higrvarcti
Spyriattu at }ivi,
vinr vikinga.
fnrum fniliga,
allt er uti
haugar kendir?
spakr ertu eigi.
|ju ert vanfarinn:
sem okkr feetr toga!
ämätt firum.
Unmensch-
Spyria ‘forschen, eindringlich fragen' Sgsk. 40; Am. 78; Yiga Ghiinr Uv. 7 (>kjd.
1B313); Hattatal SO; Fritzneri und spnrniny (Icitfa spJ.
Runen auf den Mann zn bestimmtem Zweck, sondern eben um
Sueben und Finden unbekannter Runen, solcher die die Gelegenheit
erheischt, deren Feststellung menschlichem Wissen nicht erreichbar
ist. Für gewisse Zwecke kannte man ja die notwendige Rune; Sdr.fi. 7.
Spj/ria cd n'nioni ist eine frett.
Einen Vorgang, der im Sinne gleich ist, in der Weise als verwandt
anzunehmen ist, beschreibt Tac. Germ. Kap. 1Ü 1 ) für Germanen seiner
Zeit (s.oben S. 7): ‘Aus einer Anzahl durch Merkzeichen unterschiedener,
aufs geratewohl auf ein weißes Tuch geworfener Stäbchen werden
drei aufgehoben und ihr für die Gelegenheit bedeutsamer Sinn nach
ihren Merkzeichen gedeutet, festgestellt'. Die Wahllosigkeit des Auf¬
hebens wird durch die des Hinwerfens gegeben, nicht menschliche
Gewalt gibt dem Forschenden die bedeutsamen Stäbe in die Hand.
Generell gleich ist der Vorgang bei spyria cd rthwm , finna
rüncir . Oie Stelle der drei wahllos herauszuhebenden surcidi notis
quibusdetm discreti nehmen rüncir ein. Möllenhoff vergleicht DAK. 4,
2*27 die consultcdio ‘Befragung’ (bei Tacitus die Wiederholung des
Vorgangs zur Gewinnung erhöhter‘Sicherheit) der freit: mit vollem
Recht.
Der Eggjum-Stein scheint einen verwandten Vorgang für das
ausgehende 7. Jh. Norwegens erschließen zu lassen und einen ge¬
wissen Einblick in Einzelvorgänge zu gestatten — Magnus Olsens
Deutung in den wesentlichen Zügen vorausgesetzt. Olsens gro߬
zügiger Deutungsversuch hat seine Stärke in der Projektion des
Mythus im Ritus. Zur Kraft des bindenden Beweises langt diese
Analogie nicht aus. Aber Olsens Versuch ist m. W. u. E. bisher
nicht gestürzt worden, noch ist ihm ein auch nur annähernd gleich¬
wertiger an die Seite gestellt worden. In der Kritik E. Brätes,
Arkiv f. nord. fil. 38 (1922) S. 206—212, der die Zeilen A B histo¬
risch auf einen Heerzug nach Gotland deuten will, liegt der Ansatz
dazu. Aber Brate hat nicht die notwendige Parallelisierung mit
anderen historischen Runeninschriften vollzogen, und der Tod hat
ihn diesem Werk entrissen. So muß Olsens Deutung zwar als eine
schwebende, wesentlich in sich ruhende angesehen werden. Sie ist
aber m. E. so gut begründet und verspricht so viel, daß jeder be¬
sonnene Versuch, sie zu kräftigen, ein Ziel von hohem Wert zu ver¬
folgen scheint. Nicht jedermann freilich kann mit einem Luftschiff
umgehen; dafür hat man Exempel. Drum ist Axel Olriks ‘viden-
skabelige dodsangst’ hier am Orte. Möge es gelingen, das schwe¬
bende Kunstwerk dem sicheren Boden zn vermählen.
Als sicheren Fortschritt buche ich die von Finnur Jönsson, Nord.
Tidskrift for Filologi 4. R. 9. Bd. (1920) S. 33f., Fritz Burg, Z. f. d, A. 58
(1921) S. 288 f., Patzig, ebd. 59 (1922) S. 236, und Brate, Arkiv
f. n. fil. 38 (1922) S. 208, vorgeschlagene und verfochtene Folge
der Zeilen C A B, 2 * ). R. Meissner lehnt in Nachrichten von der
Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil. hist. Kl. 1921 S. 90 1 Burgs
1) E. Norden. Die germ. Urgeschichte in Tacitus Germania. 1920 S. 121 Anm. 2,
hat Kap. 10 als germanischer Provenienz bestehen lassen. — Vgl. Möllenhoff DAK. 4,
222 ff.; Meissner, Zschr. a. a. O. S. 7; Feist, Arkiv f. nord. fil. 35, 25t ff.; Kauffmann,
DAK. 2, 229 Anm. G; Heusler, Reallex. 4: Stabreim § 25 (mantische Rune).
2) Angenommen von Noreen, Altisl. Gramm. 4 S. 377. Johannesson, Gramm, d.
urn. Inschriften folgt Olsen.
„Wenn du nach Runen forschest —
11
Gründe unter Hinweis auf den ‘seltsam’ erscheinenden Beginn
der Inschrift mit Z. C in. E. mit Unrecht ah. Der Magier, dei
auf die Unterirdischen wirken will, legitimiert sein Werk vor allein
ihnen gegenüber durch Mitteilung der rituell korrekten Herstellung.
— Z, C hat Meissner ebd. S. 89— 1U0 durch Wort-, Tatsachen-,
Konstruktions- und Stilverstündnis ins rechte Licht gesetzt: ‘Kein
Mensch stelle, keine dreisten, keine frevlen Menschen legen den
Stein bloß!’
So lange wir, vom Schauer des Zaubers der Z. C umfangen, an
Z. A B treten, sind wir von der Erwartung erfüllr, daß es sich auch in
ihnen um Zauber, und zwar um Runenzauber handelt. Für die
Worte huwaR ob kam haris a lii a lat gotna, altisl. Hverr of kom
Jiers dl *hf d leunf 1 ) gotna? ist dann kein anderes Subjekt assoziierbar
als ‘Runen’. Sie beherrschen dann notwendig die Deutung der vor¬
hergehenden Worte. Es scheint nicht anders möglich, als daß der
Satz huwaR . . . das Ergebnis der vorher angegebenen Handlung an¬
kündige». So rücken warb naseu und made notwendig in die Auf¬
fassung ritueller Handlungen ein; und zwar kann es sich um nichts
anderes als um ein Unternehmen, Runen heraufzuholen, eben um Runen¬
suchen, spf/ria at runom handeln. So scheint sich mir aus der Le¬
gende des Steins Olsens Meinung zu ergeben 2 ).
Auf seine Deutung des folgenden Orakels kann ich mich nicht
festlegen und sie leider auch nicht verbessern. Daher sind mir \ er-
mntungen über die Form der Frage, ob frei wie Germ. Kap. 10 An¬
fang oder beschränkt, wie sie Caesar, der Offizier, die Germanen
seiner Zeit auf utnnn-necne , utnnn-an (Bell. Gail. I 50,4; 5ß,7) stellen
läßt, versagt. Olsens Deutung ließe die Frage: Rächer oder nicht,
vermuten. Die von Gering, Weissagung und Zauber im nord. Alter¬
tum, Kiel 1902 S. 8, angeführten und von Meissner, Zschr. S. 4—7,
90—105, besprochenen Beispiele stellen teils freie, teils beschränkende
Fragen.
Den Vorgang des Schabens des Steines auf den Schlittenpflöcken
bei seiner Herbeischaffung in Olsens Sinne angenommen, scheint es,
als ob die Kratzlinien des während der Fahrt schlitternden Steins
auf den Pflöcken als die ‘heraufgekommenen’ Runen verstanden
worden seien. 3 ) Sie als Runen zu erkennen, die erkannten zu deuten,
war Aufgabe des Forschenden. Was bei dem rduta herausgekommen
ist, steckt in den folgenden Orakelworten. — Wirklicher Erkenntnis
des Vorgangs kann uns nur Aufsuchen volkskundlicher Parallelen,
1 Für hia erwägt Olsen S. G5 die Lesung hAl; Burg S. 291 zieht in Betracht,
Brate S. 209 schlägt halland (Lp. hailand 3 ,steil abfallendes Land') Gotna — ‘das steile,
felsige Gotland’ vor. Auch unter der Lesung hailand kann gotna — der Menschen
festgehalten werden; Kenning für Norwegen?
2) Gegen Olsen ,Schlittenhypothese’ erweckt die von Brate a. a. O. S. 208 f.
betonte Tatsache, daß nicht nur keipr und hunn, sondern auch hnnbora Benennungen
für Schiffsteile sind, erhebliche Bedenken. — An bormtär ‘bohr-, bohrermüde’
nehmen F. Jonsson, Burg, Patzig mit Recht Anstoß. Burg a. a. O. S. 284 1 denkt an
ahd. bova — elatives Praet. ‘gar sehr’. — FlagtrautSr kann vom st. Verbum stammen
\rschw. flu Sjörup. Brate, Runverser. Ant. Tidskrift för Sverige X 1 SST — 91 Nr. 123 ;
vgl. flug-skjarr, — ityggr, — van\ — pverrir; flngartrautSr ist Neubildung von M. flugr.
Darf bormösSr ‘tragemüde’ gewagt werden?
3 Olsen S 39 denkt an Udslettelse af Runer, som har va^ret indridsede paa
•Slcedens ‘Keiper’ .. saaledes at rifaar en Modsvarighed til Afskavning af magiske
Runer i Mythe og Virkelighed; vgl. Sdr. 15—17; bes. 15,8 und iS Die oben vorgetragene
Vermutung behält die Stütze von Sdr. 15,8 und eint sieh den \\ orten kam a.
12
Vogt:
vgl. Meissner Zschr. S. 8— 12 niilier bringen, nicht Phantasie; 1 ) geben?
kann sie nur ein neuer Fund.
Erst bewarf, begoß der Meister den Stein mit. Blut; 2 ) dann
arbeitete der Fels auf dem Schlitten — und die Runen waren da;
dann hat der Meister seine Deutung auf dem Stein geritzt.
Har. 142 Runar . . . radna stafi . . .
er tädi fimbuljmlr —
nk gorito ginnregin
nk reist liroptr regna.
Erst hat 'Odinn gerötet, fddi — warb naseu: dann haben die
ganz großen Mächte die Runen geschaffen — IniwaR ob kam haris a l
dann hat er sie geritzt. Genau dieselbe Folge.
Möllenhoff DAK. 5, 271 scheint diese Folge der Z. 5. (5 für älter
gehalten zu haben als die in v. 80. Bugge, Studier over de nor-
diske Gude-og Heltesagns Oprindelse, Christiania 1881—9 (Deutsche
Ausgabe von Oscar Brenner, München 1889) S. 298 3 , 387 4 ist geneigt,
sie als Entstellung der älteren v. 80 anzusehen. Diese mußte als
die logische erscheinen, zumal er vor fddi nicht auf runar und stafi y
die die ginnregin erst darauf schufen, bezogen werden konnte.
Die Eggjum-lnschrift gibt die Folge von v. 142. Sie sagt aber hin
(den Stein) warb naseu, nicht die Runen. M. E. braucht die tem¬
porale oder allgemein relativisehe Bedeutung von er-‘so’ (Bibelsprache)
nicht angestrengt zu werden. Hatte der Dichter mit runar ange¬
setzt, so konnte er er auf Runen, die erst heraufgeholt werden
sollten, beziehen.
Die Eggjum-lnschrift zeigt anscheinend, Häv. 142 offenbar ein
anderes fd als das bisher beachtete der fertigen Runen. 3 ) Dieses
war eine sakrale Handlung; das bekundet das Vermeiden von fd
auf christlichen Runeninschriften, 4 ) s. Bugge, Norg. Indskr. I, 445.
Daß man in ihm den Kern der Handlung der Runenherstellung
sah, beweist das gelegentliche Auftreten von fd ohne n'sta, das
doch vermutlich mehr Zeit und Kunst der Hand in Anspruch nahm
(Einang, Noleby, Rö, Vatn). Es konnte sogar einem anderen als
dem Ritzer übertragen werden (Vetteland), und das geschah gewiß
nicht, weil ihm dazu die Handfertigkeit fehlte, sondern weil zum fd
eine für sakrale Handlungen besonders qualifizierte Persönlichkeit
gehörte. Es wird aufs Engste mit dem Opfer zusammengehangen
haben. Es gewährte, sicherte oder erhöhte die magische Kraft
der Runen.
Fd vor der Ritzung sollte einerseits die Runen ‘heraufholen’,
andererseits die Stäbe miok störa, mi<>k stimm machen — darin
hatte es denselben Zweck wie das fd der fertigen Runen. Als-
1) R. M. Meyer PBB. 21 (189(1 S. 177 f.: Patzig Zs. d. A. 59 (1922 S. 238.
2 v. Friesen, der für Rö (stainawarijaRafahido) als Objekt zu fahido sfaina er¬
wägt und wohl mit Recht ablehnt, weist daraufhin, daß diese Verbindung erst
im 11. Jh. (Jättendal, TTälsingland) mit Sicherheit nachgewiesen ist. Rö-stenen i
Bohuslän och runorna i norden under folkvandringstiden. Upps. Univ. arsskr. 1924
Nr. 4 S. 17. Aber für Rö und Vatn ist mit fd des Steines zn rechnen.
3; Häv. 157, 4 f. svd ek rist ok / rdnom fdk; Eg. Sk. Ly. 3, 2 ritröom spiull i dreyra.
4) Solarljod v. 00 b stionior . . fdtfar feiknslofom ; Gl h hUrtiyar rdnir rdro d bridsti
keim merkdur meinliga. Diese Zeilen zeigen den christlichen Abscheu vor dem heid¬
nischen Runenzauber.
Wenn du nacli Runen forschest —
13
sakrale Handlung war es ihm generell gleich; s. Kluges Etymologie
von fr< ; tt (doch got. -nik- au. -e-?).
Noch eine v. der Hav. muß als Zeuge fiir diese Form der frett
ernst in Betracht gezogen werden. V. 144a bietet die Folge l etfsftt,
Jive rista . . nida . . fei . . freiste* sketf, anscheinend eine ordnungs¬
lose Aufreihung von Momenten, die mit Runenkunde Zusammen¬
hängen. Die v. ist Lehre über Runen- und Opferzauber (Helm, b),
und sie hetzt die Zauberform sozusagen zu Tode. M. E. geht der
Lehrer dieser höchst geheimnisvollen Kunst vom letzten, vom an¬
schaulichen (Miede des Vorgangs, von den sichtbaren geritzten
Runen aus. ‘Runen ritzen möchtest du können? Kannst du sie
denn deuten, wenn sie dir gegeben werden? Verstehst du das rechte
ftl um sie heranfzuholen ? Verstehst du die ganze heilige Hand¬
lung des freiste* (-spyria nt nhwui) mit allen ihren Maßnahmen?
So schreitet der Lehrer vom Geschauten zum Geahnten hinauf —
mäeutisch. Über den Gang in b können wir kaum etwas sagen, da
wir über sendet und snet nicht Bescheid wissen; bidia ließe sich wie
rista als das Letzte der Handlung auffassen. V. 14ö, die genau die
Folge von 144b bietet, ließe sich ja so deuten: besser gar nicht
bitten, als vorher — um sich das Recht zur Bitte zu erkaufen —
allzuviel opfern, wenn man hinterher fiir sein Opfer nichts bekommt.
Die Deckung der v. 142 mit der Fggjtiminschrift ist vollständig.
Sie bedeutet eine neue Deckung des Mythus mit dem Ritus und
damit, wie mir deucht, eine neue Stütze für Olsens Deutung. So
wie 'Odinn verfuhr, als er nach v. 142 die ersten Runen suchte, ver¬
fuhr der Meister von Kggjum. 'Odinn. der fnnbutjndr ; der Meister
von Eggj'uin, ein /)idr beide haben ohne Zweifel den Teil ihres
großen Unternehmens, der ihnen selbst volle Aktion zuwies, durch
Za überreden begleite. 1 )
Im zweiten Akt steht das Handeln bei den ginn regin:
ja hefw henm batst cf hmiu pegir.
Kiel.
Die Debetstracht bei den Juden.
Von
Berthold Koldbacli.
Gebetstraehten sind auch hei den Juden Mitteleuropas üblich, doch
betritt selten ein Xiehtjude die Synagoge. Die Juden leben unter uns,
sie sind kein Gegenstand der Neugier; die Menge nimmt kritiklos hin,
was sie vom Hörensagen erfährt, beruft sieh oft auf Juden selbst, ohne
zu wissen, daß die meisten heute teils aus Gleichgültigkeit, teils aber
aus Unkenntnis dem jüdischen Ritus fremd gegenüber stehen. Und
doch verdienen jene Riten sowohl in ihrer Gesamtheit als im einzelnen
Beachtung, denn gar mancher kehrt auch im Ritus der verschiedenen
christlichen Kirchen wieder, gar mancher findet im gottesdienstlichen
Leben von Urvölkern sein Gegenstück.
1 Hierzu E. Schröder, Z.f. d. A. 37 über das spell.
14
Kohlbach:
Der Opfcrkult erforderte hei seiner sieh entwickelnden ^Mannig¬
faltigkeit die Einsetzung einer besonderen Priesterkaste an Stelle des
Patriarchen, des Familienoberhauptes. Die Priester mußten zum Unter¬
schied von den Profanen, znm mindestem während der Amtshandlungen
sakrale Gewänder anlogen. Dazu kam es auch im Judentum, richtiger
in Israel, als an Stell«* der Erstgeborenen die Leviten, an Stelle fies
pater familias di«* Nachkommen Arons getreten waren. Die Schrift-
steilen, besonders Exodus 28. und 20. Kap. 40,13 14; Leviticus S, 7 13
und Ezechiel 42,14 und 44,17)—10 reden eine deutliche Sprache.
Doch nach dem Untergänge dos Heiligtums auf Moria und der Ver¬
drängung des Opferkults durch das Gebet und den Ritus kennt das
konservative* Judentum keine geistliche Gewandung, keinen Ornat; die
modernen Gemeinden entnehmen wohl dem christlichen Kult das
Priestergewand und die Mutze, in vielen Synagogen «auch das Bäffchen.
Eine Priesterkaste gibt es heute im Jndentume nicht; der Rabbiner
ist Lehrer des Volkes und Leiter des konfessionellen Lebens. Als Pre¬
diger mehr denn als Priester erscheint er in der Synagoge im Ornate,
denn die Verrichtung des Gottesdienstes knüpft sich bekanntlich an die
Person des Vorbeters, des Kantors 1 ). LLid doch hat sich im Judentum
eine Gebetstracht entwickelt, welche für jeden männlichen Juden von
der Konfirmation an bindend ist; es sind dies die Reste der alt-israeliti¬
schen Volkstracht als Gebet mantel (tallith) auf Grund von Numeri
15,37—40 und Deut. 22,12 mit Quasten oder Fransen (zizith), die soge¬
nannten Phvlakterien oder Gebetsriemen (tefillin) nach Deut. 0,8
und schließlich die Alba, das weiße Gewand, dessen Ursprung in
Levit. 16,4, Ezeeh. 44,17—18 und Sacharia 3,4—5 zu suchen ist.
Andererseits entwickelt sich im späteren Jndentume — wahrschein¬
lich im Anschlüsse an die mohammedanische Mode — ans der einst
partiellen Anordnung der Kopfbedeckung bei den Priestern der
allgemeine Brauch, in Synagoge und Hans während des Gebetes (in
konservativen Kreisen stets) das Haupt zu bedecken. Als Gegensatz
zu dieser Sitte gilt der Brauch, die Fußbekleidung, zumal lederbesohlte
Schuhe und Sandalen, am Versöhnungstage, beim Priestersegen, an
Trauertagen, wie am 0. Ab im synagogalen und häuslichen Ritus, in
der Trauerwoche im privaten Leben und beim offiziellen Gräberbesnche
am 9. Ab auf dem Gottesacker, abzulegen.
1 . Der Gebetmantcl (Tallith).
Mit Ausnahme der beiden Tranergottesdienste an der Jahresfeier
der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem durch Titus, am 9. Ab, trägt
der Vorbeter bei jedem Gottesdienste, der Jude vom vollendeten
13. Jahre aufwärts, beim Morgengebete und in neuerer Zeit beim Vor¬
mittagsgebete, an Fest- und Sabbattagen 2 ) die ans reiner Schafwolle
gewebte Umhüllung, den T a 11 i t li (im Jargon: tallesz). Seit etwa
1) Dieser Umstand trägt dazu bei, daß in kleineren jüdischen, zumal nicht kon¬
servativen Gemeinden ein Vorbeter unbedingt, ein Rabbiner seltener angestellt wird.
Bloß in den Reformgemeinden trägt der Prediger das Gebet vor und verliest ein
anderer Prediger den Bibeltext; den gesanglichen Teil besorgt der ‘Regens chorik
2) Nach Angabe der Witwe des in Liptoszentmiklös. Oberungarn, 1861 ver¬
storbenen Rabbiners Bernhard Nicolau soll man noch zu Anfang des 19. Jahr¬
hunderts an Vormittagsgottesdiensten (müszaf) blumen- und ornainentdurchwirkte
Seidentücher umgenomnien haben. Später hatte man aus diesen bunten Tallithim
Hüllen für die Tdrarollen genäht.
Die Gebetstrarht bei den Juden.
lf>
einem halben Jahrhundert verdrängt ihn, zumal in den liberalen soge¬
nannten lieologen Gemeinden und bei dem jüngeren Geschlecht, der
kleidsamere, weil zusammengefaltcte, ans weißer Seide mit zu beiden
Seiten cingewebten schwarzen Längsstreiten verfertigte lallith.
An den vier Zipfeln dieser Hülle hängen Quasten oder Fransen,
deren KnüpfungSt!*’! die Tradition und besonders Luria, dem A ei’-
breiter der Kabbala im dudentume, folgend, di(* Ritualkodiees vur-
sehreiben (vgl. Sehnlehan-aruch und Tur <)rach-ehajjim § 11,14 und
Abraham Gumbinnors Kommentar Magen Abraham zur Stelle). Fs
sind die Zizith der Schrift (Numeri 15.37—40; in Deuteron. 22.1*2
gedilim genannt).
I)ic vier Zipfel des r Fa 1 lith werden quadratisch nnterfiittert, in der
Mitte wird je ein Loch ausgenäht, und durch jedes Loch werden vier
weiße Wollenden durchgezogen, und zwar drei gleich lange und ein
beträchtlich längerer, der Schannnesz ( Diener). Am unteren Saume
des quadratischen Zipfels werden die vier Fäden zu einer Quaste von
acht Fäden so verknüpft, daß der obere Teil der Quaste durch fünf
Doppelknoten gesondert, vier dem Zahlenwerte von “X .TiTD-*-84-11- 13
entsprechend umwundene Zwischenräume enthält und daß die frei
hängende Quaste nicht kürzer als der gebundene und verknüpfte teil
sei. Während die Fmwickelnngen dem Zahlenwerte des Glaubens¬
bekenntnisses Jahve ochAd (- Gott ist einzig) entsprechen, entsprechen
die acht Fäden und fünf Knoten dem Zahlenwerte von echad (1 —8 + 4)
einzig; (vgl. < )rach chajjim § 11, zumal 14) M.
Erst die,Anbringung der Quasten geben dem Tallith den sakralen
Charakter (Drach chajjim § 19,1). Den oberen Saum des Tallith ziert
gewöhnlich eine Gold- oder Silberborte, oft ein bloßes Seidenband
(Orach chajjim § 8,3). Bei den sogenannten espagnolischen Juden
(Szefaredim) auf dem Balkan sind die vier quadratischen Fcken des
Tallith statt mit Seide mit goldgestickten Samtvierecken übernäht, wie
ich cs selbst vor Jahren in Belgrad gesehen habe.
Doch was ist nun der Tallith, was die ihm sakralen Charakter ver¬
leihenden Zizith. die ich mit Kautzsch ‘Quasten’ und nicht wie üblich
mit ‘Schaufäden’ übersetze? Tallith bedeutet schon in der Sprache der
Mischna: Überwurf, schlechthin Kleid, und ist an und für sich nichts
anderes, als die Beduinentracht (hurnns), die wir im ägyptischen,
griechischen (tjudnor) sowie in der Toga, im Judentum, wie zumal
in der römisch-katholischen und orientalischen Kirche, wie im Islam
finden. Am meisten modifiziert finden wir diese uralte Gewandung in
den Meßgewändern, z. B. im wollenen Pallium der Erzbischöfe und
zumal in der Stola und im Humorale (Schultertuch) der katholischen
Kirche; dieses Gewand trägt aber bloß die Geistlichkeit bei Ponti¬
fikationen. Dem Tallith der Form, aber nicht dem Stoffe und der
Bearbeitung nach näher steht die Gebets- (und Sterbe-) hülle des
1) Am Saume wurden die vier Fäden zweimal verknüpft, so daß wir vor uns
eine Quaste von acht Fäden haben. Nun wird mit dem langen Faden die Quaste
erst siebenmal umwickelt, dann wird die Quaste wieder zweimal verknüpft, achtmal
umwickelt, wieder zweimal verknüpft, elimal umwickelt, wieder zweimal verknüpft
und nun dreizehnmal umwickelt; zum Schlüsse wird die Quaste zweimal fest ver¬
knüpft. Es scheint die Art der kabbalistisch gefärbten Umwicklung so wichtig zu
sein, daß Abr. Gumbinner zur Stelle von dem Pseudomessias Salomo .Molcho (16. Jahr¬
hundert) envähnt, daß seine Zizith den Zahlen 10 + 5 + 11 + 13 nach umwickelt
waren.
Kohlbach:
1(5
Moslems, die er aber liielit mimimmt, sondern vor sieb hinbreitet, um
darauf die Verbeugungen im Gebete zu verrieliton. Am konservativsten
verhält sieh aueh da das Judentum: es hält starr an der Gewandung
seiner palastinensirhen Vorfahren fest, bloß bei den Knräerii erinnert
er aber an die Stola.
Fs wäre möglich, daß die vier Quasten ursprünglich keim* sakrale
Bedeutung hatten, und daß aueli da der niieliteru-realistisch denkende
Fxeget Abraham ibn Fsra zur Stelle Numeri 15,38 recht behält:
‘Ks sind dies die Käden, die heraushängen, weil sic* nicht verwebt sind’
und die man nicht abselmeiden wollte, weil sie entweder als Zierde
»altem oder weil man das Gewebe fester machen wollte, wie unsere
Frauen den herabhängendeii Faden am Vorderstrmnpfe nicht ab-
schneiden. Doch dem widerspricht die Tatsache, daß bei den Puvszi’s
der mit Fransen besetzte Gebetmantel allgemein üblich 1 ), daß nach
dein Gesetze Manns das Msagne piiradam’ zu tragen dem Priester zu-
kommt. Isis war aueh in einen Mantel gehüllt, dessen Saum Fransen
zierteji. Heute noch sind an den Schamanengewändern Quasten, Trod¬
deln und Fransen, die* sakralen Kleider der Dnkduk-Tänzer im Bis-
marck-Arehipel sind eitel Fransen aus Bast und Gräsern, und die Volks¬
tracht der Walachinnen, wenigstens in Südost-Ungarn, kennt lang-
fransige Schürzen ‘opregs 1 und ‘katrinzask ja Dr. Emil Fischer 2 ) gibt
an, daß walaehische Zigeunerinädcben im Sommer mir mit einer aus
langen Gräsern verfertigten Schürze bekleidet sind.
„Und es redete Jahve zu Mose wie folgt: Rede zu den Söhnen Israels und
sage ihnen, daß sie Quasten anbringen sollen an den Ecken ihrer Gewänder für
alle Zeiten, und daß sie in die Saumquasten einen purpurblauen Faden einfügen.
Und das sei ihnen eine Quaste. Und so ihr sie sehet, gedenket all der
Gebote Jahves und übet sie aus: folget ja nicht eurem Herzen und euren
Augen, denen ihr sonst nachbuhlet, damit ihr eingedenk all meiner Gebote sie
ausübet und heilig seiet eurem Gotte. Tch, Jahve, euer Gott bin es, der euch
herausgeführt hat aus dem Lande Ägypten, um euch zur Gottheit zu
werden, ich, Jahve, euer Gott.“ (Numeri 15,37-41).
Überall in Israel muß der Brauch der Zizitli verbreitet gewesen
sein, da der Deuteronomist bloß kurz darauf liinznweisen bat: „Quasten
mache dir an den vier Zipfeln jenes Gewandes, womit du dich umhüllst!“
(Deuteron. 22,12.)
Soweit im legislatorischen Teile der Schrift über die Zizitli. Doch
scheint auch in Numeri eine alte heidnische Sitte in den Dienst Jahves
verpflanzt zu sein. Verlangt nicht Tamar von ihrem bei ihr einkehren¬
den Schwiegervater Juda (Genesis 38,18) den Siegelring, den Quasten¬
überwurf 3 ) und den Stab?
1) S. Rubin, Maarecheth täanie mizwöth, Krakau 1900, S. 51—53.
2) Vgl. Pie Umschau (Frankfurt a. M.) vom 25. September 1909, Emil Fischer,
Steinzeitliche Zustände bei den heutigen Rumänen.
3) ‘pethilecha im Plural; ‘pätliiT — F'aden; ich nehme es im Sinne von pars
pro toto, da ja die Quasten das hebräisch-charakteristische waren. Wellhausen über¬
setzt es mit: deiner das Amulett haltenden Schnur. Von den Exegeten im Mittel-
alter übergeht es Abraham ibn Esra schweigend; Nachmäni wagt nicht darin die
Zizith zu sehen; Juda wird doch nicht etwas so Heiliges profaniert haben; er sieht
darin ein Tuch, Sudarium. wie der Targum, Raschi usw. Samuel ben Meir glaubt,
es wäre ein Gürtel gewesen. So aufgefaßt entspräche ,pethilecha’ dem parsischen
‘Kosti’, mit seinen 72 lierunterhängenden Fäden, das beim Gebet verwendet wird.
Vgl. Rubin 1. c. S. 52.
Die Gebetslraeht bei den Juden.
17
Vielleicht handelt es sich Ihm dem primitiven Hirten Juda um ein
rudimentäres Symbol der in der Urzeit allgemein üblichen Tätowierung.
Wissen wir doch ans der vergleichenden Urgeschichte ihn* Völker, daß
Amnletl nnd Talisman die ständigen Begleiter des Menschen ant der
primitiven Kulturstufe sind; sie schützen ihn vor allen drohenden Ge¬
fahren. Doch waren dies bewegliche Güter, deren er beraubt werden
konnte; wirksame]* war das symbolische Schutzmittel: die Tätowierung.
Ans dieser wiederum entwickelten sich, wie Wilhelm Wundt 1 2 ) ausführt,
Riten und Bräuche in der Bekleidung, indem das ursprünglich auf
den Körper tätowieite Mal auf das den Körper nun bedeckende Gewand
projiziert wurde. Kine der ältesten Formen der Tätowierung war die
Xarbentätowierung, wie wir sie noch heute bei einigen australischen,
indonesischen und afrikanischen Stämmen finden. Diese Narben¬
tätowierung mag bei den Urhebraern biindeltürmig gewesen sein, und
zwar ein Symbol Baals oder Astartes, in deren Schutz die Stammes
ungehörigen sich begeben hatten. Zumal im Astartekultns ~) spielt der
auch im Zizith-Gehotc wichtige ‘purpurne Faden' (pethil theeheleth)
eine Rolle; es ist leicht möglich, daß, als Moral und Ästhetik in Ver¬
bindung mit dem Klima eine Umhüllung des Körpers erforderten,
dieses Leibeszeichen auf das Gewand projiziert wurde, und da es
biindel förmig gewesen, nun als Quaste fziz Zierrat, Blume, Blnmen-
ornament; zizith mit Ornamenten, Verzierungen versehen, wobei
-ith ein adjektivbildendes Suffix ist, keinesfalls: ‘Sehaufädon') sakralen
Charakter angenommen hat.
Judas pethil im waren noch ein heidnisches Stammessymbol
chaldäischen Ursprungs. Numeri stellt die Quaste mit dem purpur¬
farbenen Faden (pethil) in den Dienst des geläuterten Jahvisinns. Nicht
an Baal oder Astarte erinnere die Quaste mit dem pnrpurblauen Faden
Israels Nachkommen, sondern an Jahve: einzig und allein an ihn.
Nicht Baal, noch Astarte befreite Israel ans der Sklaverei; Jahve hat
sie ans Ägypten hinausgeführt, um ausschließlich nnd allein sein Gott
zu sein 3 ).
Der ‘pethil theeheleth’, der purpurfarbene Faden, vertritt
nicht mehr die Narbentätowierung, da ja die Schrift jede Tätowierung
verbietet (partiell Levit. 19,28, 21,5 und Jerem. 1G, G, allgemein
Deuteron. 14,1); er wird zum bloßen Erinnerungszeichen an Jahve,
so daß Deuteron. 22, 12 als etwas in seiner Zeit schon Unverstandenes das
Gebot der ‘gedilinf Fransen an den viel* Zipfeln des Gewandes ohne
jede Begründung anführt 4 ).
Ln Volke galt doch noch, wenn es überhaupt den Ritus des Gebet¬
mantels gekannt hatte 5 ), Zizith als Amulett, der blaue Faden als
1) Völkerpsychologie. 3. Bd.: Die Kunst (1908), S. 220 u. f.
2) Vgl. Paul Scholz, Götzendienst und Zauberwesen bei den alten Hebräern
(Regensburg 1877) § 24 S. 259—301.
3) Vgl. Jesaja 44, 0. wo dieses Hervorheben ‘außer mir gibt es keinen Gott’ mit
seiner vermutlichen Tätowierung der Hand (ebendas. 5) in Verbindung stellt.
4) Höchst interessant ist es, daß die Quasten am Saume des Hohenpriestermantels,
des meiTs, die Form eines Granatapfels hatten; auch diese Quasten bestanden aus
purpur- und karmoisinfarbenen Fäden (Exodus 28,33). Die purpurblaue Farbe spielt
auch im römischen Ritus eine Rolle; die Yitta der an die Di Manes sich Wendenden
ist blau; auch in der katholischen Kirche finden wir die violette Farbe im Priester¬
ornate.
5) Vgl. den Kommentar Nathan Adlers zum Targum Onkelos Numeri 13, 38.
Zeilschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 2
18
Kohlbach:
Schutzmittel. Weder der Midrasch noch der Talmud befassen sieh
mit der Institution, der Art und Weise ihrer Ausführung’ usw. Mnimüni
glaubt, daß die Misehna, weil die Umhüllung mit dem Tallith eine
so allgemeine gewesen war, auf eine Erörterung des Ritus leicht
verzichten konnte. Alit niohten! Kultur und Klima forderten eine
andere Tracht; es gab keine vier Zipfel am Gewände, es gab auch keine
Zipfelquasten; vom blauen Faden ist schon nach dem 2. Jahrhundert
n. Ehr. keine Spur. Die Stellen Menachöth 38a,44 und Numeri rabba
§ 17 sind didaktischer Art und geben gar keinen Anhalt für die Volks¬
kunde.
Anders die Mystik; sie knüpfte an die Umhüllung mit dem Tallith
die Zuversicht, „daß im Jenseits sich die Seele zum Lohn dafür in eine
neue Hülle kleide, auf Erden der Gebetsmantel Auge, Hand, ja den
ganzen Körper verhülle und vor jeder Sünde schütze“. (Aus dem pol¬
nisch-jüdischen Rituale vor der Umhüllung mit dem GebetsniantelJ
Während der sefaredische Jude den Tallith stolamäßig zusammen¬
gefaltet um die Schulter legt und höchstens das Haupt umhüllt, bedeckt
bei den konservativen europäischen Juden Mitteleuropas, den soge¬
nannten Aschkemisim, der Tallith den ganzen Körper, bei Verheirateten
auch das Haupt des Beters. Dem liegt die Tradition zugrunde, so Talm.
Kidduschin 29 und die Codices, so Oracli chajjim § 8,2. Beim Umneliinen
verhüllt jeder Beter das Haupt und spricht dabei folgende Benediktion:
„Gepriesen seist du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns
geheiligt hast durch deine Gebote und uns befohlen hast, uns in ein
mit Quasten versehenes (Gewand) zu hüllen“ (lehithattef bazizith, nicht
ba-tallith!) M.
2. Die Gebetrieinen (Tefillin).
Wird ein Knabe 13 Jahre alt (ini konfessionellen Leben der Juden
das Mündigkeitsalter), so kauft der Vater beim Gesetzesrollen-Schreiber
(szöfer) Phvlakterien, und die Mutter stickt liebevoll in Gold oder
Perlen einen Seiden- oder Sanunetbeutel für die Tefillin, denn gewöhnlich
vier Wochen vor der Konfirmation (bar mizvah) lernt der Knabe
Tefillin legen’. Er entblößt den linken Arm — es wird ihm erklärt,
der linke Arm liege dem Herzen nahe und die Tefillin an ihm mögen
auf Gemiit und Herz wirken * 2 ). Ein glänzend-schwarzer schmaler
Riemen, der in einer verschiebbaren Schlinge endet, wird auf dem
Biceps befestigt, dann siebenmal (eine sakrale Zahl) um Ober- und
Unterarm und vorläufig um die Hand gewunden. Auf der Schlinge
befindet sich eine Kapsel in Würfelform (Jewish Eneyelopaedia kennt
1) Nicht unmittelbar zur Gebetstracht gehört das im Jargon genannte ‘Zedäkel’
(hebr. tallith kätön — kleiner Tallith oder Arba kanföth — vier Zipfel). Es ist ein
aus Leinen oder Schafwolle geschnittener oder aus Schafwolle gestrickter, gehäkelter
Überwurf aus zwei mit Leisten verbundenen viereckigen Deckchen; an den vier
Zipfeln hängen Zizith. Selbst nach dem Orach chajjim § 8,11 darf dieses Toiletten¬
stück unter den Oberkleidern getragen werden — auf dem bloßen Leibe nicht —,
doch gibt es übertrieben primitiv-fromme Juden, wie im Nordosten Europas, zumal
in Polen, welche die Quasten frei herumtragen, oft ein Wams mit diesen Quasten
versehen (Leibzedäkel) vgl. Orach chajjim § 24. 1. Da dieser ‘kleine Tallith’ nicht
sakral ist, dürfen ihn auch Knaben unter 13 Jahren tragen, und bei diesen Kindern
der polnischen Juden ist diese Tracht geradezu charakteristisch.
2 ) Das Anlegen an der linken Hand ist bloß homiletisch mit der Nähe des
Herzens begründet. Der Grund mochte der sein, daß die Rechte durch die Arbeit
profaniert ist, und in der Tat legt der Linkshändige die Tetillin an die Rechte an
0 i rach chajjim § 27. 0).
Die Gebetstracht bei den Juden.
19
auch Kapseln in zylindrischer Gestalt), die auf dem Bizeps anflicguu liuiü.
Dieser Gcbetriomen gilt für den Arm (Tetilliii schul jad). Xaeh d(*r
vorgeschriubenen Benediktion wird der Gehetrieuien fürs Haupt (Tetilliii
-(•lud roseh) angelegt; er hat die Form einer Stirnbinde; der Knoten,
von dem die Riemenenden herunterhüneem und zwar werden sie nach
vorne überg'cworfen, ist in Svastika (Hakenkreuz) -F orm geknüpft ).
An der Schlinge ist verschiebbar die würfelförmige (sechsseitige) Kap¬
sel angebracht.
Xaeh der Benediktion wird die vorläufige Fm Windung der Hand
gelöst, und während der Verlesung von Hosea 2,21 22 wird der \nn-
ri einen auf die Finger so gewunden, daß die einzelnen 1 mWindungen
auf dem Handrücken und der Handfläche die hebräischen Buchstaben
—*« bilden. Sehaddaj ist einer der ältesten Xanum für den Gott der
Hebräer und wird heute noch auf Amuletten, wie z. B. an der Plosten-
kapsel (mesnsah), auf kabbalistischen Zeichnungen und in Anrulungen
in seelischer und körperlicher Gefahr angewendet 1 2 ).
Dem Konfirmierten wird von frommen Hltern eingeprägt, ja bei
jedem Morgengottesdienst an Werktagen die Tetilliii anzulegen, und
er wird belehrt, den 9. Ab dürften sie erst während des Xaehmittags-
gottesdienstes (minehah), während der tiefsten Trauer (bis nach der
Bestattung der nächsten Angehörigen) überhaupt nicht g(»tragen
werden; sie seien eine Zierde, ein Diadem (peer) und in Trauer un¬
statthaft.
Fine Zierde, ein Diadem? Warum gilt dieser Ritus nicht für
Sabbat- und Feiertage? Die Erklärung der Tradition, Sabbat- und
Feiertage haben ihre besondere Weihe und bedürfen keiner besonderen
Mahnung an Gottes Gnade durch die Phylakterien, kann uns nicht
genügen. Der Grund wird wohl ein anderer sein: wenn auch heute
infolge mittelalterlichen Aberglaubens und im Ritus maßgebend
gewordener kabbalistischer Einflüsse sowie des Konservativismus der
kritiklosen Menge und ihrer Führer die Tefillin einen streng sakralen
Charakter haben, so erklärt doch noch die älteste Mischnasammlung, die
Mecliiltha (herausgegeben von J. Weiß, Wien 1885, § 17) das Anlegen
der Teffilin für Gelehrte und Talmudisten für nicht bindend, und
selbst der Talmud (so Berachoth Ga, Megilla 1Gb) faßt sie als Amulett
auf, auch zählt Sabbat 130a sie unter jene Riten, die von dem Gut¬
dünken der einzelnen abhängen: im Bewußtsein der Codifikatoren mag
gedämmert haben, daß sic Rudimente einer heidnischen Auffassung
wären und zu dem ethischen Gehalt des Sabbats und der Festtage
nicht im Einklang stünden.
Ich finde in den Tefillin die Spuren der Tätowierung hei den
Hebräern und Israeliten; ich habe dies in meiner Abhandlung: Spuren
der Tätowierung im Judentum (Globus 1909) ausgeführt und kann
daher bloß in Kürze davon sprechen. Die Tätowierung von Arm und
1) Die Form des Knotens scheint germanisch-heidnischen Ursprungs zu sein.
Das frühe Mittelalter kannte ihn, und trotzdem verfällt selbst der sonst nüchterne Bibel-
fxeget Raschi in den Fehler, die Form des Knotens gehe auf Mose zurück: Gott
‘zeigte ihm den Knoten der Tefillin’ (Raschi zu Exodus 38, 23).
2) Ein üblicher Wunsch ist beim Abschied von dem Vaterhause: Schaddai!
Errette mich von dem Versucher! Im Zsidö muzeum (Jiid. Mus.), Budapest, sind
zwei silberne Amulette (A IV, 3 und 5) mit der Aufschrift: schaddai. — Über diesen
Gottesnamen vgl. Ludwig Venetianer. El Saddaj in der Ztsclir. f. Assyriologie hsg. v.
r - Bezold 30. ‘230 ff. (Straßburg 1910).
I\i>hlb;trli:
20
Stirne dürfte ein Zeichen des Bundes mit der Gottheit, dem Schaddai,
gewesen und an Stelle des Opfers getreten sein. Wir wissen, daß die
Tätowierung; das Vorrecht des Mannes gewesen ist und auch heute ist.
Darum durfte das Weih weder Zizitli noch Tefillin anlcgon; nicht weil
nach der Tradition von Riten, die an eine bestimmte Zeit gebunden
sind, die jüdischen Frauen enthoben sind (mizwöth aszc schehaseman
gerömö misch im petürin), sondern weil diese das einstige Stigma ver¬
tretenden Riten einzig und allein für den Mann gelten. Zur Zeit der
Misehna gab es keine sakrale Tätowierung hei Juden x ); die Tradition
befaßt sich bloß mit der akademischen Erörterung des biblischen Ver¬
botes (Makkoth 111 G).
Doch nun auf das Stigma übergehend, lesen wir in Exodus 13,14—1G:
„Und so wird sein, so dich morgen dein Sohn frag!, wie folgt: was ist das?“
(daß man die Erstgeburt Jahve weiht), „so antworte ihm: Mit der Gewalt seines
Armes hat uns Jahve aus Ägypten, aus dem Hause der Sklaven herausgeführt.
Und es geschah, als der Pharao sich geweigert, uns zu entlassen, da tötete Jahve
alles Erstgeborene im Lande Ägypten von der Erstgeburt des Menschen bis zum
ersten Wurf des Haustieres. Darum opfere ich Jahve alles, was den
Mutterleib eröffnet, doch meinen erstgeborenen Sohn löse ich aus.
Und es sei als Zeichen (nth) auf deiner Hand und als tötäföth auf
deiner Stirne, daß mit der Gewalt seiner Hand uns Jahve aus
Ägypten geführt hat.“
Damit wir über die Bedeutung des Wortes tötäföth nicht itn Un¬
klaren bleiben, nennt es Exodus 13,9 ‘sikkäröu* ( Zeichen der Erinne¬
rung, der Mahnung), sonst aber bleibt es als terminus teelmicus, so
Deuteron. 6,8 und 11,18. Dieses ‘otlf paßte sich den Zeitläuften an,
und was früher sakral gewesen, ward zum bloßen Bilde bei Jesaja 44,5
als Bemalen der Hand für Jahve (seh jichthöb jädö lejahve), und bei
Ezechiel 9,4 soll der Verderber den Frommen und Gottesfürchtigen ein
Hakenkreuz (tliav) auf die Stirne malen. Das ursprüngliche Tätowie¬
rungszeichen an Arm und Stirne der Erstgeborenen verschwand; es
löste die Erstgeborenen die Priesterkaste ab; deren Körper mußte
makellos sein. An Stelle der Tätowierung trat bei dem Vertreter
der ganzen Kaste, beim Hohenpriester, das goldene Stirnblech mit der
Eingravieruug des ‘ködesch lejahve' ( r heilig dem Jahve. Exodus
28,36—38), wie es noch Elasar ben Jösze in Rom gesehen hatte (Sabbat
63b). Im Exil ward das Erinnerungszeichen wieder aufgefrischt, doeli be¬
schränkte es sieh nicht mehr auf die Erstgeborenen, sondern galt für alle
Männer, und zwar unter babylonischem oder parszisehem Einfluß als
Lederkapsel für die Pergamentstreifen, welche die auf otli und tötäföth
beziehenden Bibelstellen enthalten. Das Stigma selbst erhielt sich bloß
in dem vierzinkigen scliin, welches die Tradition bis auf Moses zurück¬
führen möchte (halfjcha le-mösche mi-szinaj), auf der Kapsel der Stirn-
phylakterien (Tefillin schel rösch); ich halte dieses vierzinkige Zeichen
für den verkannten hebräischen (nicht quadratischen) Buchstaben j;
die Abbreviatur von Jahve oder Jah, wie z. B. heute auf Amuletten
der Buchstabe r (Abbreviatur für den Gottesnamen), so auf den im
Jüdischen Museum in Budapest befindlichen silbernen Amuletten
(A TV, 4 n. ö) und denen aus Pergament.
1) Simon ben Juda glaubt, da> Verbot erstrecke sich bloß auf die Tätowierung
des Gottesnamens, und beruft sich auf die synthetisch unrichtig aufgefaßte Stelle in
Leviticus 19. 28 Makkoth 21, a .
Die Gebetstracht bei den .Juden.
IM
Die Karner verwerfen den Brauch der Tefillin, indem sie die Rede¬
wendungen der betreffenden Bibelstellen als bloße Phrasen betrachten.
Die Falascha, die .Inden in Abessvnien, hinwiederum sollen diesen Ritus
darum nicht ausühen, weil sie zur Bemalung des Armes keine wasch¬
echten Farben haben.
Was muß das europäische dudentum erduldet haben, daß es an
diesem, wohl modifizierten, doch dem prophetischen Monotheismus
fernstehenden Ritus festhält!
3. Das \w*iße Gewand (Kittel),
Am Vorabende des Versöhnungstages blicken wir in die Symmo^e
einer konservativen Gemeinde. Der Rabbiner und der Kantor auf der
bima (entspricht dem Altäre in den Kirchen), sowie die meisten Beter
in den Tempelschiffen, stehen in weißen Gewändern und haben das
Haupt mit weißen Leinen- oder Seideinniitzen bedeckt. Rs ist dies ein
unheimliches Bild, wenn wir bedenken, daß dieses weiße Gewand, der
Kittel und die Kittelhaube, das St erbebe wand des Juden ist.
Fnd diese Gebetstracht ist nicht bloß an den Bußtagen, Neujahr und
Versöhn nassfest wie beim Morgen Gottesdienste am Höschana rabba
(siebenter Tag des Lanbhüttenfestes) üblich, wie sdion der jerusalemi-
sche Talmud ansführt: Israel kleidet sich in Weiß und umhüllt sich
mit weißen Gewändern.sie wissen wohl, daß Gott für sie
Wundei* wirkt (jerus. Rusch haseluina 1,3); am ersten Tage des Pesacli
und am achtem Tage des Lanbhüttenfestes kleidet sich der Vorbeter
in jene weißen Gewänder, um das im Vormittagsgebet (müszaf) ein¬
geschaltete Bittgebet um Niederschläge, wie Tan und Regen, im
Büßergewande vorzutragen. An den drei Buße-Feiertagen: Neujahr,
Versöhnungstag' und Höschfinah rabba kleiden sich auch die Fra mm
weiß: heute verdrängt die Mode diesen Ritus, doch noch vor zwanzig
Jahren bedeckte das Haupt eine weiße» oder ginne Haube, vor hundert
Jahren eine ‘silberne* Haube und ein weißes Rmhümgetueh.
Den weißen Kittel hält ein weißleinener Gürtel zusammen: die
Gürtelschnalle ist oft ans Silber, worauf die auf den Versöhnungstag
bezügliche Stelle (Levit. 16,30) eingraviert ist. Das sogenannte ‘Kittel-
haibr faßt eine sclnnah* Silberborte oder ein weißes Seidenband ein.
Dieses weißt* Gewand nannten die Westjuden, wahrscheinlich nach dem
französischen \serge\ im Deutschen als Sersehe auch Sarsche bekannten
Wollenstoff ‘sargen cs', d. h. aus ‘serge* ‘Sarsche' (vgl. Sanders,
Wörterbuch der Deutschen Sprache 1868) verfertigte Kleid, die Ost¬
juden ‘Kittel*. Nach Abraham Berliners Angaben (Ans dem Leben der
deutschen Juden im Mittelalter, Berlin 1900, S. 69) war dieses Gewand
ursprünglich ein Fest Überwurf, welcher das Alltagskleid ganz bedeckte
und jede Werktätigkeit schon dadurch verhinderte, daß der rechte
Ärmel vernäht war. Aus diesem einstigen Festkleide wurde seit dem
13. Jahrhundert das Tot enk leid und erinnerte nun nebst dem
Außergewöhnlichen zur Feier des Tages auch an den Krnst des
Rubens (Berliner, ebendas., S. 170 und Adolf Brüll, Trachten der Juden
im nachbiblischen Altertnme T, Frankfurt a. Main, 1873, S. 16—19).
Später verblaßte das Feiertägliche der Alba; cs wurde ein Bußgewand,
bis cs dei* Chassidismus 1 ) mit seiner Vorliebe für Helles und Lebhaftes
1) Der Chassidi.-mus ist eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts; sein Begründer
bt Israel, bäal sehem tOb aus Podolien. Ks ist ein Aufsehen in Gott und voll-
Kohlbacb:
i„ Ritus und Trm-I.t wiclor zu Kimm ^luacd.t hat »ad die weilet
(iowaudcr, zumal den Kaftan aus wmßor Seide oder aus weißem Atlas,
zur Sabbat- und Feiertag rael.t -e.uaeht bat.
Fs mag wohl stimmen, was Berliner sagt. doeli ich führe den R tu.
,1er weißen Gewänder auf die Bihel zurück. Wohl hielt sich das Juden¬
tum in der Diaspora von Gebrauchen und Emm-Mungo,, zurück, die in,
Tempel zu Jerusalem üblich waren, wie z. B. \ erwemlung von Musik¬
instrumenten in der Synagoge. '»ul da waren <l.c ,
ein wichtiges Requisit des Ilohepnesters (Leviticns Iß, 4; Mi sei, na Jo um
II Mi), doch berichtet schon die älteste Sammlung des l aluiud, de.
Jerusalemische, daß zum Zeichen der Buße und De,uu, Israel weiß
-i,-kleidet erschienen war. Und in dieser 1 rächt bestärkte sie laß
sowohl in römischen Landen wie in den christlichen weiß die 1 aim
der Lauterkeit des Herzens, der Reinheit, Unschuld. Demut und Bü߬
fertigkeit -ewesen ist. Die Juden hielten an der Sitte der weißen
Gewänder fest, und Versöhnungstag wie Tod, beides Befreiung von
Sünden, fanden ihr Symbol in der weißen Karbe ).
4. Die Kopfbedeckung und die Verhüllung des Hauptes.
Mit Ausnahme der sogenannten Reformgemeinden, wie
sie z.
B.
in Berlin. Johannisstr., bestellt, ist die Bedeckung des Hauptes wahuu
des Gottesdienstes allgemein bindend. Es scheint daß in Europa diese
Brauch zuerst in Spanien unter mohammedanischem Einflüsse antkam.
wissen wir doch, daß auch heute die Art und Form der Kopfbedeckung
in islamitischen Ländern, z. B. in der Türkei, eine Etikettefiage bild. t
und der Turban für feierlicher gilt als der Fez.
Aus der ursprünglichen Volkstracht ward später ein allgemeines
Zeremonialgesetz, wenn auch der von den konservaUven Kreisen ( C"
Judentums anerkannte Saloinon Luna (lß. Jahrh.) die Sitte des Kopt-
hedeckens ganz und gar eigentümlich gefunden hatte ). Ua . nn
Okzident diese Tracht ganz unerklärlich war, leitete man sic spater
aus der Kopfbedeckung der Priester her: nnznefeth und migEn, .,
(Exod. 39,28 und Levit. 8,8), was zum Teil auch die rönnseh-katholiselie
Kirelie beibehalten bat 3 ). .. . ,
Eine ganz andere Bewandtnis bat es mit der A erlnillun h des
Hauptes im Ritus. Wir erwähnten schon bei Besprechung des
Tallith, daß die rabbanitisehen konservativen und die sefaredisclieu
kommene, freudige Ergebung in seinen Willen. Es führte dieses Prinzip zu einei
heiteren Lebensanschauung; man liebte das Leben, achtete che Arbeit m ^elchei
Form immer, nährte die Zufriedenheit, Genügsamkeit und Bescheidenheit. Adelte
die Reinheit und Keuschheit von Seele und Körper. Doch war diese Schule und sum
auch heute ihre Anhänger im nordöstlichen Europa bildungsfeindlich. Gegner dei
profanen Wissenschaften und der Philosophie; ihr Studium gilt bloß der Bibel, der
talmudischen und kabbalistischen Literatur. „ K
1) Vgl über weiße Gewänder Joannes Braun, \estitus sacerdotitm Hebiaeoium
(Amsterdam, 1698.) Cap. V1L De p^TC vestibus albis Pontificis maximi. besonders
S 19 °1 und 376; ferner: Franz Bock, Geschichte der liturgischem Gewänder des
Mittelalters (Bonn 1859) S. 329-338 und Abraham Berliners angeführtes W erk.
2) Adolf Briilk Trachten der Juden im nachbibhschen Altertum 1,,10 !• l,ie
Kopfbedeckung beschränkt sich heute im orthodoxen Judentum nicht bloß auf den
Gottesdienst; sie wird ständig getragen und weicht bloß nachts der Schlafniutze. 1 ie
Bequemlichkeit führte zum Tragen von Seiden- und Sammetkappen und Käppchen.
3) Über die Kopfbedeckung vgl. Ismar Ellbogen, Der jüdische Gottesdienst m
seiner Entwicklung, Leipzig 1913 S. 500 f.
Die Gebetstraclit bei den Juden.
•2:5
(spanischen und portugiesischen) .Juden mit dem Tallitli das Haupt
verhüllen, um auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen, daß sie wäh¬
rend des Gebetes sich von der Außenwelt abwendend, ein rein
vergeistigtes, in sieh gekehrtes inneres Leben in Andacht verbringen
(Orach ehajjim § 91,6). Unter dem Tallitli klingen die Stimmen der
Beter gedämpft, sieht der Beter, gewöhnlich der Ost wand der Synagoge
zngekehrt, nichts, was in der Synagoge vorgeht — er verkehrt einzig
und allein mit seinem Gotte; es entsteht in gewissem Sinne ein
‘Enthnsiasmos’, eine Loslösung vom Irdischen, eine Verbindung von
Mensch und Gott.
Diese Auffassung macht sich erst recht geltend, wenn gegen Schluß
des Yersöhnnngstages das Sehlußgebet (Nei’lfdi) rezitiert wird; der
Vorbeter ist in den meisten Gemeinden ob neolog, ob orthodox — der
Rabbi selbst; verhüllten Hauptes, mit dem Gesicht dem geöffneten
Töraschreine zu. verrichtet er das Bußgebet von dem erhebenden Satze:
„I T nd es kommet nach Zion der Erlöser und zu den Reumütigen in
Jakob . . . “ bis zum Vaterunser (Abinu malkenu . . . ) und dem Be¬
kenntnisse: „Jahve ist der Gott“.
Verhüllt ist auch das Haupt des Sclmfnrblösers am Neu jahrstag,
was ich auch in meinem Aufsatze: k Das Widderhorn' (s. oben 26, 124)
erwähnt habe. Und schließlich verhüllen sich die angeblichen Nach¬
kommen Arons, die ‘köhaninf (Priester), das Haupt, wenn sie zum
Schlüsse des Vonnittagsgottesdienstes (müsznf) am Pesacli (Ostern),
Schahnöth (Pfingsten), Sukköth (Laubhüttenfeste), am 9. Tage, dem
\Simehath tliöra* (Freudentag der Thora beim Morgengottesdienste) und
Jomkippur (Versöhnungstag), den großen Segen auf Grund von Numeri
6,22—27 in der Synagoge erteilen.
Im Heiligtnme zu Jerusalem sprachen die Ahroniden täglich zwei-
mal den großen Segen:
,,Es segne dich Jahve und behüte dich! Es lasse dir Jahve sein Antlitz
leuchten und sei dir gnädig!
Es wende dir zu Jahve sein Antlitz und gebe dir Frieden!“
Doch nach der Zerstörung des Tempels auf Moria ward der Prie¬
stersegen in das Achtzehn- Gehet (Tefillah) eingeschaltet und als Remi¬
niszenz vom Vorbeter responsorisch gesprochen (die Gemeinde ruft
nach jedem Absatz: Das walte Gott (ken jehi razön); ausgenommen sind
die oben angeführten Feiertage, an denen der Vorbeter folgende Bene¬
diktion spricht:
„Segne uns Herr und Gott unserer Väter mit dem dreifachen Segen, den
Moses in der Tora niedergeschrieben und der gesprochen wurde von Aron und
seinen Söhnen (laut rufend): den Priestern, deinem dir geweihten Stamme, wie
folgt:“
Die Kobanim (ob Priester ob Laie, gewöhnlich Laien, denn der
Rabbi ist selten ein köhen) stehen heim Aufrufe schon vor dem Thöra-
schreine, verhüllten Hauptes, mit zum Segnen erhobenen Händen 1 ), der
Gemeinde zugewandt und rezitieren laut und vernehmlich:
1) Die Mystik bemächtigte sich der zum Segen erhobenen Hände und der
Hngerstellung; im Ritus herrscht die Kabbala, und so ist die gespreizte Finger¬
stellung Vorschrift; andererseits ist sie das Symbol auf Grabsteinen von köhaniin
(Ahroniden) vgl. Immanuel Lövv, Die Finger in Literatur und Folklore der Juden,
Gedenkbuch zur Erinnerung an David % Kaufmann, herausgegeben von Braun und
Rosenthal, Breslau 1900 S. G8. — Vgl. Orach ehajjim § 125, 12.
"24
Kohlbach:
^Gepriesen seiest du Ewiger unser Gott, Herr der Welt, der uns geweihet
hat durch die Weihe Arons und uns geheißen hat sein Volk Israel in Liebe zu
segnen“.
Und nun folgt der Segen (vgl. Urach ehajjim $ 125,23, 31).
Während des Segens sollen die Köhanim nirgends liinsclinnen und
ihre Gedanken nielit nhlenken, sondern ihre Augen zu Boden senken,
wie beim Gebet. Damit sie selbst die Hände nicht anschanen, mögen
sie sie außerhalb der Verhüllung emporhalten. (Ebendas. 23 und An¬
merkung.) Heute gilt der Kitus, daß auch die Hände unter dem Tallith
verhüllt seien, damit die Beter sich an ihnen nicht vergaffen. Zur
Zeit der Misehna mag auch der Umstand auf die Verhüllung der Hände
mitbestinimend gewesen sein, daß der Koben oft von der Arbeit weg
zum Gottesdienst gekommen ist und den Segen zu erteilen hatte, trotz
der vorgeschrittenen Waschung der Hände vor dem Priestersegen
(dnehan) als Färber, Schmidt, Gerber usw. mit den nicht reinen Händen
die Beter irritiert hätte 1 ).
5. Abstreifen von Leder&amlnleii und Schuhen im Ritus.
Moses wollte an den brennenden Dornbusch herantreten; da hörte
er den Ruf: „Streife ah deine Schuhe von den Füßen, denn
der Boden, auf dem du stehst, ist heiliges Erdreich“ (Exodus 3,5). Als
Josua vor Jericho lagerte, erschien ihm Jahve's Heerführer .... und
es sprach Jahve's Heerführer zu Josua: „Streife ab deine Schuhe von
den Füßen, denn der Boden, auf dem du stehst, ist heilig.“ Und Josua
tat also (Josua 5,15).
Franz Book (Geschichte der liturgischen Gewänder im Mittelalter
S. 327) fiel es auf, daß die Bibel, welche aufs genaueste die sakralen
Gewänder für die Priesterschaft vorschreibt, die Fußbekleidung nicht
erwähnt. Es mag das daran liegen, daß die Priester ihren Dienst
barfuß oder in Socken verrichteten, sehen wir ja auch im Islam, daß
die Moscheen mit Ledersohlen nicht betreten werden dürfen. Exodus
rabba § 2 erwähnt die Sitte während der sakralen Dienstleistungen der
Priester im Tempel zu Jerusalem, und darauf gründet sieh auch der¬
selbe Ritus heim Erteilen des großen Segens durch die Ahroniden
Birchath köhanim oder nesziuth kappäjam oder aber kurz düchan 2 ),
wie dies schon Rabbi Joehanan ben Sakkai (I. Jahrli. n. Cbr.) ange¬
ordnet hatte (Sota 40b und wie er beute im Jndentume fortlebt (Oracli
ehajjim § 128,5).
Allgemein üblich ist die Abstreifung der mit Leder besohlten
Schuhe am Versöhnungstage 3 ) (Misehna Jöma VITT, 1; Urach ehajjim
§ 614,2, 3, 4) und im Trauerritus.
Natürlich haben Trauerriten nichts mit der Heiligkeit des Ortes
zu tun, sondern gehören zum Büßergewand des Mittelalters.
1) Zur Verhüllung des Hauptes bei Gebet und Opfer im Altertum vgl. Samter,
Familienfeste 1901 S. 36 f., zur Verhüllung der Hände Dieterich, Kleine Schriften
S. 440; Bächtold, Schweizer Archiv 20, 6; Fehrle, ebenda S. 120.
2) Düchan ist aramäisch und wird das Emporium, Geuist, sein. Die Erteilung
des Segens vom Emporium aus heißt kurzweg düchan, und als Derivat kennt der
Jargon das Werk: düchenen (den Priestersegen erteilen).
3) Von Kindbetterinnen innerhalb der ersten 30Tage, von Kranken oder in Gegenden,
wo Skorpione oder andere gefährliche Reptilien und Insekten zu fürchten sind,
dürfen lederbesohlte Schuhe getragen werden.
Die Gebetstrachl bei den Juden.
25
Lederbesohlte Fußbekleidung ist untersagt am 9. Ab (Fall Jeru¬
salems) in Synagoge und Hans (Oraeb ebajjim § 514,1(>), in der tiefen
Trauer um nächste Verwandten (sieben Tage sehivah, ebendas. 17
und Jbrf* dea § 17(1,4. § 180,1. § 182,1,2). Schließlich gehört cs zur
Tracht des (beichteten, mit dem Bann Belebten (menuddah; Oraeb
chajjiin § 554,17 und Jure dea § 182, l) 1 2 ).
B u d a p e s t.
Kleine Mitteilungen.
Zum deutschen Volksliede.
(Vgl. oben 28, G5.)
53. Der vom Gatten ertappte Liebhaber.
A. Überlieferter Text.
1. Des morgenn, do der dach annschein,
der wechter der war ff einen steinn
metth kreffthenn vff dem dach.
Der heldt-j der ward entslaffenn,
das freulin ser erschrach:
Wach vff, vnd dais ist dach!
2. Der lielld woll aus dem durenn spranck,
inn weibernn kleder er sich suanck,
er eiilett zum porthenn aus:
Meinn freulin sornett sere,
dais ich mich vorsloffen hann,
ick sold ans fiskenn ghan.
3. Der held woll zu dem dorenn austritt,
einn perth stund, dais war ihm bereitt,
dar auff sais er vnnde sannck:
Godtt geb er ein guden morgenn,
dar zu einen guden dach,
dar ick disse nachtt bi lach!
4. Ynnd dais erhörtt ihr eliche manndt,
wo bald er aus them bedde sprannck,
er eiilett them beide nach
vber eine beide gröne,
dar liannd er dem hehle stann,
der held was woll gedann.
f>. Wo bist thu held so gaar forsagest,
dais thu weibernn kleder antragest?
se aus, then dais ist zeitt,
so darff kein held nichtt zagenn,
dais ick hab geslagenn ein weib:
es kost dich deinen leib.
P>. Niederdeutsch.
1. Des morgens, do de dach anseheen,
de waehter de warp enen steen
inet kreften up den dack.
De heit de was entslapen,
dat vrouken seer verschrack:
‘Wack up, wann vdt is dach!’
2. De heit wol nt der dornse sprank,
in wiwerkleder he sick twank.
he ylet thor porten ut:
‘Myn vrouken tornet sere,
dal ick my verslapen hau;
ick sold ant vischen gan. 1
3. De heit wol tho der doren ut retli,
een peert stund dar vor em beredt,
dar up sat he unnde sank:
*Godt gew er enen guden morgen,
dar tho enen guden dach,
dar ick disse nacht by lach!’
4. Unnde dat erhorde er elike man,
wo bald he ut den bedde sprank,
he ylet den beide na
over ene beide grone,
dar vant he den hehle staen,
de heit was wolgedaen.
5. ‘Wo bistu heit so gar vortzaget,
dat du wiverkleder andragest?
teil ut, wann ydt is tidt!
so en darf nen heit nit sagen,
dat ick hebbe geslaen een wyf:
ydt kost dy dynen ly ff'
1) Über sakrale Barftißigkeit im A. T. vgl. auch W. Dittmar, Ztsclir. f. neulesl.
Wissenseh. 9,344; über den gleichen Gebrauch im Altertum Dieterich. Muiter Eide“
S. 81; PeiKiuitt, De Didonis Vergilianae exitu. Diss. Königsb. 1910 S. 52 f.; Boehm,
De symbolis Pythagoreis 1905 p. 8. Den griechischen Gebrauch leitet aus dein Orient
her E. Aßmann, Philologus 57. 182...
2) Heidt bedeutet hier oftenbar Pvitter. Junker.
Holte:
H()
A. Überlieferter Text.
G. Dais freulinn ann der zinnenn stunnd
vnnd ersach .sich zum finnsternn aus,
ersach sich sue holde slann,
der eine waar ihr bolle,
der ander ilir eliclie mand:
God help meine bulle daar fann!
7. Der lielld woll zu dein dorenn inn tritt,
dais freulein ihm enttiegen geit:
Ihr zeitt mich wollkommen, mein leiber
[mand,
ihr zeitt mich dremall leber,
fill leber then mein egen leib.
Dais loch tau falskes weib.
8. Förhinn hab ich dir also leib vnd er,
der lield woll bii dir sliff,
nu binn ick dir wordenn gram.
Dais bin ick euch wider vinme,
wais geuintt ihr dennes dar ann?
den schadenn mois ihr hann.
Finis.
H. Niederdeutsch.
G. Dat vrouken an der tynnen stund
unnde ersach sick tom finster ut,
ydt sach sick twe beide slaen;
de ene was er bole,
de ander er elicke man:
‘Got, lielp minen bolen darvanf
7. De man wol tho der doren yntraet,
dat vrouken eme entyegen gaet:
‘Syt my willkomen, myn le\e man,
gy synt my dremal lever,
vel lever dann myn egen lyftV
‘Dat luchstu, valsche wyff.
8. Vortruwet hebb ik dy eer unde ly ff;
men do de heit wol by dy sleep,
nu bin ick dy worden gram’.
‘Dat bin ick ymv wedder umme,
wat gewinne gy dankes daran?
den schaden mote gy han.‘
Längst hat man bemerkt, daß die deutsche Volksdichtung in den Tageliedern,
ileren Geschichte trotz W. de Gruyters lleißiger und nützlicher Matenalsammlung
(Diss. Leipzig 1887) noch nicht geschrieben ist, aus dem höfischen Minnesänge
eine fiktive, der Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit widersprechende Situation
entlehnt hat, die freilich der Phantasie eine slarke Anregung gab. Denn der Wächter,
der geschworene Diener des betrogenen Gatten, gebärdet sich hier als der Vertraute
des Liebespaares, und sein Hornruf oder Gesang, der nur die beiden Liebenden
warnen soll, muß doch zugleich die andern ßurgbewohner erwecken und jene ge¬
fährden. Solche realistischen Bedenken mochten dem Dichter einer niederländischen
Ballade ‘Der Herr und der Friese’ (Hoffmann von Fallersleben Nr. 3G. 37; F. van
Duyse Nr. 33) aufgestiegen sein; denn bei ihm vermag der durch den Wächter¬
ruf aufgescheuchte Buhler nicht mehr unbemerkt zu entweichen; die Edelfrau zieht
ihm Frauenkleider an 1 ); so verkleidet gebietet er, als ob er die Flausfrau wäre,
der Magd, die Pforte aufzuschließen, findet draußen sein Grauroß unter der Linde
angebunden und reitet von dannen. Da begegnet ihm der Edelmann und stellt
ihn, wie er die Kleider seiner Frau erkennt, zur Hede. Es kommt zum Zweikampf,
und der Friese fällt. Der Ehemann reitet heim und pocht an die Kammertür:
*Steh auf, Liebste; der Friese ist da.’ Im Hemd schließt die Frau ihm auf und
vernimmt erschreckt die Frage; ‘Wo sind deine Kleider?’ — ‘Warte doch bis
morgen!’ — ‘Hier sind deine Kleider, tot ist der Friese.’ — ‘Ist er tot, so will ich
mit ihm sterben und Maria bitten, daß sie uns zusammenführe.’ 2 ) — ‘Frau, einst
hatte ich dich lieb, jetzt bin ich dir gram.’ Trotzig erwidert sie: ‘Das bin ich dir
auch; wer hat nun den größten Schaden?’
Dieser ndl. Ballade vermag ich das niederdeutsche oben abgedruckte Lied zur
•Seite zu stellen, das mir in einer Kopenhagener Handschrift von 1570 aufstieß. 3 )
Hier ist der realistische Zug noch deutlicher ausgeprägt. Die Warnung des Wächters
erfolgt nicht durch ein Lied, sondern durch einen aufs Dach geworfenen Stein.
Der Ehemann begegnet dem Buhler nicht zufällig, sondern eilt ihm nach, als er
seinen Abschiedsgruß hört. Der Ausgang des Zweikampfes wird im Dunklen ge¬
lassen, und durch solche Ausschaltung der Tragik wirkt die folgende Auseinander¬
setzung des Ehepaares unerfreulich. — Diese Fassung war in holsteinischen Adels-
1) Auch in einem wendischen Volksliede (Haupt-Schmaler 1, 144 Nr. 120) ver¬
kleidet ein Mädchen ihren Liebsten auf der Schwester Rat als Frau und schickt ihn
mit zwei Krügen aus, Wasser zu holen; aber die Wäscherinnen gewahren die Sporen
und das Schwert.
2) Ähnlich schließt die dänische Ballade ‘Elsker draebt af Broder’ (Grundtvig
Nr. 303).
3) Langebeks Kwarthaandskrift (Ny kong. Saml. 4°, S1G) Nr. 119: vgl. S. Grundtvig,
Preve paa en ny Udgave af DgF. 1847 S. 42,5.
Kleine Mitteilungen.
kreisen verbreitet; doch der Schreiber des Liedcrbucnes mischt niederdeutsche,
niederrheinisehe, hochdeutsche und dänische Sprachformen durcheinander. Daher
versuchte ich eine Herstellung in niederdeutscher Mundart. Die Strophenform weicht
von der fünfzeiligen der niederländischen Ballade ab.
54. Ein Tagelied aus dem 15. Jahrhundert.
1. Der wechter der ryp an den dach
an eenre tynnen, dar he lach:
‘Xv stant vpp, jungelyng, dat is tyt!
dar hertelyff by den anderen lyt 1 ,
de scheyden svek balde!
dat daget vast vor genen gronen walde.
2. ‘Vrouwe nachtigael sanek vten thuen,
als se har vormals haet gedaen,
dar by spuer ick des dages schyn.
wol vpp, es mach nicht anders syn!
dat daget vast.
ick lact dy weder romve noch rast’.
3. Der wachter vermaenden se also dyp,
der jungeling der lach vnde slyp.
he horde des wechterss groesse klaget
an lenes armen, dar he lach
vmfangen schoen.
he sprack: ‘Schone vrouwe, wo sal cs my noch gaen!
4. ‘Den dach ich an den wechter spuer.
och schone vrouwe, des clage ick dy,
so is et my een harde buet,
dat ick myck von dy scheyden muet,
den herten myn,
ich en mach nicht lenger by dy syn.’
5. He swanck se frentlick an syn brust,
he leueden na synes herten lu>t-
myt wytten ermen vmfangen schoen:
•Schone frouwe, du salt dyn truren laen,
la dy wol syn!
der dach brenget vns in stieren pyne
G. De twe scheyden syck in korter wyle,
de dach de quam myt sneller yle
gedrongen durch de wölken starck.
•Wol vpp, wol vpp, all vpp de vart!
ick muet dar von;
schone frouwe, d[u sal]t dyn truren laen.’
7. ‘Nu hoer, du knaep, wat iek dy sage!
dat is nicht all de lichter dach,
de maen schyent durch de lichten sterne,
de wechter bedroge vns all so gerne,
dat sage ick dy,
de mydder nacht is noch nicht hyr/
8. De knaep de frouden syck der wort,
he sprack: ‘Myn vterwelder hört, 3 )
du haes verfrouwet dat herte myn,
verswonden synt my all myn pyne.'
sprack syck der knaepp,
‘dat ick neen letters vpp erden en haue.'
ln hochdeutscher Fassung überliefern uns eine ganze Keihe von Handschriften
und Drucken des 16. Jahrhunderts die Ballade: ‘Der Wächter der blies an den
4 a" auf hoher Zinnen, dar er lag’: Ambraser Liederbuch 1582, nr. 15.>; Erk-Roh nie
tu*. 799; Kopp, Euphorion 9, *285; Archiv 111, 258; Heidelberger Hs. Pal. 343 nr. 108;
Nd. Jahrb. 26, 3S. Niederländisch: F. van Duyse nr. 75; E. MincoIT-Marnage, Souter-
1) lyggen (in der Hs.';. — 2 lost. — 5) ort.
Kolte:
28
liedekens 19*22 nr.33. — Älter ist die obige west-westfälische Fassungaus dem 15.Jahr¬
hundert. die ein zierlich geschriebenes Einzelblatt der Berliner Staatsbibliothek, das
vor wenigen .Jahren erworbene Ms. germ. qu. 167, enthalt Sie besteht aus acht
Strophen, während die jüngeren Versionen auf 7, 6 oder 5 Strophen (z. T. neue
Zusätze) zusammengeschrumpft sind, hie ursprüngliche Reihenfolge ist vielleicht
gestört; mir scheint, daß Str. 5—G an den Schluß hinter Str. 7 — ö gehören. Auf
eine hochdeutsche Vorlage scheinen Formen wie der (1,1. 3,1.2. 5, G. ö, 5.) statt
de, es (2,4. 3,2 G.) statt et, groesse klaget (3,3) statt grote klacht, ich (4,1.6.)
statt ick hinzudeuten. Niederrheinisch und mittelfränkisch ist, worauf mich
W. Seelmann aufmerksam macht, das n in vermaenden (3,1), leueden (5,2) v
frouden (8, 1).
55. Lied eines deutschen Landsknechts im schwedischen Feldzuge
von 1611.
1. Landsknechtleben hat Got gegeben.
All. die nach Ehren streben,
Den will Gott geben viel Heyl und Glück *),
Er wil sie bewaren für deß Feindes Tük.
Falla. falladrida.
2 Ich hab mir ein feins Mägdelein außerwehltt,
Sie schwebtt daher in weittem Feldt,
Derselbigen hab ich geschworen ein Eydt,
Bey ihr zu lassen all Ehr und Trew.
2». Als mir die Jungfraw ward fürgesteltt,
Davon ich in allen Dingen vermeldtt,
Derselbigen wil ich wohnen bey,
Mein junges Leben lassen frey.
4. Soldaten seyn alle Ehren wertt
Bey Fürsten vnd Herren hocbgeehrtt;
Vnd wen ich kein Soldatt soltte 2 ) seyn,
So woltt ich verreden den besten Wein.
5. Soldaten seyn aller Ehren wertt,
Drum 3 ) hatt vns König Carl vorelntt
Von Gold ein schöne Krone gutt.
Die auff tausentt Fendiein schweben thutt.
G. Was meinst, was ein junger Soldat muß haben?
Ein Hur, ein Hund, ein jungen Knaben,
Ein Korbelein in ihr rechten Hand,
Damitt wir ziehen aus Dennemarck.
7. Wer ist, der vns diß Lied erdacht?
Das haben sie auff einer Schiitwacht gemacht
Von wegen aller Soldatten gutt,
Die da wagen ihrn Leib vnd Blutt.
Falla, falladrida.
Treuherzig, obschon etwas unbeholfen, versichert der ehrliebende Landsknecht
(Str. 2—3) seine Anhänglichkeit an die auserwählte Jungfrau, d. h. die Fahne 4 ), die
König Karl mit den drei Kronen des schwedischen Wappens geschmückt hat und
nach Dänemark führen will (Str. 5 — G). Es kann sich also nur um den Heereszug
handeln, den König Karl IX. 1611 kurz vor seinem Tode gegen Dänemark unter¬
nahm. Für die militärischen Gepflogenheiten der Zeit bezeichnend ist Str. 6, nach
der jeder Landsknecht für seine persönliche Bequemlichkeit eine Dirne, einen
Burschen und einen Hund mit sich führte. Dafür zeugen auch Bilder des D). Jahr¬
hunderts bei G.JAebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit 1699 S. 24. 47.
70 und Diederichs, Deutsches Leben in der Vergangenheit 1, 255. Ferner Erk-
Bohme nr. 1290: ‘Der in den Krieg will ziehen, der soll gerüstet sein. Was soll
Die Hs. hat: 1) Glück vnd Heyl! — 2) woltte — 3 N Das
4) Ebenso heißt es im preußischen Husarenliede von 17f>S: ‘Wir haben ein Bräut-
lein uns auserwählt, das lebet und schwebet ins weite Feld; das Bräutlein, das wird
die Standarte genannt, das ist uns Husaren gar wohl bekannt“ (Erk-Böhme nr. 1317, 3)..
Kleine Mitteilungen.
29
er mit ihm führen? Ein schönes Fniuwelein, ein langen Spieß, ein kurzen Degen.*
— Überliefert ist das Lied im Kopenha^ener Mscr. Thott 77-S fol., Bl. '24b. Dies
Liederbuch ist für die dänische Edelfrau Vibeke Bild angelegt, die 1613 mit Erik
Rantzow auf Gjersingholm (15S5— 1027) vermählt ward und Diät) starb. Vgl.
Grundtvig. Prove 1847 S. Ö.) und Thisted og Hjort-Lorenzen, Danniarks Adels
Ar bog ls'.M).
50. Soldatenlied aus dem 17. Jahrhundert.
Im tlion: Lat vnß gan sitten neder im grüne loff bey die fontain.
1. Ihr Tcützschen gut, wo ist der rnuth.
Wo ist das hcrtz?
Ach edles blut, halt dich in hut
Vnd treib kein sehertz!
List wird erdacht mit trembder macht,
Deiner Freiheit man ietzt nachtracht.
2. Die* hoheit war bei dier viel jhar
Alit großem rühm.
Wiltu sie gar laßen in gfalir,
Nit kempfen drumb,
So folgt dier nach ein schwere plag,
Ein frembdes joch, als ich sorg trag.
• ». Allein mißfeldt, das ist die weldt
Also verbiendt,
Das spanisch geldt viel zuerück heit,
Die Fürsten trent.
Mitt spot vnd hohn kriegen >ie dauon
Ein schnöde dienstbarkeit zu lohn.
4 Wolauff, wolauff vnndt kombt zue hau ff!
Eß gildt euer schantz.
Schlagt dapffer drauff vnndt hört nit auff,
Weil werdt der tantz,
Biß euch zuletzt würdig geschetzt
Victoria den crantz aufsetzt!
ö. Der trommel schall, trommeten hall
Last hören frey,
Mußqueten knall, cartaunen brall
Sey auch darbey,
Huckt in das feldt, schlagt auff die zeit
Vnd alles ordentlich besteldt!
0. Vnndt so da wehr, daß beyde beer
Treffen zuehautf,
So brauch dein gewehr vndt such dein ehr!
Ja ja frisch auff,
Es sey gewagt frisch vnuerzagt!
Wer weis, wer den andern iagt.
7. Reutter geehrt vnndt wohl bewehrt.
Munter vffpast
Hant an die pfordt, pistoln vndt schwerdt
Ergläntzen last!
Den feindt ansprengt, sein ordtnung trent,
Wordurch man dapferkeit erkent!
8. Fußvolck auch frev mit puluer vndt bley
Drein blitze recht,
Brech biquen entzwey vnndt halt sein rey.
Sein lob erfocht.
Es ist die sterck bey den kriegswerck
Muß stehen fest, alß ich verraerck.
*J. Die groben stuck brauchen ihr tue k,
Erdonnern im rauch.
Hatt wohl geliickt wens gieht viel stück,
Bericht ich auch.
Das ist das spiel; wer* halten wiel,
Muß haben rohter pfennig viel.
Bolte:
30
10. Der feindt stellt noch; da schnarch vndt poch,
Snn<t nimmermehr!
Da mach dich hoch vndt es auch koch,
Dein ist die ehr.
Eß Dt die stundt ein guter fundt,
Da du erkenst das hertz, den mundt.
11. Vff solcher fahr vnwandellbalir
Sey dier der miith,
Sa* wirdt kein gfahr dich stürtzen gar,
Nur wohlgemuth.
Denn iederzeit sein die kriegsleuth
Des gliieks vndt vnglticks lehnleuth.
1*2. Vndt so da wehr, das vngltick schwer
Breche herein,
Redenek dein ehr, dier ret [?] nit mehr,
Vndt sprich in gtnein:
Ach, wie so offt , kömbt vnuerhofft,
Dem bliith das glück, der darauff hofft.
13. Darumb gemach wenn guete sach
Bißweiln leidt noth.
Eß kombt die rach, eß lebet noch
Der teutzsche Gott
Rundt ist das glück, es hatt sein tück,
Heut gelits vor sich, morgen zuerück.
14. Ein freyer muth, das höchste gut,
Das ist der lohn,
Der da sein bluth auffsetzen thut,
Erwirbt die cron;
Weill seine handt streit wohlbekandt
Vor Gott vndt vor das Vatterlandt.
Aus dem Coburger Archiv mitgeteilt durch Herrn Seminardirektor Dr. Conrad
Höf er in Eisenach.
57. Georg Greflingers Gesprächlied von Karl 1. und Cronnvell
(1049;.
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2. Ein Bößwicht, der sein Hertz auf Mord und Todschlag setzt,
Helts gleich, in wessen Blut er seine Füsse netzt,
Da wird kein Mensch von ihm, noch Herr, noch Knecht geschätzt.
— Was schnarchet, monarehet, was schmähtet ihr viel,
Ein König muß leben, wie Engeland will,
Wir geben dem Könige Schraneken und Ziel.
1.1 Ey Cromwel zäume dich — 1,4 Was Himmel, was Hölle, was Könige was
Knecht? — 1,5 ich gebe das Recht — 2,2 Fäuste — 2,4 schmähet — *2,5 wie.
Olivier - 2, f> Ich gebe den Königen —
Kleine Mitteilungen.
31
0
3. Wo ist ein Obrigkeit, die nicht vom Himmel rührt.
Die ihren Seepter nicht durch GOTTES Gnade führt,
Die nicht als Voigt von Gott in dieser Welt regiert?
— Was achten wir Englischen Himmel und Sclirifft,
Wir haben uns selber Gesetze gestifft,
Ynd treffen den König, der solche nicht trifft.
4. Ach bey des Pöbels Macht und ungestümen Streit,
Da leiden, leyder, GOTT und auch die Obrigkeit,
Da werden solchem Schwarm Altar und Krön zur Beut.
— Was Pöbel, gantz Engeland ruffet gemein,
.Justitia setzet uns rechtes Recht ein;
Wie lange soll Engeland Rechtes loß seyn!
5. Was hab ich denn gethan, daß ihr mich so behast?
Gibt meine Krone denn so überschwere Last ?
Hab ich mich einges Guts zu hefftig angemasst?
— Was düneket euch, Stuart, iiinb euere Sach?
Ihr hanget der Püpstischen Finsterntiß nach,
Vnd lebet in arger Tyrannen Gelacli.
0. Diß ist des Teuffels Ehr, wenn er ein A uff rühr stifft,
So ist Religio der Zucker iimb den Gifft.
Ach GOtt, daß mich die Schmach der Tyranney betrifft!
— Ich ruffe mit unserem Lande gemein,
Man stelle die Wehlung vom Könige ein,
Wir wollen ein freye Respublica seyn.
7. Hollandisiret ihr, so ists mit mir gethan,
Ich nelim es als ein Creutz von GOtt geduldig an,
Vnd hoff ein bessre Krön in dem gestirnten Plan.
— Ihr möget wol König im Himmelreich seyn,
In Engeland herrschet ihr weiter nicht, nein,
Da schicket euch, Stuart, geduldig darein!
S. Ihr suchet meinen Tod, wolan ich bin bereit,
Was kan ich Mensch allein bey eurer Grausamkeit,
Was hilfft es, daß ein Lamb ins Wolffes Rachen schreyt!
— Zum Tode, zum Tode, was warten wir viel,
Ihr müsset itzt fahren, wie Engeland will,
Ihr habet verlohren, wir haben das Spiel.
9. Hier geht Gewalt vor Recht, GOTT räche diese f Ihat,
Es räche diese That, der Königs Titel hat,
Sonst wackelt ihre Krön und ihre Majestät.
— Trotz allen, die Engeland feindlich beziehn,
Wir werden von allen vier Theilen nicht fliehn,
Wir haben uns wenig vor Feinden zu mühn.
10. Ihr trotzet GOTT, und wollt als ein verwegner Hauff,
Wolan ich gehe nun und ende meinen Lauft',
O HERR nimm meine Seel hin in den Himmel nauff!
— Da zappelt der König, hie stehet der Held,
Der seinen Feind endlich zum Tode gefällt,
ist sicher, und giebt sieh mit Freuden ins Feld.
11. Fahr wol mein Reich und Volek, fahr wol mein Ehgemahl,
Ihr meine Kinder Ihr, fahr wol du süsse Zahl,
Ich küß euch durch die Lufft noch mehr als tausendmal.
— Hie folget der König des Dieners Gebot,
Sein Sterben mein Leben, sein Leben mein Todt:
Nun Stuart enthalset, hat Fairfax nicht Xotli.
3, 4 Was achtet der Marspiter — 3,.") Ich habe mir — 3, 0 Und treffe — 4, 4 Was
PöfelV auch Grosse die rnffen — 4,5 Justici, stellt unsre Bedrückungen ein — 4, ß
Rechteloß — 5, 3 eures Guts zu mächtig — 5, G im argen — G, 1 Ehr] Art — 0, 2
das Gifft — G, 4 mit meinen Soldaten — G, 5 von Königen. — 7,1 Seyt ihr also
gesinnt — S, 5 Engeland] Olivier — S, G ich habe — 9, 3 seine Krön und seine M.
9, 4 Oliviern feindlich beziehen — 9, 5 fliehen — 9, G mühen — 10, 1 wollt] A\ eit
10, 3 Seel in deinen Himmel anff— 10, 1 -G folgt erst hinter 11.3 -10,5 Verfolger
dem Tode gesellt — 10, G und siehet mit — 11, 4 Hier folgte — II, G 1 airfax] t rorm\el.
Holte:
82
Dieser Dialog zwischen dem englischen König Karl 1 und dein General der
independenten-Armee Sir Thomas Fairfax ist bald nach der am 30. Januar 1G4D
erfolgten Enthauptung des Königs geschrieben; doch setzt er fälschlich voraus, daß
Fairfax, der im November 1G48 den König gefangen hatte nach Hurst Castle führen
lassen, auch bei der Verurteilung desselben die entscheidende Holle gespielt habe.
In Wirklichkeit aber nahm Fairfax an dem am 8. Januar zusammengetretenen Ge¬
richtshöfe nicht teil, sondern Oliver CromweH war hier die treibende Kraft. Aus
diesem Grunde hat der Verfasser in einer späteren Auflage, deren Abweichungen
in den Fußnoten verzeichnet sind, den Namen Cromwells für Fairfax eingesetzt. 1 )
Die erste Gestalt (A) des Gesprächliedes samt der Melodie war in einem ver¬
schollenen Flugblatte enthalten, das der Brlziger Pfarrer Heinrich Sebald in seinem
Breviarium historieum (Wittenberg 1GÖ5, S. 4GG) abgedruckt hat. Auch der Leipziger
Student Christian Clodius hat sie seiner 1GG9 angelegten Liedersammlung (Berlin
Mscr. germ. oct. 23 1. S. *2, nr. 27) samt der zweistimmigenMelodie einverleibt; vgl.
Niessen. Vjschr. f. Musikwissensch. 7, G44, und dazu S. 618. Den Namen des
Dichters hatte jenes Flugblatt nicht genannt; daß es der in Hamburg als Notar an¬
sässige Georg Greflinger aus Regensbnrg-) war, ergibt sich aus dessen ‘Celado-
nischer Musa’ Hamburg 1663 Bl. G4b: X, 4), wo der Dialog wiederum erscheint,
aber für Fairfax die Person Cromwells eingesetzt ist. Die sonstigen Abweichungen
dieser zweiten Fassung (B) sind unbedeutend; ich habe sie unter dem Texte Sebalds
verzeichnet. Schon vorher muß Greflinger diese neue Fassung B als Flugblatt
veröffentlicht haben; eine Abschrift davon fand F. W. v. Ditfurth und druckte sie
in seinen Volks- und Gesellsehaftsliedern des 17. und l<s. Jahrh 1872 nr. 77, mit
der Melodie ab, ohne sie in den Historischen Volksliedern von H 48—1756 (1 <577)
nr. G. Sie beginnt: ’O CromweH, schäme dich’ und enthält 22 Halbstmphen. Ge¬
kürzt ist der Text in einem Flugblätter ‘Königlicher Diseurs vnd Gespräch zwischen
Ihr. Kön. Majest Carol Stuart vnd Herrn Proteetoren CromweH in Engelland . . . .
Von newem Gedruckt' (4 Bl. 8°, Berlin Ye 7171). Der Text ‘Ach Cromwel, schäme
dich’ enthält 18 Halbstrophen. da die Str. 4 und 8 von A ausgelassen sind, und
einige Abweichungen; die Melodie fehlt.
Das Versmaß der Weehselreden, Alexandriner und Daktylen mit Auftakt, hat
Greflinger dem sanften Charakter des Königs und dem stürmischen seines Gegners
entsprechend gewählt. Ob die Melodie, die uns in drei Aufzeichnungen vor¬
liegt, erst für sein Gedicht von einem Hamburger Komponisten geschaffen wurde,
wissen wir nicht. Für ihre Beliebtheit spricht ihre Verwendung in einem latei¬
nischen Dialog über Manlius Torquatus: ‘Eheu clementiae, ah parce floseulo’ (bei
Ditfurth) und in zwei geistlichen Kontrafakturen: 4 Zwey schöne neue Geistliche
Gesang Gespräehsweiß vorgestellt, zwischen Christo vnd Juda Das Erste: Ach
Judas schäme dich, du bist mein Creatur, will dann verrathen etc. Das Ander:
Ach Judas bsinne dich, was wirst du fangen an, der Teuffel setzt an dich, etc.
Bevd im Thon: Ey Cronwell schäme dich. Augspurg zu finden bey Marx Anthoni
Hannas seel. Erben.’ (4 Bl. 8°. Berlin, Hymn. 10982). Auch der Anfang eines 1681
verfaßten historischen Liedes: 'Pfui, Straßburg, schäme dich’ bei Ditfurth 1872
nr. 83 = 1877 nr. 27 verrät den Einfluß von Greflingers Gedicht.
58. Ein schön neu Lied vom izigen Zustand des Königreichs Pohlen.
Im Thon; Laß den Doctor sauer
1. Ritornello.
Wir Soldaten sind vergnügt.
Ob wir gleich nicht schmau>en;
Den wer hier in Pohlen ligt,
Kan doch leicht verlausen.
So viel tausend Liius und Flöh
Alß wie Tropffen in der See
Findestu im wüsten, wilden Pohlen.
Wers nicht glaubt, reiß hin: er xvird
sie hohlen.
sehen, den geöhrten Schwaager.
2. Ritornello.
Höffligkeit ligt in dem Koth
Bey so thummen Leuthen.
Nichts als Flegel trägt das Land,
Die Schindmehren reuten.
Sarras, Sarras, schreit der Schelm,
Trügt im Maul doch Schild und Helm,
Schindet doch die umgelallne Pferde
Und führt über uns noch groß Be¬
schwerde.
1) Auch Grypliius arbeitete seine Tragödie Carolus Stuardus (1G50) auf Grund
neuer Quellen völlig um.
2; Vgl. W. v. Oettingen, Über G. Cxreflinger 1882 S. 21. — 1653 spricht Greflinger
von CromweH als von 'König Olivier’ (Bolte, Anz. f. dt. Altert. 13, 105).
Kleine Mitteilungen.
33
Z. Iiitornello.
Es ist nichts zu freßen dar
Alß nur Heydegriize.
I)a> frist diese Flegelschaar,
Das Hier ist gar nichts nüze.
Rrodt, Fleisch, Metli und Brandtewein
Muß alliier waß Nobles sein.
Unter Schweinen, Kälbern, Ochsen,
Ziegen
Findet man die groben Pengel liegen.
4. Ritornello.
Wilt du wißen, waß ich weiß
Von dem Frauenzimmer?
Gehle Faibe Ut ihr ITciß,
Anders findstus nimmer.
Weiber. Jungfern jung und alt
Sind wie Affen von Gestalt,
Und die Mütter wie die Feuereßen,
So das Kehren lange Zeit vergeben.
Ritornello.
Ihre Hauser sehen auß
Wie die Schwalbennester,
Stincken wie ein Abtrittshauß,
Sind wie wüste Klöster.
Dreck ist auff den Gaben viel,
Und wer dar durchreiten wil,
Muß in lauter Lebenssorgen stehen,
Das nicht bevde Roß und Mann zu
Grunde gehen.
6. Ritornello.
Die Konfuse Nation
Nehert sich nicht rauben *),
Dann die Tugend, Kation
Und die Treu und Glauben
Ist bev iiinen unbekandt.
Dahingegen Laster, behänd
Sarnbt der Ungerechtigkeit und Sunden
Sind bey ihnen fudervoll zu finden.
Berliner Ms. germ. qu. H>75.
7. Ritornello.
Wann sie heute sauffeii praw,
Wolln sie d Säbel strecken:
Morgen sind sie wie ein Schaff,
Laßen sie bald stecken.
Dreißig, vierzig lauffen nauß,
Ziehn (loch keinen Säbel auß.
Prahlen, wie sie sich so praw geschlagen.
Da sie doch wie Schorcken sich vertragen.
Aus dem IS. Jahrhundert.
1) Lies: Nähret sich mit Rauben.
53. Der stolze
1. Kan ns wohl was Schönres geben
Als wie ein Schwalangscher? Vallera.
Den Säbel an der Seiten,
Den Federbusch von Haar,
Ein schwarzbrann Roß zu reiten,
Ob wohl was Schönres war? Vallera.
*2. Des Morgens um halb Achte
Sitzt Mann und Roß zu Pferd 1 ).
Spazieren wird geritten,
Trompeter reit‘t voran,
Die Fahnen in der Mitten,
Und hinten [?] Flügelmann.
2. Wir reiten durch die Straßen,
Das Pflaster mag krepiern.
Mein Schatz der guckt am Fenster.
Sieht nacli dem Schwalangscher
Und denkt: ‘Ach Allerschönster,
Daß ich dein Rößlein wär!\
Aus einer Handschrift des hessischen Voll
_ mitgeteilt durch J.
Clievauxleger.
4. Wir reiten auf die Wiesen,
Da wird manöveriert.
Der Hauptmann kommt geritten*;
Die ganze Front hinan,
Und dann fängt an zu schwenken
Die ganze Eskadron.
5. Drum kanns was Schönres geben
Als wie ein Schwalangseher?
Und auf der Wachtparade
Da glänzt er wie die Sonn,
Und auf der Promenade
Sieht man von weit ihn schon.
(i. Vom Fuhrwesen gar keiner,
Viel wen'ger ein Husar,
Kein Grenadier, kein Jäger
Und auch kein Gardedukorps
Soll mir dein Herzlein stehlen:
Da steh ich dir davor,
sliedersammlers F. L. Mittler y 1S33) S. 150
Lewalter in Cassel.
1 Lie> Ist Mann und Roß bereit — 2 lies: kommt und sprenget.
ßO. Er bleibt spröde.
Um lßOO.)
1. Ein meidlein hat mich lieb vnd werdt,
Ach gott, was zeit sie sich!
Furwar ir grosse lieb vndt gunst
Ist gantz vnd gar bey mir vmbsonst,
Wiewol sie reiihet mich.
Zeitschr. d. Vereias f. Volkskunde. 1925.
2. Ihre lieb hat sie gegründet [schlecht]
Gebauet auf ein eiß,
Darüber sie zu Boden gehet.
Die lieb die lenge nicht bestehet,
Mit schaden wirdt sie weis.
3
34
Bolte:
3. Mein hcrtz war Herder dan ein stein,
Kein lieb hat bev mir stadt,
Darumb mag sie wol abelahn
Ynd einem andern lieber han,
Der «ie viel lieber hatt.
1. Liep haben stehet einem jedem frey.
Mag lieben, wehm er will.
Ein wenig lieb het ich sie woll.
Das ich sie aber nehmen soll,
Daßelbe wehr mihr viel zu viel.
Folioblatt im Cnbnrger Archiv, überschrieben: ‘Ein Liedt.*
Mitgeteilt durch Herrn Dr. C. Hofer in Eisenach.
bl. Ein Kuß ist frei.
Hey dem Brunnen Durst zu leiden
Hat 1 ) der Himmel nicht begehrt,
Fnd ich wäre Straffens werth,
Wen ich solte durstig scheiden.
Drum, mein Engel, sey geküst.
Weil es mir unmöglich ist.
Aus einem Liederbuche des 18. Jh^. ^Kopenhagen, Ms. Thott 1102 in 4 U ) Nr. 23.
1 Ist in der Hs.
62. Schweigen und hoffen.
1. Schweigen und im Hertzen denken
Giebet keinen Argwohn nicht.
Sich zur stillen Hoffnung lenken
Ist die beste Zuversicht.
2. Schweigen und im Hertzen lieben
Gibt nur unerhörten Schmertz
Brennen und sich nicht betrüben
Fordert wohl ein Marmorhertz.
o. Lieben und verschwiegen bleiben
Macht die Hertzen unterthan,
Demuth in die Augen treiben
Zeiget einem recht die Bahn.
4. Drum.meinHertz, so bleib verschwiegen,
Nim die Liebe wohl in Acht!
Laß davon kein Wörtgen fliegen,
Waß zuvor nicht woll bedacht!
5. So werd ich doch bald erfahren.
Wie mein Liebeshändel stehn,
Ob ich auch darff offenbahren,
Wohin meine Seufftzer gehn.
Aus derselben Handschrift Nr. 72.
63. Ich bin der Herr vom Haus.
1. Ich hab a Weib, des is a Freid,
Ist grad von rechtem Schlag:
Doch weils so frisch und sauber ist,
Drum gib ich halt [ihr] nach.
Vertragt sichs nicht nach meiner Ehr,
So sag ich: Wird nix draus.
Denn ich bin standhaft wie a Fels,
Bin doch der Herr vom Haus.
2. Nur das ist ärgerlich für mich,
Wenn ich sie bitten muß;
Und wenn ich will ins Wirtshaus gehn,
So krieg ich gleich Verdruß.
Wenn sie dann sagt: ‘Heut leid ichs nicht,
Heut geh ich selber aus,'
Dann bleib ich halt und les a Buch,
Bin doch der Herr vom Haus.
3. Oft schaffts mich selber ab und sagt:
‘Da hast zwei Sechserl mit.
Ich bitt dich, komm nur auf die Nacht,
Ich krieg noch heut Yisit.’
Da denk ich halt: Was soll ich tun?
Ich denk: Jetzt gehst halt aus;
Es ist ja besser, wenn ich folgen tu,
Bin doch der Herr vom Haus.
Kleine Mitteilungen.
35
4. Kaum war ieli draus, da hab ich dacht
Alb lauter Eifersucht,
Wer die Visite bei ihr macht,
Und hab das ganze Haus rum >ucht.
J)es Abends steh ich vor der Tür,
Da huscht der Bursch heraus,
Er lacht mich schelmisch an und spricht:
‘Sein Sies der Herr vom Haus?*
f>. Das war a bissl zu arg für mich.
Da riß mir die Geduld;
Wenn gleich das größte Unglück gsehicht,
So ist sie selbst dran Schuld.
Da denk ich halt: Jetzt steigst hinauf
Und fährst [?] beim Fenster aus:
Denn ieh will zeigen, wer drin ist
Der Herr von diesem Haus.
G. Und kaum hab ieli den Angang gnuicht,
Da wirbeln Fetzen [?] rum,
Sie fährt auf mich los wie a Drach,
Treibt mich im Zimmr herum.
Da flucht ich mich in Kasten nein:
Und wenn du [tobst], kriegst mich nicht raus;
Und wenn dus gleich zerplatzen tust,
Bin doch der Herr vom Haus.
7. Und hütt wer zuschaut, der hätt glaubt.
Im Kasten steck a Katz;
Denn sie hat immer eine Gwalt
Als wie a wilde Katz.
‘Aus*, schreits, ‘jetzt gschwind! Die Gvattern kommt:
Ich frag dich, gehst heraus?*
..Just extra net: denn sie soll sehn,
Wer Herr ist hier im Haus/
8. Mein Gvattern hat gleich nach mir gfragt,
Da hat mein Weib gleich gsagt:
‘Er ist spaziern mit einer Frau,
Er kommt erst spät auf d'Nacht.'
„Du lugst, daß du verstickst daran“,
Spring ichs beim Kasten raus,
.Frau Gvattern. ich mach mein Kompliment,
Hier steht der Herr vom Haus/
Aus einem 1893 geschriebenen Hefte in Kuma Südungarn) 11105 von Herrn
Dr. A. Byhan kopiert; vgl. oben 20, 33G.
64. 0 Jliiiimcli, willst du tanza?
Die älteste Fassung dieses Scherzliedes ist bereits um 1600 aufgezeichnet. Bei
dem Nürnberger Jacob Avrer, welcher in seinem Fastnachtsspiel ‘Fritz Dölla mit
seiner gewünschten Geigen’ (Dramen hsg. von Keller 18G5 4, 2839, 14) das Märchen
vom Juden im Dorn (Grimm, KHM. nr. 110) nach dessen älterer Fassung auf die
Bühne gebracht hat, spielt der Bauernknecht auf seiner Zaubergeige einen Tanz,
während der Mönch im Dorngestriipp nach dem geschossenen Vogel sucht. Er geigt
und sagt:
Ey Münehle, wiltu tantzen.
So sehenck ich dir ein Kuh.
Der Mönch antwortet Ey, hab dir alle Frantzen! 1 )
Jch hab kein Stall darzu.
Es ist in meim Orden der Sit,
Das die Parfiisser tantzen nit.
Ich kan nit tantzen.
Fritz Dölla: Ey ja, ir must ein Wml rumb schwantzen.
1) D. h. die Franzosenkrankheit.
3*
Bolte:
3(>
Neuere Texte aus Schlesien bei Erk-Böhme nr. 978 und Hoffmann v. Fallers¬
leben, Schlesische Volkslieder nr. 116 = Siebs. Schles. Volkslieder nr. 38. E. John,
Volkslieder aus dem Erzgebirge 1 ‘.'OH nr. 44. Tardel, Niedersachsen 21, 24b. Als
Kinderspiel bei Böhme, Kinderlied 1897 S. 551: ‘Hänschen, willst du tanzen 1
und bei Erk-Böhme nr. 838 b: ‘Tanz. Liebchen, tanz 1 . — Auf eine Nonne übertragen
im niederländischen Liede ‘Zeg, kwezelken, wilde gy dansen* GIofTmann v. F.
nr. 143—145. F. van Duyse nr. 3 2.V Firmenich 3, 660. Schollen. Zs. des Aachener
Geschiehtsv. 10, 132. Breuer, Zupfgcigenhans! 1911 S. 140). — Auch in Frank¬
reich ist das Lied heimisch:
;vo(o*o
mcH-nf,»i(nn ( ' vu^*-tu tja-n- im ? _Deo Jcvt- l\tns> ^ Ca-cPii- tuu Je n'en-
es
W
Widi Jiantla ca-dtrrK^ rnoiA pcttcorri merif on dan k je mWö jiao dan- 'jZA.
2. Moine, moink veux-tu danser? 3. Moine, moiiv, veux-tu danser?
Un‘ eulott’ je t’achet’rai. Ln chapeau je t’achet’rai.
— Je n'entends pas la cadence etc’ — Je n'entends pas la cadence etc.
4. Moine, moin‘, veux-tu danser?
Lne fenim’ je fachet'rai.
— Oui, j'entends bien la cadence,
Je sais bien comment on danse,
Je sais bien danser.
Achille Millien, Litterature orale et traditions du Nivernais 3, 171 (1010). —
Aus dem 18. Jahrh. in der Champagne bei H. Ewers und M. Henry, Job Tambour
191*2 p. 132: ‘Pere capucin, savez-vous danser 1 . Rolland, Recueil de chansons
pop. 2, 191 nr 159 vergleicht damit das deutsche Lied ‘Spinn, spinn, meine liebe
Tochter* (Erk-Böhme nr. 838a. Estnisch: Hurt 1, nr. 84\ dem sich noch viele Ge¬
sprächlieder des heiratslustigen Mädchens anreihen ließen.
65. Unser Bruder 3Ialchei\
J. B. Schuppius, Der bekehrte Ritter Florian (Lehrreiche Schriften, Frank¬
furt 1684 S. 875=1701 2, 43) erzählt von den Verfolgungen, die Florian nach seinem
Übertritt zur lutherischen Kirche durch seine Verwandten und Freunde erfuhr: ‘Von
seiner Frau Mutter empfing er lautter Briefte, darinn sie ihn verfluchte und ver-
maledeyete als einen Ketzer. Seine andere fürnehme Freundschafft woltc nichts
von ihm hören. Er muste einen kostbaren Klepper auff der Streu halten, welchen
er nicht verkauften oder durch einen Schuld-Brieff einem andern überlassen kunte.
Er wolte gern in Krieg gehen, aber es ging ihm, wie unserm Knechte Rup¬
recht, welcher wolte ein Reuter werden, und hatte kein Pferd. Da er ein Pferd
hatte, da hatte er keinen Sattel, und da er einen Sattel bekam, hatte er keine
Stiefle!, da er ein paar Stiefle! bekam, da mangelten ihm ein paar Sporen 1 . . .
Über das hier gemeinte Spottlied, dessen Held sonst Melcher, Veit!, Michel,
Jakob heißt, vgl. oben 18, 81. Zu den dort gegebenen Nachweisen füge ich noch
ein Flugblatt des 18. Jahrh.: ‘Unser Bruder Malcher. Mann mit Küchengerät auf
einer Kuh reitend 1 bei Drugulin, Historischer Bilderatlas 1, 106 nr. 2645 (1863).
Das dt. Volkslied 11, 183 (Insa Knecht da Veitl). Blätter für Heimatkunde 1. 4, 6
(Graz 1923). Commenda, Hoamatkläng 1920 nr. 7. Amft nr. 513. 514. Siebs 1924
nr. 32. Niedersachsen 9, 64 (Oll Mann wull riden).
66. Spott auf Neurode im Eulengebirge.
1. Frage: Wa^ hoat Ihr denn für a Kerchla droaben, droaba zu Neurode?
Antwort: Doas Kerchla ist mit Stroh gedeckt.
In a Klingelbeutel hoan die Sparlinge geheckt,
1: Stro stri strallalala, droba zu Neurode :|
Kleine Mitteilungen.
2. Was hoat Ihr denn für an Kanzel droaben . . .
Zur Kanzel führt kee Treppa nuf,
Ma zieht a Pfoarrn an a Loa la nuf.
5. Woa< hoat Ihr denn für an Küster . . .
Des Sonntags is er Organist,
Des Montags fährt er wieder Mi>t.
4. Woas hoat Ihr denn für an Häcker . . .
Der Häcker is zum (ioat erbarm.
Kr kriegt a Oafen goar nie worin,
5. Woas hoat Ihr denn für an Schneider . . .
Der Schneider macht goar lange Kucke
Für die Pfarrn und Ziegen bücke.
6. Woas hoat Ihr denn für an Gloaser . . .
Der Gloaser raus a Asel sein.
Er <etzt Papier statt Scheiben ein.
7. Woa> hoat Ihr denn für an Fleescher . . .
Der Fleescher is a Schweinehund
Verkooft a Viertel für a ganzes Pfund.
8. Woas hoat Ihr denn für a Posthaus . . .
Doas Post haus hoat kee Feueresse,
Do gehn die Brief ohn Adresse.
9. Woas hoat Ihr denn für a Wirtshaus . . .
Im Wirtshaus da ist goar ui seht los,
Do giebs kee Bier und o kee Schnops.
10. Woas hoat Ihr denn für an Seeler . . .
Der Seeler der machts beste Geschäft,
Er schnupft a Strick und nießt a Strick.
Aus Erks Nachlaß auf der Berliner Staatsbibliothek 37, 1145. — Vgl. H. Palm,
Rübezahl 1873, der Schics. Provinzialblätter 77. Jahrg., S. 302 (7 Str. . Dünger,
Rundas 1876, Nr. 1268: Fiehtelruthe (6 Str.). E. John, Volkslieder aus dem Erz¬
gebirge, 1009, Nr. 203 4 De Fichtelsruh’ (2ü Str. mit Melodie). Amft, Volkslieder der
Grafschaft Glatz 1911 Nr. 531 (10 Str.) und 532 ‘Ritschka’ (20 Str.) — In gleicher
Weise werden die Raritäten von Orlamünde in Thüringen besungen bei Erk-Irmer,
Volkslieder 2, 6, nr. 37 (1844): Wat han se dann für Stadtmurn do, oho to Orla-
münde’; dazu Erks Nachlaß 3, 406. 12, 130. Abgedruckt bei Heeren, Niederrheinisches
Liederblatt, 1917, S. 65. — Andere Spottlieder beginnen: ‘Wißt ihr nicht, wo Strehlen
liegt’ (Mitt. der Schles. Ges. f- Volksk. 2, 29. Dünger nr. 1263) oder: ‘Was bringen
uns denn die Waldstetter 5 (Tobler, Appenzellischer Sprachschatz, 1837, S. 71.
Deutscher Volkshumor, 1850, S. 22), ‘Was bringen uns die Schwaben’ (Erk-Böhme
nr. 1713. Lammte 1924 nr. 98).
Berlin. Johannes Bölte.
Der Bandeltanz.
Wer vor zwei Jahren im Berliner Zoologischen Garten dem Trachtenfeste der
süddeutschen landsmannschaftlichen Vereine beiwohnte, hat sich an dem von den
Bayern kunstvoll vorgeführten Bandeltanze erfreut, der in Norddeutschland ziem¬
lich unbekannt zu sein scheint und bei F. M. Böhme in seiner Geschichte des Tanzes
in Deutschland (1886) überhaupt nicht erwähnt wird. Als steirische Volksbelus¬
tigung beschreibt ihn Ferd. Krauß (Die eherne Mark, 1892. 1, 36): „Es wird ein
entrindeter Fichtenbaum, von dessen Wipfel farbige Bänder hängen, in die Mitte
der Stube aufgestellt; die Paare fassen nun die Enden der Bänder und tanzen dabei
um den Baum in der Weise herum, daß der Stamm in einer bestimmten Farben¬
reihe von Bändern ganz umflochten wird, worauf dann wieder durch Tanzen in um¬
gekehrter Richtung die Bänder vom Stamme abgewickelt werden. u Ebenso Unger,
Steirischer Wortschatz, 1903, S. 47. — Aus Salzburg berichtet K. Adrian (Salz¬
burger Volksspiele, Aufzüge und Tänze, 1905, S. 151): r Die 8 Tänzer und 8 Tänze¬
rinnen stellen sich im Kreise wechselweise und gegengleich auf. In der Mitte des
Kreises wird der Baum aufgestellt und von mehreren Burschen während des Tanze*
Holte, Selma Hirsch:
:ls
gehalten. Seine Spitze ziert ein grüner, buntgeschmückter Wipfel; unter diesem um-
m hl teilt ein Kranz den Stamm, von welchem sehr lange rote und weiße Biinder
herablaufen. Die Mädchen nehmen die weißen Bänder in die rechte Hand, die
Umsehen die roten in die linke. Auf ein Zeichen des Vortänzers fällt die Musik
ein, und die Paare beginnen am Urte den Wiegeschritt. Auf ein abermaliges Zeichen
beginnt der eigentliche Tanz, der in einem fortgesetzten Umkreisen besteht: und
zwar kreisen die Burschen nach außen, die Mädchen entgegengesetzt; dies wird so
lange fortgetanzt, bis es nicht mehr möglich ist, den Baum weiter einzuflechten.
Auf das Zeichen des Vortänzers wird Halt gemacht: hierauf folgt eine ganze Drehung
Her Paare, die Burschen nehmen jetzt das Band in die rechte, die Mädchen in die
linke Hand, und in entgegengesetzten Kreisen wird der Baum wieder ausgellochten.
Darauf werden die Bänder zusammengeworfen, und ein kleiner Walzer beschließt
diesen anmutigen Tanz. u Vgl. Adrian, Von Salzburger Sitt und Brauch 1924 S. 3G2
und 3G4 'Stelzenbandltanz in Unken’.
Man möchte im Bandeltanz eine deutsche Ulfindung sehen, wenn nicht dieselbe
Tanzform vor mehr als hundert Jahren bereits in Venezuela auftauchte. AD eine
in Angostura (heute Bolivar) übliche Belustigung der Eingeborenen erwähnt ihn der
Engländer G. Hippisley 1 ): ..Gewöhnlich beschließt der Stangentanz (the pole
dance) die NaehmiUagsunterhaltimg. Man nennt ihn so, weil eine Stange von unge¬
fähr 10 Fuß Höhe und etwa 4 bis 5 Zoll Umfang darin die Hauptrolle spielt. Oben
sieht man eine Kugel, unter der zwölf Bänder französischen Gewebes in verschiedenen
Farben gestreift hängen, die etwa 1*2 Fuß lang und l / 2 Zoll breit sind. Die Stange
wird senkrecht gehalten; jeder junge Indianer hält das Ende eines Bandes in der
Hand, und so bilden sie einen weiten Kreis um die Stange, in dem regelmäßig einer
dem andern gegenüber steht. Auf ein Zeichen des Anführers beginnen die Musiker
ein Stück, und der Kreis setzt sich in Bewegung, indem die Hälfte der Tänzer
rechts schwenkt. Beim zweiten Zeichen tritt jeder an und schreitet beim Begegnen
abwechselnd rechts und links vorbei, und sie fahren fort, bis die zwölf Bänder schach¬
brettförmig um die Stange von oben bis unten herumgewickelt sind, und zwar so
regelmäßig, daß man kaum einen Fehler oder Irrtum finden kann. Einen Augen¬
blick wird Halt gemacht, dann erneuert sich dasselbe Verfahren, um die Bänder loszu¬
wickeln, ebenso regelmäßig wie vorher, nur in umgekehrter Richtung von links nach
rechts. Das Ganze ist nicht nur hübsch anzusehen, sondern die Bewegungen werden
auch genau nach dem Takt, den die Musik angibt, ausgeführt. Bei den verschiedenen
Malen, wo ich diese Vorführung sah. war das Musikinstrument eine Geige und die
Melodie ein beliebter französischer Walzer. 44
Hiernach liegt die Vermutung nahe, daß ein französischer Gesellschaftstanz, der
an den alten Tanz um den Maibaum anknüpfte, das Vorbild für den südamerika-
nischen wie für den süddeutschen Bandeltanz abgegeben habe. Doch wußte mir
Fräulein Rose Julien, an die ich mich als eine berufene Kennerin der Volkstänze
wandte, ein französisches Analogon nicht nachzuweisen.
Berlin. Johannes Bolte.
Zum Volkslied ‘Fuhrmann und Wirtin*.
Die Ballade ‘Es wollt ein Fuhrmann ins Elsaß fahren’ (Erk-Böhme Nr. 148b,
Uhland Nr. 284) ist in ihrer vollständigen Form durch zwei fliegende Blätter über¬
liefert (vgl. Erk-Böhme 1, 482) Eine verkürzte Fassung dieses Textes mit sieben
Strophen (1, 8 , 5, 6 , iS, IG und noch eine weitere Verfasserstrophe) findet sich im
Frankfurter Liederbuch vom Jahre 1582 A 2 y Nr. 239. Im Stoff, in der Anlage und
teilweise im Wortlaut zeigt sich ein Lied des Heidelberger Cod. Pal. 348 3 ) Nr. 118
mit ihm verwandt. Noch recht ähnlich sind die jüngeren Fassungen im Wunder¬
horn 2, 192 und Lerond, Lothringische Sammelmappe 1, 43 (1890). Zahlreiche
frühere und spätere Lieder behandeln dasselbe Thema, wobei die Personen jedoch
wechseln (vgl. Erk-Böhme 1, 48G). Soweit ich aus eigener Kenntnis jener Fassungen
1) A Narrative of the Expedition to the. Rivers Orinoco and Apure in South
America, London 1819, p. 312. Auf diese Stelle wies K. Klier (Das deutsche Volks¬
lied 2G, 13) jüngst hin.
2 Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582, hrsg. von Bergmann 1845.
3; Die Lieder der Heidelberger Handschrift Pal. 343, hrsg. von Arthur Kopp 1905.
Kleine Mitteilungen.
39
urteilen kann, rast unser Typus künstlerisch hervor; denn der Dichter hat sich an¬
scheinend bemüht, in seine Darstellung charakteristische Züge aus dem Fuhrmanns-
leben aufzunehmen. Die Version der 11. Bll. gibt aber zu der Vermutung Anlaß,
daß sie nicht mehr die ursprüngliche Gestalt des Liedes darbietet.
Strophe 9 schließt mit den Worten: ‘Der schimpf tet sie gerewen’. Daraus
geht hervor, daß der Dichter an einen tragischen Ausgang gedacht hat. Mit einem
solchen Abschluß ist aber der schwankartige Inhalt der Strophen 10—ln nicht ver¬
einbar. Ihre Echtheit wird somit zu bezweifeln sein. Zum Teil füllt auch die
äußere Textgestalt aus dem Rahmen des Liedes heraus. Das Grundschema des Ge¬
dichts wird durch die Strophen 2. 3, 4, 5. 7, s, 9 (14, 15) bezeichnet: die beiden
ersten Zeilen vierhehig voll. Z. .3, durch einen Kehrreim und Wiederholung er¬
weitert. dreihebig klingend. Der Refrain der 10. Strophe erscheint in unvollständiger
Form, Z. 3 enthalt einen eigenen Gedanken; die Strophe ist daher vierzeilig. Auch
durch den dreifachen Reim Iist, kist, brüst weichen die Verse von dem regelmäßigen
Schema ab. ln den Strophen 11 und 13 begegnet man klingenden Kadenzen (1 :’ 2 ).
Ein weiteres Kriterium gegen die Originalität dieses Abschnitts ist die Unselbständig¬
keit des Verfassers. So stellt zunächst Str. 1*2 in ihrer zweiten Hälfte eine wört¬
liche Entlehnung aus Str. 4.3 dar. Der Unterschied besteht nur darin, daß hier nicht
die Wirtin Subjekt ist.
Es füllt auf, daß im zweiten Teil des Liedes statt von dem Fuhrmann von
einem Knaben gesprochen wild, sogar an den Sohn eines reichen Vaters ist ge¬
dacht. Über den Grund dieser Verschiedenheit wird man durch die Strophen 12—13
belehrt. Der Verfasser lehnt sich an die Ballade vom gefangenen Knaben an
(Erk-Böhme Nr, 00, Uhland, Nr. 125: ‘Das Schloß in Österreich’). Dem Vers 12,2
(•da lag darinn ein junger knab’) entspricht dort genau die Zeile 2, 1: ‘Darinne ligt
oin junger knab'. Ferner stammt das Motiv aus jener Ballade, daß der ‘Knabe’
durch Lösegeld, das der Vater hergibt, befreit werden soll. Im ‘Schloß in Öster¬
reich’ bittet der Vater (5, 3): ‘Drei hundert gülden will ich euch gehen wol für des
knaben sein leben’. Im Fuhrmannsliede lautet Str. 13,1: ‘0 lieber wirt, laß mich
doch leben! Ich will dir vier hundert taler geben’. Die klingenden Versausgünge
wurden in diesem Fall durch die Entlehnung bewirkt. Unter den Gedichten der
Weimarischen Liederhandschrift vom Jahre 1537 1 ) ist ein Lied verzeichnet (Nr. 33),
das von einem Mönch erzählt, der in einem Kloster eine einzige Nonne antrifft:
Het voer een monine naer sijnre cluis
hy vant der nonnen niet meer dan ene te Iiuis.
Yaer hen!
Es ist im allgemeinen dasselbe Motiv wie im Fuhrmannsliede. Geld wird hier nicht
angeboten, aber der Mönch verspricht der Nonne sein ‘cappekijnk In der dritten
Strophe heißt es darauf:
Die non die docht in baren moet
die monincscap die waer wel goet.
Im Fuhrmannsliede liest man (14, 1): ‘Der wirt gedacht in seinem mut: vier hundert
taler sind mir gut’. Das Gedicht von dem Mönch und der Nonne macht in seinem
weiteren Verlauf einen durchaus selbständigen Eindruck. Somit ist anzunehmen,
daß der Bearbeiter des Gedichts vom Fuhrmann die Verse entlehnt hat. Er kom¬
binierte das Motiv mit dem Lösegeldgedanken. Wie es von dem Schema des andern
Liedes gefordert wird, zeigen die Verse den vierhebig vollen Rhythmus. Daher
sind auch in dieser Strophe des Fuhrmannsliedes die Versausgünge regelmäßig.
Str. 15 hängt inhaltlich mit dem zweiten Abschnitt zusammen.
Durch die Hinzufügung der sekundären Strophen 10—15 wurde vermutlich der
echte Schluß verdrängt. Es scheinen jedoch noch weitere Veränderungen mit dein
ursprünglichen Texte vorgegangen zu sein. Auch die erste Hälfte von Str. 6 weist
zweisilbige Kadenzen auf. Allerdings haben die Verse in den beiden Parallelüber¬
lieferungen eine rhythmisch einwandfreie Form: Heid. Hs. 343 Nr. 118, 3 ‘Ja, so ge¬
waltig bin ich wol .... das ich den gast heut beherbern will’ — Frkf. Lb. 158*2A
Nr. 239, 4: ‘So viel gewalt hab ich noch wol, daß ich ein fuhrmann behalten sol’.
Aber in der Handschrift ist nur konsonantische Assonanz vorhanden, und bei der
1 Vgl. Hoffmann von Fallersleben, Weimarisehes Jahrbuch 1, 101 1854 und
E. Marriage, Tijdschrift voor ndl. Letterkunde 38, 81 1919.
4U
Selma Hirsch, Edith Kurtz:
gedruckten Fassung fallt die schlechte sprachliche Form auf. Die Strophe unter¬
scheidet sich auch insofern von dein vorgeschriebenen Schema, als ihre vierte Zeile,
ähnlich wie in Str. 10, nicht mit dem dritten Vers identisch ist. Leicht wäre auch
der Grund ersichtlich, der zu einer Interpolation führen konnte. Ohne diese Strophe
würde nämlich die Frage, die der Fuhrmann an die Wirtin richtet (5), unbeantwortet
bleiben. Daß die Erwiderung bejahend aus fallt, brauchte jedoch nicht mitgeteilt
zu werden, es geht ans dem hervor, was weiter berichtet wird. Ich möchte die
Stelle für ein Beispiel des sprunghaften Volksliedstiles halten.
Von größerer Bedeutung sind aber die Kriterien, die sich hier aus einer ge¬
nauen Betrachtung des Zusammenhanges ergeben. Der Text des ersten Abschnitts
weist Widersprüche und Unklarheiten auf. Die Wirtin sieht zum Fenster hinaus
(Str. o,; nachher sitzt sie bei den Gästen (4,2). Man kann freilich annehmen, daß
sie nur durch den Peitschenknall für einige Augenblicke an das Fenster gelockt
wurde. Doch ist es wahrscheinlicher, daß der Dichter gemeint hat, sie habe zum
Fenster hinausgesehen, weil gerade keine Gäste da waren. Natürlich hängt das
Motiv auch mit dem Reimzwang zusammen (haus, heraus). Doch schließt das nicht
aus, daß der Verfasser zugleich einen logischen Gedanken damit verband. Eine
solche Situation, das Alleinsein der Wirtin mit dem einzigen Gast, wird ja auch bei
dem weiteren Verlauf vorausgesetzt.
Unverständlich bleibt es in der überlieferten Version, warum die Wangen der
Wirtin brennen, während sie bei den andern Gästen sitzt. Daß der bloße Anblick
des eintretenden Fuhrmanns diese Wirkung hervorgebracht hat, ist keine ganz über¬
zeugende Erklärung. Der Zug, daß der Fuhrmann, der vor der kleinen Schenke
hält, sich erst erkundigt, ob er mit seinem Gespann dort für die Nacht Unterkunft
findet, scheint dem wirklichen Leben entnommen zu sein. Befremden muß es aber,
daß er diese Frage erst stellt, als er in die Stube eintritt.
Wie nun die fi. Strophe sich in ihrem ersten Teil an die fünfte anschließt, so
leitet ihr letzter Vers zu Str. 7 über. Man gewinnt jedoch aus der Formulierung
der Frage 7, 1 (Fraw wirtin! was ist das für ein Ding, daß ich ewern man nit daheime
find) den Eindruck, daß vorher von der Abwesenheit des Mannes noch nicht die
Rede war. Wenn die Erwiderung der Wirtin (Str. ß) wegfiele, dann könnte Str. 5
nicht an ihrem bisherigen Platz bleiben, da sie jetzt der zweiten Frage des Fuhr¬
manns (7) unmittelbar vorangehen würde. Man müßte sie vielmehr vor die vierte
Strophe stellen, wodurch ein viel natürlicherer Zusammenhang entstände als in der
überlieferten Reihenfolge: Der Fuhrmann hält vor einem Wirtshaus, dessen Wirtin,
da keine Gäste anwesend sind, zum Fenster heraussehaut. Vom Wagen aus richtet
er die Frage an sie. ob er mit Pferden und Wagen bei ihr Unterkunft finden könne.
Nachdem sein Gespann untergebracht ist, betritt er die Gaststube, und die Wirtin
setzt sich zu ihm an den Tisch (‘bei dem gaste’, so wird 4, 2 statt ‘bei den gasten’
zu lesen sein). Wenn jetzt erzählt wird, daß ihre Wangen brennen, so ist damit
die Art des Gesprächs sowie der Gemütszustand angedeutet, in den die Wirtin
während der Unterhaltung versetzt wird. Hieran würde sich sinngemäß die in der
gleichen Richtung liegende Frage des Fuhrmanns (Str. 7) schließen. Der Nach¬
dichter, der zu Str. 4 eine Antwort verfaßte, nahm zugleich das Motiv der 7. und
8. Strophe vorweg. Dadurch war er zu einer Umstellung der Strophen genötigt.
Weil nun aber scheinbar die Frage wegen der Unterkunft gestellt wird, als der
Fuhrmann in die Stube eintritt, mußte der Text ‘bei dem Gaste’ geändert werden.
So entstand die heutige Lesart ‘bei den Gästen’.
Von dem regelmäßigen Rhythmus weichen auch die klingenden Kadenzen 1. 1
ab. Die Verse erscheinen als eine Doublette der künstlerisch höher stehenden
zweiten Strophe. Auch sonst ließen sich stilistische Bedenken beibringen. Der
typische Eingang ‘Es wolt. . .’*), der Kehrreim ist nicht ganz so geschickt einge¬
schoben wie in den echten Strophen. Daß diese Gründe allein die Streichung recht-
fertigen würden, möchte ich nicht behaupten. Denkbar wäre aber wohl der Anfang:
‘Ein Fuhrmann über die Brücke (in das Elsaß) naus fuhr’; vgl. Uhland Nr. 283B:
‘Het voer een visseher visschen’.
1) Vgl. Daur, Das alte deutsche Volkslied nach seinen festen Ausdrucksformen
betrachtet, 1909, S. 9 4.
Berlin.
Selma Hirsch.
Kleine Mitteilungen.
41
Die Krankheitsdümonen nach lettischem Volksglauben.
Die lettischen Sagen aus der großen Pestzeit 1709 10 wissen zu berichten»
Mehris, der Pestdämon, sei in Menschengestalt, in weißer Kleidung gesehen worden,
ein Buch in der Hand, darin die Namen der ihm Verfallenen eingetragen waren,
oder als Holzhaeker mit einem Beil, oder mit 7 Bastringen, — wo die hinfielen,
war der Tod nicht fern. Auch als schwarzgekleideter Mann kam er, in Begleitung
weißer Vögel oder gar in Tiergestalt. Fand man zur Pestzeit morgens in der Asche
den Abdruck eines Fußes, so wußte man, die Pest war dagewesen. Man durfte mit
dem Mehris, wenn man ihn traf, beileibe nicht sprechen, sondern mußte ihm einen
Schlag versetzen, dann lloh er, wenn auch in heller Wut. Um den Schlimmen milde
zu stimmen, stellte man ihm abends einen abgekoehten Hahn, ein Stol Bier, ein
brennendes Lieht hin. Dann tat er sich gütlich und zog wohl, ohne jemandem zu
schaden, davon. Es geschah auch, daß man zur Zeit der Seuche einen schwarzen
Hund, einen schwarzen Hahn und eine schwarze Katze schlachtete. Das Blut der
Tiere wurde in einem Gefäß aufgefangen; in dieses Blut tauchte man Garn von alten
Weberhefteln und spannte es, rückwärts schreitend, ums Haus. Dabei sprach man:
„Komme du nicht herein! Der schwarze Hund wird dich beißen, die schwarze
Katze wird dich zerreißen, der schwarze Hahn wird nach dir hacken"" (Lerehis-
Pusehkaitis, Latweeschu tautas teikas un pasakas 7, T238). Auch die lettische ( ber-
lieferung weiß, daß die Pest allein nicht über ein Wasser kann, ln Gestalt einer
Frau bat sie einst einen Bauern, er möge sie auf seinem Wagen über die Brücke
fahren. Erst unterwegs erkannte der Mann die Mitfahrende an den haarigen Beinen
und gespaltenen Hufen als die Rinderpest (Lerchis a. a. 0. 5, 396). ^ Diese Sage
läßt jedoch Entlehnung vermuten, denn das lettische Wort für ‘Pest’ {mehrts) ist
männlichen Geschlechts.
Eine Fülle, alter Vorstellungen zeigt, wie sehr sich die Phantasie mit dem
Wechselfieber beschäftigt haben muß, das einst, alljährlich im Frühjahr aus dem
sumpfigen Boden kriechend, ganzen Gebieten zum Schrecken geworden sein mag.
Das Fieber gehe umher, wie ein unreiner Geist, sei ein Teufel, ein \ erwandter des
Alp. Es treibe allerhand Späße, und wer darüber lache, der erkranke. Hier liegt
wohl die Vorstellung zugrunde, das Fieber fahre beim Lachen durch den geöllneten
Mund in den Menschen. Soll man doch auch in der Fastenzeit im Freien vor dem
ersten Kuekuekschrei weder singen, noch schreien, vor Georgi nicht pfeifen, sonst
wird man vom Fieber gepackt. Trinkt man im Frühjahr zum ersten Male vom
Birkwasser, >o speit man aus und sagt: „Möge das Fieber mir nicht beifallen'U
Einen Fieberkranken grabt man in Sehafmist ein oder bedeckt ihn bis zum Halse
mit Totenknochen. Dann kommt das Fieber gelaufen, ruft den Kranken beim
Namen und treibt seine Scherze. Erhält es keine Antwort und vermag es kein
Lachen zu bewirken, so muß es vom Kranken ablassen. Auch durch Täuschung
kann man das Fieber verjagen. Eine Bäuerin legte ihrer kranken Magd um die
Mittagszeit einen weißen Span über die Augen. Bald darauf rief jemand: „Dies ist
nicht mein Reitpferd, dies hier hat eine Blesse an der Stirn. Will meines suchen
gehen!“ Von Stund’ an war die Magd fieberfrei.
Der Wahnsinn wurde nach einem Heilsegen dadurch verursacht, daß Piktuls,
der vom Gewittergott verfolgte Dämon des Dunkels, nirgends einen Kessel fand, in
den er sieh hätte flüchten können, weil nach altem Brauch beim Herannahen des
Gewitters alle Kessel umgestülpt worden waren. Da fuhr er in den Menschen, und
sein schreckhaftes Hin-und Herzucken im Körper bewirkte den Wahnsinn (Nr. 3G9 1 ).
Nicht nur in der Überlieferung lebt der alte Glaube an die Krankheitsdämonen
fort, auch in der Sprache haben diese ursprünglichen Vorstellungen deutliche
Spuren hinterlassen.
Die Krankheit habe sich einem zugesellt, sagt der Lette, — wie wir von einem
"Angefallenwerden’ sprechen, — und hat für "heilen und "vertreiben den gleichen
Infinitiv <kit , weil eben ursprünglich das Heilen als ein Austreiben des Krankheits¬
dämons angesehen wurde. Bezeichnungen, wie durrjs = der Stecher (für Stiche
1) Die angeführten Heilsegen sind der Sammlung von Trenland (Brivzemnieks)
entnommen: Materialy po etnogr. latischskago plemeni. Iswjestija Imperat. Obschtsch.
Ljub. Iestiestwosnanija .... pri Moskow. L niwersit. Tom XL, Trudi Etnogr. Otdljela,
kniga VI*
42
Edith Kurtz:
in der Brust), ztwmhejs = der Würger, spiedej * = der Drücker (fiir Magendruck))
avkstt'iuj.'i = der Knirscher (lur Gelenkrheumatismus), Pttej* = der Fresser (für krebs¬
artige Schäden), kraiitüjs = der Schütteier (für Fieberfrost); die Ausdrucksformen:
:et)u< rauj = das Schlucken reißt, jelons Pd — das Sodbrennen frißt, drudzis jöj = das
Fieber reitet einen, to vohut vor kujitja bijvse — die Krankheit war nicht gut zu
Fuß, d. h. hat sich nicht wiederholt, zeigen die Krankheitssymptome auf handelnde
Wesen zurückgefühlt. Stechende, reißende, nagende Schmerzen sind zu Auswir¬
kungen eines in den Körper des Leidenden eingedrungenen stechenden, reißenden,
nagenden Dämons geworden. Von dem bohrenden Zahnschmerz heißt es in den
Besprechungen, er rühre von dem Zahn wurm her. „Zwei (Würmer) stechen, zwei
nagen, zwei spalten die Zähne, zwei reißen im Reißen den Gaumen heraus- (Nr. 110).
Bei den meisten Krankheitserregern aber ist, — auch wo die Überlieferung
schweigt, — an dämonisch-menschliche Wesen zu denken. Sic, die ‘ohne Füße,
ohne Arme laufen’, wie es in einem lleilscgen heißt, können freilich mancherlei
Gestalt annehmen, wenn sie den Menschen heimsuchen. Einst berieten das Fieber
und das Geschwür, wie man dem Menschen beikommen könne. Das Fieber sagte:
„Ich werde zu einem Stäubchen werden und in den Eßlölfel fallen, der Mensch
wird mich dann essen.“ „Ich gehe in die Badstube“, sprach das Geschwür, „und
werde mich im Badebesen verstecken“. (Lerchis a. a. 0. 7, 1240.)
Diese Krankheitsgeister können einem von Feinden angehext werden, können
von Toten herrühren, vor allem von solchen, die zu Lebzeiten Zauberer waren, oder
können beim Betreten ‘böser Spuren’ und durch Außerachtlassung eines Schutz-
zaubers Gewalt über den Menschen gewinnen. Zu ihrer Vertreibung gilt es, die
Heilsegen anzuwenden, — eine Tatsache, die mit beweist, daß der Volksglaube
etwas Wesenhaftes voraussetzt, an das diese Worte gerichtet, das durch sie beein¬
flußt werden kann. Zum Teil beruhen auch die lettischen Beschwörungen auf
Analogiezauber; einem kurzen Auftakt in erzählender Form folgt die Nutzanwendung:
also tue auch die Krankheit. „Ein Hund läuft nach Riga, die Hundejungen laufen
hinterdrein. So soll das Sodbrennen davonlaufen, wie alle diese Hunde“ (Nr. 103).
Diese Sprüche sind reich an interessanten Zügen, bieten aber speziell über das
Wesen der Krankheitserreger weniges.
Anders die auf unmittelbarem Beschwörungszauber beruhenden Sprüche, die
sich direkt an den Urheber des Übels wenden, ihn bedräuen, ihn kraft der ange¬
wandten ‘starken Worte’ aus dem Körper an einen entfernten Ort bannen, sei es in
das tiefe Meer, in den dunklen Wald, unter den grauen Stein, in die Sumpfhölle
oder in die toteste Einsamkeit, da ‘kein Hahn kräht und kein Mensch redet’ (Nr. 2*27);
durch die Zärtlichkeitsform der Anrede soll der Dämon milde gestimmt, durch
Scheltworte („gehe von hinnen, du Sack der Flüche“) eingeschüchtert werden.
Eine große Anzahl von Heilsegen beschwört den Gewittergott Perkons oder seine
Diener mit den 3 X 9 Pfeilen, den Blitzen, als strafende Gewalt herauf (Nr. 53,
ö4 u, a.). Der Gott des Wachstums und Gedeihens muß ja allem Lebenschädigendem
feind sein. Ihn und Mära oder Laima, die Göttin des Menschengeschieks, stellen
die Heilsegen häufig als schützende Gewalten den dunklen Mächten entgegen. Andere
Sprüche warnen vor beißenden Hunden und kratzenden Katzen (Nr. 12, 89 u, a.).
Ein Fiebersegen lautet: „Das Fieber schüttelt den Alten. Wenn das Fieber nicht
von dem Alten ablassen wird, wird der Teufel den Alten holen“ (Nr. 297). Diese
dunkle Warnung, die den einen Dämon durch den anderen austreiben zu wollen
scheint, schreibt man auf und wirft den Zettel, mit dem Rücken gegen das Feuer
stehend, in die Flammen, schweigend und ohne das Geschriebene zu überlesen. —
Zerrissen, erschossen, geschlagen soll der Dämon werden, mit Ahlen durchbohrt,
mit Messern oder 3 X 9 Nadeln zerstochen, mit der Egge zerfetzt, in eiserne Bande
geschlossen, mit einer Pastelschnur an eine Birkenwurzel gefesselt oder an eine
knarrende Esche gebunden. Die beiden letzten Drohungen klingen an das Bannen
der Krankheit in den Baum an. Dieser allgemein geübte Zauber beruht wohl zum
Teil auf dem Glauben an die heiligen Kräfte im Baum, wie sie durch die Berührung
mit der Lebensrute dem Gesunden Gedeihen, dem Kranken Genesung verleihen.
Auch ein Heilseren droht, das Rheuma mit einer Birkenrute zu prügeln (Nr. 114).
Dazu tritt die Vorstellung, der Dämon lasse von dem Kranken ab, sobald seinem
Betätigungstrieb ein neues Objekt geworden ist. „Stäupe die Kiefer, stäupe die
Tanne, aber stäupe nicht den N. N.“ (Nr. ,V2). Oder: „Schlage in die Kiefer, schlage
Kleine Mitteilungen.
43
in die Tanne, schlage nicht in die Eiche“ (Nr. G37), denn die Eiche ist das Sinn¬
bild der Männlichkeit gegenüber der weiblichen Linde mit den weichen Blättern,
und dieser Spruch soll eben nur bei Männern angewandt werden. Von dem Ver¬
keilen der Krankheit in den Baum verspricht man sich viel Erfolg. Bevorzugt wird
hierbei die Eberesche; wer aber danach als erster von den Früchten dieses Baumes
ißt. in den geht die Krankheit über. Daneben lebt der Glaube, ein derart infizierter
Baum kränkele und sterbe ab, während der Kranke gesunde. Auch der Stein in
seiner Gefühllosigkeit ist ein geeignetes Objekt, auf das die Angriffslust der Dämonen
abgelenkt werden kann. „Fieber, Fieber, ich sage dir, laß ab von mir. Geh, rüttele
die grauen Steine, geh, rüttele die Stubben im Walde“ (Nr. 40, S. *22*2). »Gehet
fort an das Meer, naget die weißen Steine des Meeres, naget nicht meinen Leib**
(Nr. G3G). Das Bannen der Krankheit in Tiere wird in den Besprechungsformeln
nicht ausdrücklich erwähnt; daß es in der Praxis angewandt worden ist, zeigt die
häufige Erwähnung dieses Zaubers in den Protokollen der Hexenprozesse. Nach
einem Auszug aus den Goldingenschen lnstanz-Gerichtsnkten vom Jahre 1 GO 1 hat
der Zauberer Indrik einer Bäuerin befohlen, einen Hahn dreimal um ihren kranken
Mann zu tragen, dem Tier auf einem Kreuzweg eine Feder auszurupfen und diese
fortzuwerfen, den Hahn aber unter Abkehrnng des Gesichts daheim wieder freizu¬
lassen. Davon sei der Hahn ganz verdorrt und krepiert, ihr Mann aber genesen
(Neue Wöchentliche Unterhaltung, AIitau löO.S, II, 4-s ( Jf). 1G37 stellt das Gericht
an eine Bäuerin aus dem Pernigelschen Gebiet, die der Hexerei verdächtigt wird,
<1 io Frage, „da Sie dem Hini ich Baumgarten von der Zauberei geholfen, wem Sie
es wieder angethan?* und erhält den Bescheid: „Sie hette Ihm gesund gemachct
und einem hahn wieder angethan, so stracks dabey gestorben^. Frage und Antwort
zeigen, wie festgewurzelt der Glaube war, der Leidende könne nur nach Übertragung
■der Krankheit auf ein anderes Objekt genesen. Auch in Kälber und einen Hutd
will diese Zauberin Krankheiten gebannt haben (Protokoll des Rigaschen Land¬
gerichts 1G37 II, 27G1L).
In eigenartiger Weise zeigen folgende Heilsegen die Krankheit personifiziert.
„Die Sumpfherren (d. h. die Teufel) feierten ein Gelage mit des Aufsehers Tochter,
hätten sie lieber mit meinen Drückern gefeiert 4 * (spPrfrji — Magen druck, Nr. S5). Und
^Oas Geschwür spinnt zwischen der Tür; dort spinnt es, dort zwirnt es; laufe in
den Wald zum buschigen Weidengesträuch, dort spinne du, dort zwirne du, dort
sind deines Vaters Väter, dort sind deiner Mutter Mütter, dort spinne du, dort zwirne
du** (Nr. 1S7). Die Entstehung des anschwellenden Geschwürs wird hier auf einen
spinnenden und zwirnenden Dämon zurückgeführt. Auch andere Sprüche zeigen,
daß die Phantasie mit Vergleichen, wie Knäuel und Geschwulst, spielt. „Eine alte
Frau sitzt auf einem Hügel, einen Rindenkorb in Händen, Garnknäuel darinnen;
der Garnknäuel rollt sich auf (htri), das Geschwür fließt aus (cteA*), vergeht, ver¬
fliegt, wie ein Staubpilz" (Nr. 1S9).
Riga. Edith Kurtz.
Zur Volkskunde Berlins.
Über die Volkskunde Berlins ist bisher wenig geschrieben, fast gar nichts ge¬
arbeitet worden. Die unzähligen Anregungen von außen, denen die Hauptstadt eines
großen Reiches im Laufe der Jahrhunderte ausgesetzt ist, sind hier auf einen be¬
sonders günstigen Boden gefallen, und so bietet sich dem Beobachter ein Bild von
einer verwirrenden Fülle und Buntheit, wie sie bei kaum einer anderen deutschen
Großstadt, geschweige denn auf dem Lande angetrollen werden kann. Das eben macht
die Bearbeitung dieses Gebietes für den Volkskundler so reizvoll; indem er die
verschlungenen Fäden zu entwirren sucht, indem er Schicht für Schicht löst und
abhebt, wird er dem Verständnis des richtigen Berliners neue Quellen erschließen
und somit einen hervorragend wichtigen Beitrag zur Volkspsychologie liefern können.
Daß eine solche Arbeit gleichzeitig ein Prüfstein für die Güte der langsam reifenden
volkskundlichen Methode sein würde, sei nur nebenbei bemerkt.
44
Mackensen:
Eine tüchtige und anregungsreiche Vorarbeit zu einer solchen ‘Volkskunde
Berlins* bildet Meyers 1 ) Buch vom ‘Richtigen Berliner’, das uns nun in neunter*
wiederum merklich erweiterter Gestalt von Siegfried Mauermann vorgelegt wird.
Das schmale Bändchen der 1. Auflage (187b) ist mit der Zeit ein stattlicher Band
geworden: in glücklicher Weise wird Wissenschaft und Volkstümlichkeit vereinigt,
und mit seiner Sammlung von Schnurren, Spielen und Versen ist das ganze Buch
eigentlich eine große volkskundliche Sammlung, die, mag sie nun aulgeschlagen
werden, wo sie will, dem Leser ein gut Stück Berlinertum vermittelt.
Unter den Kinderspielen, denen ein breiter Raum gewidmet ist, fällt die
Fülle der Spiele mit rechtlicher Grundlage auf; Spiele wie Handwerker, Hauptmann
von Köpenick, Jassenlaufen, Lange lange Leinwand. Räuber, das Steppkespiel zeigen
mehr oder weniger deutliche Beziehungen zum einstigen Rechtsleben. Von den
Losspielen interessiert das Knobeln, Miinzenwerfen und Stechen; beim Behexen und
der Schleichhexe mögen letzte Anklänge an einen vergessenen Aberglauben mit-
wirken. Mancher der ‘allgemeinen’ Verse wird auch als Abzählreim gebraucht
(z. B. Xr. 1 u. 2). Der Ausruf: ‘Herrjott von Mannheim!’ erinnert an das hannoversche
'Herrgott von Bentheim!’ (in Bentheim befand sich ein berühmtes Kruzifix), an das
alamannische ‘Uerrgöttle von Biberach*. Ob die rot welschen Bestandteile des
Berlinschen durch Zeitungsberichte ins Volk gedrungen sind, wie der Verfasser an¬
nimmt (S. 1), oder nicht vielmehr den direkten Weg vom Gauner ins Volk ge¬
gangen sind, müßte eine genaue Untersuchung feststellen.
Das Wörterbuch Berliner Ausdrücke füllt den größten und wertvollsten Teil
des Buches (S. 19—200); ihm soll sich daher auch die Hauptaufmerksamkeit des
Berichterstatters zuwenden. Ich gebe zur Vervollständigung der Wortliste im fol¬
genden eine Reihe von Ergänzungen, wie sie sich mir durch eigene Sammlungen
oder persönliche Kenntnis der Berliner Mundart ergaben, und hoffe dadurch dem
Werke am besten zu dienen. Denn gerade bei diesem Teile ist möglichste Voll¬
ständigkeit notwendig. Vorausschickend möchte ich die Wichtigkeit von Verweisen
betonen, die die Handlichkeit eines Werkes bedeutend erleichtern und deren Aus¬
bau auch bei diesem Buche dringend erwünscht ist; so fehlt bei lunte ein Verweis
auf riechen, bei drippen auf Macbeth, hemd auf besser, kind auf schaukeln usw.;
die Verweise von fachmann auf laie, von bejießen auf pudel sind blind. Ferner
wäre eine stärkere Berücksichtigung der sprachlichen Dubletten sehr am Platze;
für latichte sagt man auch latuchte, für deibei auch deubel, für knilie auch knülle*
für balbutz auch barbutz usw. Andrerseits dürfen rüde und riedig aus sprachlichen
Gründen nicht getrennt werden. Zum Wortbestande selbst möchte ich folgendes
ergänzend bemerken: Aasknochen, Schimpfwort (Glaßbrenner, Holzhauer)— abend:
abens immer, nachts sowieso, als prahlerische Beteuerung — abfahren: der is bei
mir abjefarn, hat kein Glück bei mir gehabt — abkanzeln, schelten — achteck
1. Leipziger Platz (P. Lindau, Nur Erinnerungen). 2. Kaffe achteck, Bedürfnis¬
anstalt, vgl. Wellblech — affenflöte, Zigarette (Maußer, Soldatensprache S. 64) —
alexander, Soldat des Alexanderregiments — anpurren, anzappen — ansieht, Ansichts¬
karte: schreib mal ne ansicht! — appelbrei: ick hau dir zu appelbrei, als Drohung
— äppelkähne, große Schuhe, vgl. oderkahn — aufjabeln, zufällig treffen — anvettern*
anvetterinicheln — Backe: au backe, mein Zahn! Ausruf der Verwunderung —
bauchbinde, stud. Farbenband — bedeutend, sehr (Glaßbrenner, Unterhaltungen) —
behauptung: an mangelnder Behauptung leiden, wenig Haarwuchs haben — be-
schlafen, etwas bis zum nächsten Tage überlegen (Glaßbrenner, Fuhrleute) — sich
beschwipsen, sich betrinken — blasen, trinken (Glaßbrenner, Nachtwächter) — blusen¬
freund, in der Schülersprache für busenfreund — boom: ick bin ooch nich von
boom jeschüttelt, nicht auf der Straße aufgelesen (Glaßbrenner, Unterhaltungen) —
brüllen: det is ja zum brüllen, sehr komisch — budenkameh Zimmergenosse, (stud.)
— bullig, sehr; vgl. ochsig — Daneben jelingen, daneben jlicken, mißglücken —
dözelack, Dummkopf (Glaßbrenner, Nachtwächter) — dröge f. ist urspr. adj. — dralle
fein: dralle anjezojen sind (Glaßbrenner, Hökerinnen) — dreh: der hat’n dreh raus
der weiß, wie die Sache gemacht wird — durchtuten, mußte der Nachtwächter sein
Revier bei Feuerlärm (Glaßbrenner) — Ede, halt dir fest an’n rettungsball!
*) Hans Georg Meyer, Der Richtige Berliner in Wörtern und Redensarten.
9. Aufl. von Dr. S. Mauermann. Berlin, Hermann X- Co. 1925. VIII, 272 S. 8°, geb. CM.
Kleine Mitteilungen.
A7)
Ruf, wenn jemand stolpert ei: unjelejte Eier, Dinge, die noch nicht spruchreif
sind (Glasbrenner, Unterhaltungen) — einochsen 1. jmdn. einpauken (schülersprachl.)
:2. etw. auswendig lernen (ebso.) — ecke: der is uni de ecke, verbummelt — eniil:
blauer emil, Verkehrsturm auf dem Potsdamer Platz — EefTerprinz. Kaufmann (Glaß-
brenner, Hökerinnen) — feife: er hat ’ne gute feife, kann gut pfeifen (schülersprachl.)
- ferd: ulfn hohen ferd sitzen, eingebildet sein — festrübe, Salonlöwe (allgemein
gebräuchlich auch für eine gute und grobe Zigarre. Hsg.) — fickfack, Unsinn, vgl. lack-
fack — fmger: linf finger und een jriff, stehlen (Glaßbrenner, Szenen u. Gespräche)
— finster, schlimm, übel: det is ja finster! Höhe f. der Floh (Glaßbrenner, Moabit)
frack: jmdrn. den frack vollhauen, ihn verprügeln — fuhrwerken, hantieren (Gla߬
brenner, Eckensteher), - futieral, Bett: lej dir man in dein (keusches) futteral!
Holz beschn, Prügel bekommen (Glaßbrenner, Moabit) — holzwcech: uffn holzweech
sind, irre gehen (ders., Holzhauer , — Jardinenpredicht, Strafrede jartenvajniejen,
Wirtschaftsgarten t Glaßbrenner, Schnapsläden) — jeduld überwindet Sauerkraut,
Sprichwort (ders., Guckkästner) — jeschmack: mit jeschmäckern läßt sich nich
meckern = de gustibus non est disputandum — jlashaus: im jlashaus sitzen, an ex¬
ponierter Stelle stehen — jötterspaß, guter Witz (Glaßbrenner. Sonntag in Tenipel-
hof) — jungferntrost, Luftballon (Maußer, Soldatensprache S. ßl) — jurjelvajnüjen.
Schnaps (Glaßbrenner, Nachtwächter) — Kalfestippe, machten sich die Kinder aus
Semmeln und Kaffee (Lindau, Nur Erinnerungen) - Kasernopel, Potsdam (Gla߬
brenner. Szenen und Gespräche) — keepein, mit dem Stuhle wackeln — kegelklub,
wie jesangverein — klatschen, ausplaudern - kleben bleiben, sitzen bleiben, repe¬
tieren müssen (schülersprachl.) — knallmaxe, Franzose im Stellungskrieg (Maußer,
Soklutensprache S. 18) — knickbeenrich, gebrechlich (Glaßbrenner, Guckkästner) —
knickstiewelich, geizig — knuffig, geizig kommersch, Unruhe, wildes Leben (Gla߬
brenner, Hökerinnen) — küchenbesen. Dienstmädchen (ders., Moabit) — kyritzer
Vollblut, langer Biedermeierüberrock (ders., Hökerinnen) — Lackmeiern, betrügen:
ick bin gelackmeiert! — laden, m.: einem den laden vollhauen vgl. frack — land¬
wehrloden, lange Haare, vgl loden — ludendorf wurde Neukölln im Weltkriege
scherzhaft genannt, bes. nachdem das schlesische Zabrcze sich in „Hindenburg u
umgetauft hatte — losschießen, anfangen: schieß ma los! — Meckern: meckre nich!
sei still! — messingjunge, Messengerboy — mitternachtsvase, Nachtgeschirr
möblemang, n die Möbel — munter, frech: sei nich so munter! — murksen, müh¬
sam kriechen: er murkst so rum — Nachhocken, nachsitzen (in der Schule) —
nappkuchen, einfältiger Mensch — nase: 1. ick wer’ mir in de nase beeßen! Form
■der Ablehnung. 2. eine nase machen ist nicht das Gleiche wie einen esel bohren
(S. 128): dieses besteht im Andeuten von Eselsohren in der Luft, jenes im Anlegen
der gespreizten Hand an die Nase — nasenwärmer, kurze Pfeife — nauke: haut den
nauke! Ruf bei Prügeleien — neelen, zaudern, trödeln (Glaßbrenner, Unterhaltungen)
— Offizier, alte Schnapssorte (ders., Schnapsläden) —onkel, heißen auch die Spa߬
macher bei Kinderfesten: der beliebte Onkel Fritze — Packesel, dem man alles auf-
lädt (Glaßbrenner, Moabit) — perjamotter, Barometer (ders . Köchinnen) — person
als m.: der mannsperschon (ders., Hökerinnen) — pezen, laufen — pinsel, Dumm¬
kopf (Glaßbrenner, Szenen u.Gespräche) — portier, s.stumm — pose, Bett: raus aus den
posen! — pudelmunter wie putzmunter — Ran an wat! Aufmunterung* zur Arbeit.
— rinnsteenschwenker, Cutaway — ruppsack, grober Kerl, ungezogenes Kind —
russenschaukel, der Autoomnibus Linie E, der in der Nachrevolutionszeit besonders
viele Russen beförderte — a la Schafkopp, Haarfrisur (Glaßbrenner, Szenen und
Gespräche) — schikanisieren, quälen (ders , Holzhauer) — Schildkröte, Eckensteher
(nach dem Nunimerschild, das sie auf dem Rücken trugen) (ders., Eckensteher) —
■schlawittken. Kragen (ders., Nachtwächter) — schofel, m. Dreck (ders., Fuhrleute) —
sich schrauben, sich zanken (ders., Schnapsläden) — schule: hinter de schule jehn
schwänzen (ders., Guckkästner) — schwabben, bis an den Rand gefüllt sein (ders.,
Unterhaltungen) — schwoof, kommt weder von schweifen noch von schweben
(S. lßo), sondern von schwoof-schwanz, die Urbedeutung ist wohl obszön —
schwummerig 1. schwindlig, 2 unsicher — sirupjee, Kramwarenhändler (Glaßbrenner,
Hökerinnen) — sonst: ick wer’ dir sonst wat! euphemistische Ablehnung einer
Bitte — Spatzenhirn, geringer Verstand — stummer portier, Orientierungstafel im
Treppenhaus — Tabagie, Wirtshaus (Glaßbrenner, Nachtwächter) — tapermichel,
tapergreis. hilfloser Dummkopf — trillern: bei dir trillert wohl? du bist wohl ver-
46
Müller, Polivka:
rückt? — sich ulhalsen. sich aufbiirden — ufscheucrn, Teller abwaschen (Glaß-
brenner, Köchinnen) — Viereck, Pariser Platz (Lindau, Nur Erinnerungen) — Zähmen:,
sich eenen zähmen, ein Glas trinken. — Soweit die Ergänzungen zu den einzelnem
Artikeln, von denen fast jeder volkskundliches Mateiial enthält. Die Umschlag-
zeichnung des Einbandes, die dieses Mal von Fritz Koch-Gotha stammt, scheint
uns den früheren gegenüber keine Verbesserung zu bedeuten.
Heidelberg. Lutz Mackensen.
Zitronen und Leichen.
Den kurzen Bemerkungen A. Wirths oben 32, 104 über den anhaitischen Brauch,
dem Toten eine Zitrone in die linke Hand (und einen Rosmarinstengel in die rechte)
zu geben oder eine Zitrone auf die Brust zu legen, in die mit schwarzköpfigen
Stecknadeln die Anfangsbuchstaben seines Namens gestochen waren, möchte ich
einige Hinweise zugesellen, die die weitere Verbreitung und das Alter der Sitte er¬
halten.
Vor allem sind die Mitteilungen von 0. Schell in der Ztschr. d. V. f. rhein. in
westf. Vk. 1 (1906), 220IL, hauptsächlich für Nordwestdeutschland, 5, 209 ff. für das
Bergische (Barmen und Hamburg bis 186b) wichtig. Sartori, Sitte und B auch 1,.
136, 40; 142, 10 führt noch andere Zeugnisse an. Einiges habe ich im Obersächs.
Wörterbuch 2, 709 vermerkt. Nach der Leipziger Zeitung 1901 Wissensehaftl.
Beilage S. 558 wird in Sachsen der Leiche eine Zitrone unter das Kinn gelegt,
weil sich sonst der Mund öll'nen und der Tote keine Ruhe im Grabe haben würde.
Jean Pauls Siebenkäs, Kap. 11 a. E. stellt sich seine verstorbene Mutter vor, die
„mir eine Zitrone, von der sie im Sterben dachte, sie werde sie in den Sarg be¬
kommen, in die Hände legte und mir sagte, ieh sollte die Zitrone lieber in meinen
Blumenstrauß stecken. a Im Titan 4, 100 (18, 472 Hempel) sagt ein Küster: Wenn
jemand stirbt, so bekommt der Pfarrer und meine Wenigkeit eine Zitrone und so-
auch die Leiche. Wird aber jemand getraut, so bekommt die Geistlichkeit und so
auch die Braut desgleichen. Das ist bei uns so Sitte. Ein Schulmeister äußert
sich bei Kotzebue 1816 Der gerade Weg 11 (7,94): Meine verehrte Frau Pastorin
werden verzeihen, daß ich nicht im feierlichen Ornate, weißbehandschuht, mit einer
Zitrone in der Hand erscheine, sintemal ich vorläufig nicht Schulmeister (= Leichen¬
bitter), sondern Mercurius bin. Vergl. 0. Richter .1922 Freuden eines Arbeiter¬
kindes, S. 50: Der Ritter von der Nadel, der als salbungsvoller Grabebitter mit der
Zitrone in der Hand vor dem Leichenwagen einherschritt (noch nach 1850 in Meißen).
Raabe 1860 Leute a. d. Walde 23 (1,5, 2 ö 0): beim Begräbnis des Tischlermeisters.
Tellering folgt ein langer Zug Handwerksgenossen, Zitronen auf den Handwerks¬
emblemen tragend. Bei G. Büchner, Woyzeck (Sehr. 181) sieht sich ein Hauptmann
als Toten: Ich sehe schon die Leute mit den Zitronen in den Händen. E. Weiß,.
Die Entdeckung des Volks der Zimmerleute S. 33: Bei Begräbnissen von Zimmer¬
gesellen schreitet dem Sarg voran ein Trupp mit Winkeleisen, Hammer und Hobel,
auf welchen Zitronen gespießt sind. Diese werden dem Toten mitgegeben — also-
wie nach Schell in Mittelschlesien. Daß in Schlesien die Toten Zitronen mitbe¬
kamen, zeigt Gryphius, Verl. Gespenst 2, Y. 263 (2, 281), wo der zu sterben be¬
gehrende Sulpice sagt: 0 Chloris, schönste Blume auf meine Totenbaar Ruff
allen! Doch gib mir von den verdachten Früchten die große Zitronat! Dann aber
(S. 283) „schmeißt er die Zitronat hinweg“. Die Rolle der Zitrone bei Leichen¬
begängnissen erklärt sich aus ihren fäulniswidrigen Eigenschaften und ihrem starken
Geruch (s. Ztschr. f. d. dtschen Unterricht 25, 573 f.), zum mindesten diente sie zur
Bekämpfung des Ekels, vgl. Hermes 1789 Liter. Märtyrer I, 320: wie beim ge¬
wöhnlichen Ekel einem wohl wird, wenn man eine Zitronenscheibe kaut; nach
Heine, Rabbi von Bacharach (4, 481) dienten den Juden an Fasttagen Zitronen,
mit Gewürznägelchen durchstochen, zum nervenstärkenden Anriechen; ja, sie wurden
sogar als Schutzmittel gegen die Pest gebraucht: nach Westermanns Monatsh. 61
(1917) Nr. 62, S. 791 trug um 1860 in Hessen der Pfarrer bei einer Leiche (= Be¬
gräbnis) eine Zitrone und einen Rosmarinzweig in der Hand wegen der früher
herrschenden Seuchengefahren. Die gleichzeitige Verwendung des Rosmarin kann
diese Erklärung nur bestätigen, er hat eine Unheil abwehrende Kraft (s. außer Sartori
Kleine Mitteilungen.
47
auch Marzell 192:2 Die heimische Pflanzenwelt im Volksbrauch S. 39, 4D, 45 . Die
dem Toten in den Sarg mitgegebene Zitrone sollte wohl den Leichengeruch \or-
hindern, nach außen zu dringen. Der Glaube, daß das Einatmen eines bestimmten
Geruchs (eines Apfels im Buche vom Apfel des Pseudo-Aristoteles, s. Hertz, Abh.
üb\ f.) das Sterben verzögere, hat sich mit der Zitrone nicht verbunden: daher ist
die Annahme, daß weiterhin die Zitrone ein Symbol des neuen Lebens des Abge¬
schiedenen sei (Ztschr. f. d. dtsch. Unterr. 25. 574), ohne Grundlage. Mystisch und
künstlich aber erscheint die Auffassung der Zitrone als eines „sakramentalen Opfers*,
womit Schell ihren Gebrauch bei Hochzeiten erklären will (a. a 0.1, 2*24 f.). Will
man sich nicht mit dem Glauben an die jegliche schlimme Einwirkung verhütende
Kraft der Zitrone und des Rosmarin begnügen, die sich bei dem Eingehen einer
Ehe wie auch bei der Taufe eines Kindes bewähren soll (Sartori 1, 3b, >0). so
kann man an die reinigende (desinfizierende) Kraft des ätherischen Öls von Ros¬
marin (u. Thymian) denken, die nach Hovorka und Kronfeld, Vergleich \ olks-
medizin 1, 5 \ bei der monatlichen Reinigung und der Vereinigung der Liebenden
von Einiluß sein soll: dieser würde durch die Zitronen noch verstärkt. Von den
festlichen Zügen der Teilnehmer an Hochzeiten und Taufen ist der Gebrauch der
Zitrone auch auf andere Festzüge übergegangen, bei denen eine Abwehr von Dä¬
monen u. dgl. weniger in Frage kommt; so wenn Eyth, Schneider von Lim 2, 10*2
berichtet: Beim Festzug zum Fischerstechen in Ulm schritten festlich gekleidete
Fischermädchen, jedes mit einer Zitrone in der Hand. — Bei Kindtaufen waren
übrigens auch Muskaten im Gebrauch, s. Obersächs. Wb. *2, 201.
Dresden-Strehlen. Carl Müller.
Zur Sage von der Wiederbelebung eines Fisches
lesen wir eine interessante Variante in einer jüngst erschienenen Sammlung ser¬
bischer Erzählungen und Schnurren: Kicine price (Belgrad 1923, S. 11): „Wie sind
die Forellen entstanden?*
Einmal gingen der Sultan, die Sultanin und sein Wesir etwas weiter aus der
Residenz spazieren und kamen ins Gebirge. Dort gefiel es dem Sultan sehr, und
er befahl dem Koche, am Bache ein Essen anzuriehten. Schon nach einer halben
Stunde saßen sie bei Tische. Schließlich legte ihnen der Koch noch drei schöne
gebratene Fische vor. Als der Sultan sie betrachtete, fragte er, ob man sie wohl be¬
leben könne. Hierauf entgegnete der Koch, es könne geschehen, wenn alle drei
aufrichtig beichteten und ihre Wünsche kundgäben. Als sie nun alle drei dies taten,
sprangen die drei gebratenen Fische augenblicklich in den Bach. Das A olk erzählt,
es seien das Forellen gewesen, welche nur in den Gcbirgswässern leben und am
Rücken bunt aussehen, wie gebraten.
Eine bulgarische Sage knüpft an die Belebung eines gebratenen Fisches die
Entstehung der Meerfischc an, die an einer Seite dunkel gefärbt sind, an der andern
aber, wo sie noch nicht gebraten waren, heller. In dieser Sage ist die Belebung
der Fische wie auch des Hahnes 1 ) mit der Errichtung der türkischen Herrschaft ver¬
bunden (Sbornik za nar. uiotvorenija, Bd. 10/17, Mater. 308). Ziemlich gleich wird
das auch in Mazedonien von Konstantin ohne die Deutung der vorherigen Er¬
zählung berichtet (ebenda, S. 310). Eine gleiche Sage hat Tih. T Gjorgjevir aus
türkischem Munde^ in Xisch aufgezeichnet, wie auch im Bezirk Pirot in Serbien
(Godisnjiea Nikole Cupica 24, 284). Dort heißt es auch, daß es im Meere solche
Fische gibt. Von Forellen ist es, soviel ich weiß, sonst nicht belegt.
In den neutestamentliehen Natursagen wird häufig die Entstehung der Scholle
ebenso erklärt (Dähnhardt, Xatursagen 2, 2 f. *269).
D Vgl. Dähnhardt Xatursagen 2, 3. 84; R. Köhler Kl. Sehr..“», 223. 039.
Prag. Georg Polivka.
4b
Polivka, Zieseiner:
Kine neue Teufels-Legende aus dem modernen Rußland.
Aus einem Aufsalz von M. Pri>vin in der Revue „Krasnaja Nov“ Nr. 2, Marz 1924,
entnehmen wir folgende merkwürdige Nachricht: „In einer Reihe von Sagen wird
von der Geburt des Teufels erzählt. Er wird von einer Bäuerin geboren, deren
Mann ein Kommunist war, die Heiligenbilder zerhieb und ins Feuer warf. Dieses Holz
will natürlich nicht brennen. Das Weib wundert sich: „Welch ein Wunder!* Aus
dem Herd ertönt eine Stimme: „Das ist noch kein Wunder; in drei Tagen wird es
sich zeigen!“ In drei Tagen gebar das Weib einen Teufel, — er war ganz zottig.
Sie wollten ihn loswerden, warfen ihn im Walde weg, doch als sie nach Hause zurück¬
kehrten, fanden sie ihn auf der Bank. Er lachte: „In zwanzig Tagen wird erst ein
Wunder geschehen!“ Die Leute wußten nicht, was mit ihm anzufangen wäre, da
kam die Behörde und arretierte den Teufel.“ In einer Variante meint der Teufel,
daß sei die Strafe dafür, daß sic die Heiligenbilder zerhieben und ins Feuer warfen,
und ermahnt sie, sie sollen beten, in sechs Tagen werde ein Wunder geschehen. In
einer dritten Variante wird der geborene Teufel genau beschrieben und hinzugefügt,
daß er schließlich ins Museum gebracht wurde. Nach einer Zeitungsnachricht drängten
sich wirklich die Leute vor dem Museum in Wologda, um den Teufel zu sehen.
Diese Sage verbreitete sich rasch durch ganz Rußland bis in die Ukraine, wo
die Geburtsstätte des Teufels in verschiedene Gegenden verlegt wird, in das Gouver.
Perm oder Jaroslaw oder endlich Kostroma, woher eben die drei Versionen stammen.
Später wurde sie noch im Gouver. Tver in Rzew aufgezeichnet Dort wurde an¬
geblich ein Schwein mit einem menschlichen Kopf geboren, vom Bauern getötet und
dieser dafür, daß er eine menschliche Seele umgebracht hat, erschossen. Auch der
Priester wurde erschossen, weil er die Geburt eines solchen Mischwesens vorher¬
gesagt habe. Es heißt noch, daß eine besondere tierärztliche Untersuchung dieses
Wesens stattgefunden habe, und zwar im Jahre 1921 am 14. Oktober, und das darauf
bezügliche Protokoll wird an der angeführten Stelle zitiert, eine ganze Reihe von
Ärzten genannt und das Untier genau beschrieben, wobei freilich betont wird, daß
nicht die geringsten Zeichen vorhanden seien, wonach die Meinung begründet wäre,
daß das Schweinchen menschliches Gesicht und Kopf gehabt hätte. Auch im Gouver.
Smolensk war eine solche Sage bekannt; dort hätten sie den Teufel in einer Kiste
nach Moskau in das Museum geschickt. Es wird noch von der Frau eines ehe¬
maligen Kriegskommissars erzählt, daß sie ihrem Söhnchen ein Kreuz an den Hals
gehängt, um ihn vor der Verwandlung in ein Tenfelchen zu behüten.
Prag. Georg Polivka.
Drei Liebeslieder des 17. Jahrhunderts 1 ).
1. Dein 2 ) Schönne gestalt, mein höchster hört, du bist mein Schatz auf erden; Do
es nach Gottes willen geschieht, so solttu mein eigen werden.
2. Ohn dich allein, mein Schönstes lieb, kan ich durchaus nicht leben. Gewere
mich Gott ohn allen spot, du werest mir gleich eben.
3. Rühmen muß ich ihr Treu gemuth, dz sie mir thut tragen. Ach Got, die mir
gar wol behüt, sollen wier ein ander haben!
4. 0 dz ich nur auf dieser erdt [sie] mir selbst möchte gewinnen 3 ) vnnd mir sie
wehre von Gott beschert, ehe den ich scheide von hinnen.
5. Trew biß in Todt in angst vnd Nohtt von dier nicht abzulaßen 4 ), Erkenne mein
gemuht, Mein schönes lieb; sonst wird dich Gott darumb straffen.
6. ErÖffen dein Hertz ohn allen schraertz, dz thu ich dich itzt bitten, Deindwegen
leidt ich großen schmertz, woist mich auß noht erretten.
7. Ach wie könt sein in meinem sin, dz ich dein soltte vorgeßen; kein augenblick
geth mihi* dahin, ich thu mich dein vermeßen.
1) Gefunden von Herrn Dr. Hein in Akten der Oberratsstube im Staatsarchiv zu
Königsberg i. Pr.
2) Str. I—7 enthalten das Akrostichon l Dorotea\
Ä) gönnen.] Hs.
4) Lies etwa: will ich von dir nicht lassen.
Kleine Mitteilungen.
49
3. Mein Einiger Tro*>t, Edel vnd Schon, merck diß auß guntzcn Treuen, Laß mich
nur ein schlecht word verstehn, cs soll dich nicht gereuen,
0. Wunsch dir hiemit Viel gutter stund, mein Außerweide auf erden; der liebe Gott
spar dich gesund, du sollt mein eigen werden.
1. Allein hab ich dich außerweldt, mein einiges hertz auf eiden. Zu Trost vnd
freudt auf dieser erdt, ich hof, du sollt mein werden. Han du bist eingetrucket
biß in dz hertze mein vnd bleibst auch vnvorruekt biß an dz ende mein.
2. Gar kan ich dich vorlaßen nicht, du schon vnd frommes 1 ) medelein, vnd ob man
schon drumb hasset mich, kan ich dier nicht feindt sein. Schons lieb, halt du
nur feste vnd laß nicht ab von mir, gleich wie der bäum sein este; deß wil
ich danckcn dier.
o. Ach hertz, ich bit, schenk mir dein gunst vnd laß mich der genießen, laß dich
nicht lieb haben vmbsonst: dir bin ich gantz geflissen, die lieb kombt von
hertzen, laß nicht vorlohren sein; es bringt sonst großen schmertzen dem düngen
hertzen mein.
4. Kein vnd clar seindt die eugelein dein, die mich freundlich anblickcn, schon
weiß dein Kiiel vnd hcndelein. Thust mich gar offt erquicken. Roßenfarb seindt
die wenglein dein, darin zwev grublein holl, dartzu ein Kodes mundelein, dein
lachen zirdt dich wohll.
5. Traut schon Jungffrau, so zart vnd fein, hör. wz ich dier thu sagen, du reuest
mich, schönes Medelein, dz du dein Junge Tage Also halt soll verschertzen;
erwart der Zeit vnd ehr, wird dich noch wol ergötzen, wenn mir Got hiilfft
zu dier.
V>. Schon zartes bilt, mein edler hört, Wz schenkst du mir zu letze? 2 ) Ein Krenzlein
vnd sehr freundliche Wordt, damit ich mich ergötze? Hiemit scheidt ich von
hinnen; ob ich schon traurig bin. nach Regen scheint die Sonne, Ade, ich fahr
dahin.
1. Ach Gott, ich thue diers klagen, dz keine lieb ohne Leiden niemants mag wieder¬
fahren. Gleichwoll mit vnderscheiden, lieb ist leides anfang, Lieb ist ein harter
Zwang, kein Lieb kan sein ohn Leiden, es sey gleich kurz oder lang.
Lieb ist ein schwerer orden, wer sich drein geben wil; deß bin ich innen wortten
mit angst vnd Jammer viel. Lieb ist ein schwere Pein, obs gleich liatt süssen
schein, dz hatt auch woll erfahren, dz Junge hertze mein.
3. Hertzlich raus ich mich betrieben, schmcrtzlich biß in den Todt, mit meine[m]
Treue[n] liebe[n], veracht soltt sein mit spott, Gcdenck lieb beideß hertz,
welches bringet großen schmertz, Wcrs einmahl hatt erfahren, wirts haltten für
keinen schertz.
4. Ein Rechte Lieb vnd Trewe ist, wen sich Zwei gebliit verwandeln ohne scheue
in ein einniges gemuht, vnd bringen sich zusammen in stetter liebes Harn, da
den Zwey lieb thun wohnen ln Gottes herren Nahm.
5. Cleffer die thun mich neiden, Fuchsschwent?[er] hab ich viel, die mir wollen
abschneiden mein Treue, ehr vnd auch Ziel: Aber ich hoff zu Gott, dz der
noch schandt vnnd spott auf seinem Rucken soll tragen, der mich itzt bringt
in Xohtt.
G. Viel vntreu vnnd falsche Tücke, leidt ich in dieser weldt; \ielleicht ist es mein
glücke, weil dies mein Gott gefeilt. Ich hoff, zu deiner Zeit du wirst mein
hertzen Leidt Nach deinem Göttlichen willen verkehren auch in freud.
1 ‘frommes* getilgt, ‘schon vnd* verbessert in ‘adioneß*.
*2) zue leste.] Hs.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1025.
4
50
Brückner:
7. Vngeluck ist mir nachgelaufTen, vngcluck mcin[er] lengst wardt, vngeluck hat
mich getroffen, vngeluck truckt mich so hartt, Elendt ist mir bescherdt, Elendt
sich stedtiges mehrtt, Elendt muß ich doch bleiben, biß man mich tregt zur erd.
8. Hiemit will ich bcsehlissen diß liedt in Lcidt gemachtt, ich bitt nimb dier ein
gewissen vnnd meune Trew nicht vcrachtt, brich ich meine Trew ann dir, so
Rechens Gott an mir, hie zeitlich vnnd dorth ehwiglich. Daß sey geschworen dier.
Königsberg i. Fr. Walther Ziesemer.
Berichte.
Neue Arbeiten zur slawischen Volkskunde.
1. Polnisch und Böhmisch.
Nach zehnjähriger Unterbrechung (vgl. oben 20, 878—3*5) nehmen wir unseren
Bericht unter völlig veränderten Bedingungen wieder auf. Haben doch polnische
und böhmische Forscher selbst, in deutscher oder französischer Sprache, die Er¬
gebnisse und namentlich die Bibliographie aller ihrer volkskundlichen Arbeiten und
Beiträge veröffentlicht, in einer solchen Fülle, mit solchem Eingehen auf lose Auf¬
sätze sogar in Zeitschriften und Zeitungen, daß mit diesem Reichtum das in Berlin
zusaramenzutragende Material gar nicht wetteifern könnte. Es sei hier verwiesen
z. B. auf die Artikel von Jiri Horäk, Les etudes ethnographiques en Tscheco-
Slovaquie. Litterature populaire. Coutumes et croyances, Revue des etudes slaves,
Paris 1 (1921), S. 71—97, und La civilisation materielle, ebd. S. *228—286. In der
neuen, von M. Vasmer in Leipzig her/usgegebenen „Zeitschrift für slavische Philo¬
logie“ 1, zweiter Halbband, erscheint von Dr. A. Fischer in Lemberg (vgl. u.) der
Artikel: Die polnische volkskundliche Forschung 1914 — 1924. ln der Prager Slavia,
Band 2 (Prag 1923), S. 154—174 und 548—552, gab Prof. J. St. Bystroh (vgl. u.),
allerdings in polnischer Sprache, einen erschöpfenden Bericht (in 10 Rubriken) über
polnische Volkskunde im Dezennium 1912 — 1921. Unter solchen Umständen kann ich
darauf verzichten, alle Einzelheiten aus den Jahren 1910—1924 nachträglich zu ver¬
zeichnen, da ich doch auf Vollständigkeit keinerlei Anspruch erheben kann; ich ziehe
es vor, etwas ausführlicher über Wichtigeres von bleibendem Wert zu berichten.
An erster Stelle sind wegen ihrer Tragweite zu nennen die in den verschiedensten
wissenschaftlichen Publikationen erscheinenden Artikel von Prof. R. Ganszyniec in
Lemberg. Sie betreffen vorläufig gar nicht die polnische Volkskunde speziell, sind
aber polnisch geschrieben, und daher ist hier über sie zu berichten. Prof. Ganszyniec
ist klassischer Philologe von geradezu phänomenaler Belesenheit, namentlich in allem,
was Magie, Aberglauben, Kultur überhaupt berührt, und von glänzendem Scharfsinn.
Er vertritt im Gegensätze zu jeder andern eine streng historische Methode und er¬
klärt aus ihr heraus den Aberglauben als etwas ebenso Vernünftiges und Begrün¬
detes, wie jeder weltliche Brauch und Sitte, und verwirft mit Recht alle bis heute
vorherrschenden mystischen, symbolischen Erklärungen, indem er einfach den Aber¬
glauben soweit historisch zurückverfolgt, bis sich dieser in einem größeren Zusammen¬
hang als etwas durchaus Rationales erweist. Z. B. die Alten streiften beim Mahle
oder im Schlafe oder den Toten die Ringe ab, Pythagoreer trugen sie überhaupt
nicht und erklärten dies symbolisch, und ihre Erklärung wird bis heute unwider¬
sprochen wiederholt; Ganszyniec hebt einfach hervor, daß in alter Zeit keine Ringe
getragen wurden (noch Homer kennt sie nicht), und das Festhalten an diesem alten
Brauch bei besonderen Anlässen erklärt vollständig den Aberglauben, etwa wie,
füge ich hinzu, die Feuersteinmesser bei rituellen Handlungen gebraucht wurden,
obwohl sie im Leben längst von metallenen verdrängt waren. Oder es trug der
Flamen einen pileus aus der Haut des Opfertieres; Diels und Samter erkennen
darin eine Substitution des Opfernden und des Opfertieres, dessen Tod die Gnade
der Gottheit dem Opfernden sichert. Aber dieser pileus war eben die alte National-
Berichte.
51
tracht, die sich nur beim Flamen (und Freigelassenen) erhielt und naturgemäß dem
Priester vom Opfertier her zukam; so fällt alles‘Transzendente’einfach weg. Oder
er bestreitet die Möglichkeit phallischer Kulte, da die Lieder selbst, die phallica,
einfache religiöse Hymnen, nichts Anzügliches enthielten: nach uralter Sitte war
eben dem Dionysos die Holzsiiule geweiht, an der oben eine Art Kopf eingeschnitten
war, und diesen Holzpflock nannten die spöttischen Athener phallos, ohne daß er
je etwas mit dem Gliede selbst gemein gehabt hätte. Dagegen ist der phallos in
der Tracht der Komödie einfach das uralte penis-Futteral, getragen einst bei allen
Wilden (auch in Aegypten), erhalten in dieser traditionellen Tracht. Doch will ich
die Beispiele nicht mehren. Die Erklüiungen leuchten meist von selbst ein; ich
holle nur, daß der Verfasser Ausführlicheres in einer Weltsprache Vorbringen wird;
kurze prinzipielle Auseinandersetzungen s. im Lud '21. 183—202; speziell über den
aus dem Oriente zu Griechen, Etruskern, Römern gekommenen Fingerring in den
Berichten der Lembergcr Gelehrten-Gesellschaft 4, 40 — 61 und Lud 22, 3? ß2 (‘Der
Ring im Volksglauben des Altertums und Mittelalters*, eine Erweiterung seiner Aus¬
führungen über‘Ringe im Folklore’ in Paulv- Wissowa's Realencyklopädie s.v. Ring;
vgl. ebd. seinen Artikel über Katabasis d. i. der Hadesabsticg. wo jene Prinzipien
nur kurz angedeutet sind und das stupende Wissendes Verf. hervortritt). Er plant
Arbeiten über christliche Magie als Fortsetzung der heidnisch-klassischen, gab als
L Studie die Beschreibung eines über zwei Meter langen Zaubergürtels (eines
poln. Ritters aus dem 1“ Jahrh., im arehäolog. Kabinett der Warschauer Universität)
der auf der einen Seite magische Quadrate und Zeichnungen, auf der anderen Ge¬
bete und Formeln enthält, n. d. T. Pas magiczny. Lemberg 1922. 57 S. und 4 Tafeln
(Archiv d. Lemb. Gel.-Ges., I Philologie); natürlich kommt in den Quadraten auch
das bekannte Sator arepo tenet usw. vor. Zuletzt nenne ich dessen Ausgabe des
Anlipocras und der Experimenta des Frater Nicolaus de Polonia (‘Brata Mikolaja
z Polski pisma lekarskie’, Posen 1920. S. 23G): ein deutscher Dominikaner in einem
Kloster Polens um 1280 verfaßte in Leoninen einen gegen die Ärzte gerichteten,
seine eigenen Amulete verherrlichenden Traktat, erhalten in einer einzigen Berliner
(höchst liederlichen) Abschrift aus dem 14. Jhdt.: die Experimenta (Rezepte) in Prosa
sind hdsehr. sehr verbreitet, H Diels hatte den Antipocras in den Berliner Sitzungs¬
berichten 1916 herausgegeben — die mit ausführlichstem Kommentar versehene
neue Ausgabe ist unendlich besser; Metrum, Sprache, der kulturelle Hintergrund
für das Auftreten dieses Doktor Eisenbart, sind musterhaft behandelt. Nur müssen
aus dem Schlußteil des Gedichtes die frommen Leoninen gestrichen werden: ein
Leser hatte sie sich am Rande zugeschrieben, der Kopist sie in den Text aufge¬
nommen; nur dann ist alles in bester Ordnung. S. 167—222 enthält, aus der ein¬
zigen Hdsehr. der Vaticana (früher der Palatina-Heidelberg), einen deutschen Traktat
aus dem 15. Jhdt. ..Dyss ist ein hübsch Cyrurgia dy do bewert ist von meyster
Niclas von Monpolir usw. Ich füge gegen Ganszyniec hinzu, daß Nicolaus de Polonia,
der ^ erfasser des Antipocras (nicht auch der Experimenta?) niemals in Montpellier
gelebt oder studiert hat: die H. haben dies erfunden, um dem Charlatan eine größere
Weihe zu sichern und ihn 20 oder 30 Jahre dort wirken lassen. Der Kommentar
bringt eine Fülle von Parallelen aus der alten Volksmedizin und — Dreckapotheke.
Im Lud 21, 2*28—232 handelt Ganszyniec über Schlangenkronen und druckt einen
deutschen Text aus einer Berliner Hdsehr. des 16. Jhdts. darüber ab: eine wesent¬
liche Ergänzung der Abhandlung von H. Pogatscher, Cher Schlangenhörner und
Schlangenznngen im 19. Jhdt., Rom 1898.
Über die auf weitestem ethnographischen Hintergründe ausgeführten Arbeiten
von St. Ciszewski habe ich seinerzeit oft zu berichten gehabt; der Forscher war
durch den Krieg lange Zeit seinem Beruf entfremdet und kehrte jetzt wieder zu
ihm zurück. Als erste seiner neuen ‘Studia etnologiczne’ erschien 4 Söl’ (Salz), als erstes
Heft einer Reihe von losen, volkskundlichen Beiträgen, die die alte ‘Wisla’ (Weichsel)
von Karlowicz u. a. ersetzen sollen: Warschau 1922. 91 S. Nach erschöpfenden
Ausführungen über Gewinnen des Salzes resp seine Ersetzung durch Pflanzenasche
bei allerlei Völkern (wobei die Annahme einer einmaligen ‘Erfindung des Salzes’
etwa durch die Ägypter abgewiesen wird) erläutert Ciszewski die Geschichte der
Salzgewinnung bei den Slaven. die ganze einschlägige Namengebung mit allerlei
beachtenswerten Resultaten, den Salzhandel und die Salzhändler und im Anschluß
daran andere wandernde Krämer.
4*
Brückner:
:>*J
Streng fachlich geschulte Vertreter der Ethnologie sind Dr. Adam Fischer und
Prof. Jan A. Bvstroi.. Von ersterem, der zugleich Herausgeber des Lemberger
Lud ist. besitzen wir zwei ausführliche Arbeiten über polnischen Totenkult:
‘Zwvc/aje poerzebowe ludu polskiego' (Bestattungsbriiuche des poln. Volkes), Lemberg,
Ossolineum, 1 9*21.439S. gr 8° ti.’Swieto Umarlych*(Fete des morts), Lemberg, Museum
Dzieduszyckieh, 19*2.3, 7A 8.: französische 'Resumcs' erleichtern auch Fremden Ein¬
sicht. Während das erste Werk hauptsächlich Bolen gilt, ist das zweite allslavisch;
in beiden sorgfältigste Zusammenstellung allen Materials und dessen kritische
Sichtung, sowie Heranziehung von Parallelen aus dem gesamten Westen, zumal
aus Deutschland und Frankreich (namentlich natürlich aus der an Ursprünglichem
so reichen Bretagne). Ohne auf Einzelheiten einzugehen, stellen wir fest, daß
gerade bei den Polen unter allen Sluvcn am wenigsten Altes erhalten blieb: fast
alles Altertümliche gehört Grenzgebieten, namentlich den ukrainischen an; die
Mimische Kirche hat ungleich mehr als die griechische alles Ahe, Fremdartige,
Originale aus dem Totenkult ausgemerzt. Der Verfasser ist sehr vorsichtig in seinen
Ausführungen, trotzdem möchte ich mancherlei beanstanden. Die Ähnlichkeit
polnischer und keltischer Totenbräuche dürfte rein zufällig sein: ob die Slaven von
den Finnen Bäder und Badehäuser entlehnt haben, ist auch sehr fraglich: einige
Etymologien sind sicher unrichtig. Aber es ist die erste in modernem Geiste auf
Grund sorgfältigsten Sammelns durchgeführte Arbeit, die vorläufig noch unvollendet
ist, denn die beiden erwähnten Werke behandeln nur den Eintritt des Todes
(Ahnungen u. dgl.), das Waschen und Aufbahren der Leiche, die Bestattung und
das Totenmahl, die Totenfeste (die jährlichen Feiern, Allerseelen usw.): künftigen
Arbeiten bleibt Vorbehalten, wie sich das Volk den Tod vorstellt, die irrenden
Geister und Gespenster, die Vorstellungen vom Jenseits
Prof. Bystroii hatte sich als Ethnologe bestens eingeführt mit den beiden
größeren Arbeiten über ‘Erntebräuche in Polen’ (Zsvyczaje zniwiarskie \v Polsce,
Krakau, Akademie, 191b, ‘293 S.) und ‘Sluvische Familicnzerenionien’ (Slowianskie
obrzydv rodzinne, Krakau 1917. Akademie, 148 S.). Bei den Erntebräuchen handelt
es sich nicht um Verehrung von Korndämonen dt la Mannhardt und Frazer), sondern
vor allem um Sicherstellung des Fruchtertrages für die Zukunft durch allerlei
Praktiken. Die Erntelieder werden gesammelt und gedeutet. Der Erntekranz (und
die an Anfang und Ende der Ernte geknüpften Feste) werden beschrieben u. dgl. in.
Das zweite Werk greift, wie schon der Titel besagt, weiter aus, umfaßt das gesamte
Slaventum, doch kann ich mich mit vielem nicht einverstanden erklären. Der Ver¬
fasser läßt den Glauben an die Geburtsfeen aus dem klassischen Süden stammen,
während er urslavisch ist: legt viel zu viel Gewicht auf angebliche Isolierung und
Lustration der Wöchnerin und Aufnahme des Neugeborenen in den Gentilverband,
während es sich um einfache apotropaea u. dgl. handelt; denn dieses Werk ist aus¬
schließlich der Geburt (und Taufe, Taufschmaus. Taufeltern) gewidmet: es ist die
erste das ganze slavische Material zusammenfassende und daher sehr verdienstliche
Arbeit. Seine 'Studien über Volksbräuche’ fStudva nad zwyczajami ludowymi, Krakau,
Akademie, 1917, 39 S. aus dem 60. Bd. der histor.-philos. Abhandlungen) betreffen
Bräuche beim Bau der Wohnhäuser und dem Beziehen der neuen Wohnung sowie
Bräuche und Anschauungen in der Bienenzucht: Verfasser leugnet eigentliche Bau¬
opfer, sieht in ihnen nur den Wunsch der Sicherung der Wohnstätte: das Schlachten
von Tieren oder Menschen sollte der Stätte Leben. Dauer überweisen (?): in der
zweiten Studie fesselt ihn besonders die Grausamkeit des alten ’Beuthener-Rechtes*.
Ein interessanter, speziell Krakauer Brauch war das Fest, genannt ‘das Pferd von
Zwierzyniec’ (Vorstadt), gefeiert von den Weichselflößern, angeblich zum Andenken
an siegreiche Abwehr eines Tatareneinfalles, während es in der Tat ein Über¬
bleibsel mittelalterlicher Zunftfeste ist, wie dies der zu früh verstorbene Ethnologe
Fr. Gawelek im Krakauer Jahrbuch (Rocznik Krakowski, 18. 129—181) erwiesen hat.
M. Klinger hat in seinen russisch und polnisch geschriebenen Studien erfolg¬
reich das Nachleben der Antike im modernen Folklore erwiesen; er setzt dies fort
in: Z motywQw wedrownich pochodzenia klasyrznego, serja pierwsza (Wandermotive
klassischen Ursprunges l), Posen 1921. 60 S. * Es handelt sich um die Fabeln vom
Zaunkönig, wie er im Hochflug den Adler überwindet; von der Feindschaft zwischen
Adler und Mistkäfer: diese ‘äsopischen’ Fabeln sind aus Griechenland bis nach
Nordasien und zu Indianern gewandert. Schließlich die Herkunft verschiedener
Berichte.
ö:*
Frauen von allerlei Tieren: für Griechen (Scnionides, Phokylidesl war dies nur
Gleichnis, Gnome; spätere vergröberten dies zu einer wirklichen Abstammung (etwa
wie der Prediger geistige Blindheit des Heiden betonte, woraus die Tradition eine
physische schul’) und noch spätere dichteten eine Fabel-Sage (von Mohammed u. a.)
hinzu: hier ist aus dem ‘Sprichwort’ die Sage entstanden, während sonst das Um¬
gekehrte einzutreten pilegt.
Besonderen Dank verdient Bystrou durch eingehendes Studium des poln. Volks¬
liedes. In der großen Sammlung Biblioteka narodewa (Nationalbibliothek , Nr. 26,
Krakau, 170 S., gab er eine treffliche Auswahl von Volksliedern mit eingehendem
Kommentar und einer Einleitung, die über Stil, Sprache, Version«, Kiilturziisnnimcn-
hiinge bestens orientiert; eine Ergänzung dazu liefert seine Skizze über die Kunst¬
form des Volksliedes (Artyzm piesni lndowej, Posen 1921, ISO S.), sowie Studien
über einzelne Volkslieder, Texte und Stoffe im Lud sowohl wie in Slavia ooeiden-
talis 1, Posen 1921 (S. 52—84). Er stellt uns in Aussicht eine Arbeit über fremde
d i. deutsche Stoffe im polnischen Volkslied, zumal in Balladen und Scherz- oder
Spottliedern, behandelt vorläufig das Umgekehrte, Slavisches im deutschen Lied,
das aber nur minimal und nur streng lokal, in Oberschlesien oder im Kuhläntlchen,
nachweisbar ist. So weist er für das Lied bei Günther, Schlesische Volkslied-
forsehung, Breslau 191(5, S. 151 (Der Heimkehrende findet Liebehen tot) die pol¬
nischen Quellen nach. Der deutsche Text ist stellenweise wörtliche Übersetzung,
sonst gekürzt und geändert, aber das Motiv selbst ist auch in Deutschland geläufig,
vgl. drei Texte bei Erk und Böhme 1, 6U<) 6U8; bei beiden Völkern dürfte das
Motiv selbständiger Entwicklung entsprossen sein. Interessanter ist ein Lied aus
dem Kuhländchen (-Jos G. Meinert 1817, bei Erk-Böhme 1, *26), von dem in einen
Baum durch die Mutter verwünschten Mädchen: drei Spielleute schneiden vom
Holz, das sie der Mutter die Botschaft künden läßt; Erk-Böhme und Böekel (an
verschiedenen Stellen) leugnen zwar nicht die Verwandtschaft mit slavischen Mo¬
tiven, treten aber für Ursprünglichkeit auch des deutschen ein (‘ein deutsches Volks¬
lied, dessen Grundgedanke auch bei ... Slaven verbreitet ist’). Bystro.i weist über¬
zeugend nach, daß das deutsche und polnische Lied aus mährischen und slovakischen
und diese aus russischen (kleinrussischen) Liedern stammen und über die Karpathen
mit den russisch-rumänischen Wanderhirten (nach Mähren) gekommen sind, wie
auch die Sage von dem Mädchen und dem Liebhaber-Teufel oder Gespenst, die
Polivka in seinem Studium (Lalija 1914) behandelt. Ebenso stellt Bvstro i für das.
Lied Erk-Böhme 1, 2(55 Nr. 75 (aus Meinert wiederum d. i. aus dem Kubländchen,
Mähren) und 3, 62 (aus Meinert) für das ganze oder für ein einzelnes Motiv, den¬
selben slavischen Ursprung fest; für ‘Törichte Wünsche’ (‘War ich ein Kälhelein,
weidet ich auf der Wiesen’ usw.) nimmt er literarische Bearbeitung als Zwischen¬
stufe an. Im Lud 22, 62—71 bespricht er das poln. Lied vom ‘Mädchen und Fähr¬
mann’ (sie bezahlt die Überfahrt mit ihrer Unschuld) und leitet es aus deutschen
Liedern her, die ihrerseits auf die Legende von der hl. Maria Aegyptiaca zurück-
gehen, nicht auf eine ermländisehe Heilige nur, wie Frischbier meinte, da das Lied
auch am Rhein bekannt ist (Erk-Böhme 3, 759 ff.). Den Ursprung der Legende
von der hl. Caecilie weist Frau Cäs. Ehren kreuz im Lud 21 nach: die älteste
Kirchentradition kennt die Heilige nur als vornehme Römerin, die ihr Glaubens¬
bekenntnis durch den Martertod besiegelt. Daneben bildete sieh eine apokryphe
Version aus, als einer sanften Dulderin, die erblindete Sängerin, auf Grund einer
Volksetymologie: caeeus, caeculus, caecilis-Caeeilia und eeeinit, nur diese Version
erhielt sich in der Folgezeit, die Erinnerung an die Angehörige der gens Caeeilia
verschwand. Hier eröffnet sieh eine Aussicht für die Deutung so mancher Heiligen¬
legende (es sei nur an die hl. Veronica n. a. erinnert).
Über Metrik des A r olksliedes handelte Frau H. Windakie w iez im 52 Bd.
der Krakauer philolog. Abhandl., 97 S. und J. Los in seinem Hauptwerke über den
poln. Vers in seiner historischen Entwicklung, Warschau 1921, 497 S., wo auf
S. 26—57 über den slavischen Volksvers, seinen Reichtum, seine Originalität ge¬
handelt wird. Der Musikhistoriker Adolf Ch y bi fiski hat in den Praee i materyaly
antropologiczno-archeologiezne i etnograficzne der Krakauer anthropologische
Akademiekommission, Bd, 3, Krakau 1924, 141 S., die ‘Musikinstrumente des poln.
Volkes in Podhale ’(Vorberge der Tatra) in erstem, wissenschaftlichem Versuch der
Art in Polen untersucht, und zwar die Saiten- und Blasinstrumente, namentlich auch
54
Brückner:
die schon der Vergangenheit angehörende DuJelsackpfeife; auf den beschreibenden
Teil folgt stets der historisch vergleichende. Die Instrumente stammen aus dem
Westen Europas, doch ist auch Wanderung aus dem Orient, eventuell durch slavische
Vermittelung, die bisher nicht gehörig eingeschiitzt ist, nicht ausgeschlossen.
Chvbii.ski arbeitet mit einem außerordentlich reichhaltigen Material, das Literatur¬
verzeichnis allein füllt S. 135 141. Iö5 Nummern; die Exemplare der Instrumente
sind aus öffentlichen Sammlungen und Privntbesitz zusammengesueht; die musi¬
kalische Besonderheit des ßergländehens ist nachdrückliehst hervorgehoben Ist
jedoch der Name dudv (daraus deutsch Dudel) wirklich aus dem Orient entlehnt?
dudut ist das bestimmt, nicht aber dudy, das urslavisch sein kann.
Juljan Tuwim, ein führender Dichter der Modernen, stellte Zauberwesen dar
u. d. T.: 'Czary i Cznrty polskie oraz wypisy czarnoksieskie’ (Poln. Zauber und
Teufel mit Exzerpten aus der Zauberliteratur), Warschau 1924, 217 S. In einer
ausführlichen Einleitung (S. 5—56) wird in Umrissen die Geschichte des Hexen¬
wahns in Polen dargestellt; S. 57—187 folgen Auszüge aus 16 alten Teufelsbüchern
u. a.; S. 191—214 Anmerkungen, Nachweise u dgl. Aber die poln. Teufels- und
Hexenliteratur ist hauptsächlich Übersetzung oder Kompilation aus dem Malleus
und ähnlichen Werken; originelle Anläufe sind selten und hätten schärferes Her¬
vorheben verdient; der V erfasser verfügte nur über das bekannte gedruckte Material,
während Geriehtsakten des 16. —18. Jhdts. Dankbareres geboten hätten (Proben davon
auch im Lud 21 aus Samogitien vom Jahre 1672).
Verfehlt ist das Buch von Janina Klawe, ‘Totemizm a pierwotne zjawiska
religijne w Polsce' (Totemismus und religiöse Urerscheinungen in Polen), Warschau
1920, lioS. Die Verfasserin erläutert Namen und Begriff des Totemismus und
sucht seine Überlebsei in Polen zu erweisen: in den Sippenrufen (proclamationes)
des Adels, in Ortsnamen, in Bräuchen (Tierumzüge, Tiermasken, Tierspiele u. a ).
Aber Totemismus ist etwas Uraltes, Rippenrufe usw. etwas Blutjunges; es mußte
erst auch dessen Uralter erwiesen werden, ehe man an so gewagte Ausdeutungen
herantreten durfte; enthalten doch die Sippenrufe auch christliche Taufnamen und
sind anderen Slaven ganz unbekannt, und in den Umzügen und Rpielen steckt oft
junger Zunftbranch, Hänseln der Neulinge u. dgl. Es gibt vom Totemismus keinerlei
sichere Spur bei Slaven.
Ich hatte 1918 im Krakauer Akademieverlag eine Rlavische Mythologie heraus¬
gegeben, die Prof. R. Pettazzoni in seiner Rammlung Storia dolle religioni 4
(Bologna 1923, 282 S.), erweitert durch Auszüge aus den Quellen, zumal den latei¬
nischen (Thietmar usw.), aufgenommen hatte; die Schrift war wesentlich polemisch
orientiert und schloß volkskundliches Material aus. Dieses beiücksichtigte ich dann
in der Schrift ‘Mitologia polska, Studium poröwnaweze’ (P. M., vergleichende Studie),
Warschau 1924, 1 )4 S. kl. »°, in populärer Form gehalten, wo ich gerade den
modernen Aberglauben heranziehe, das dämonische Walten in Haus und Hof, Ge¬
spenster (Erklärung des Namens Vampir) und Werwölfe, und die angebliche Ursage
der Polen (Wanda usw,) auf ihren eigentlichen Wert, d. h. Unwert zurückführe.
Nachdem der Versuch, die eingegangene Zeitschrift Wisla in einem neuen, dem
20. Bande zu beleben, aufgegeben wurde, bleibt als einziges volkskundliche Organ
der Lemberger Lud (Volk) auf dem Plan; freilich hat die Ungunst der Zeiten seinen
Umfang stark verkümmert. Ich erwähne nur die beiden letzten Bände, 21, 276 S.
und 22, 168 S. Einzelne Beiträge daraus, wie Ganszyniec, Bystroh u. a., sind be¬
reits oben genannt; nachgetragen seien, von Bystron; Schwärze (der Körperteile)
von Fremden behauptet, und Fremde als Menschenfresser; von W. Klinger ein
Zusatz zu seiner Schrift ‘Aus Wandermotivenk Aus einem poln. didaktischen Poem
des 17 Jhdts. werden weitere (neben Paprocki u. a.) Proben dieser Sage mitgeteilt
und direkt aus Semonides und Phokylides hergeleitet; ich möchte nur den miso-
gynen Paprocki von 1580 als unmittelbare Quelle des Poems ansetzen. Mit Ueber-
gehung anderer Beiträge (z. B. Namen von Kühen aus dem 17. Jhdt. u a.) erwähne
ieh noch besonders wegen der Fülle von Angaben den orientierenden Aufsatz von
Dr. Anna Chorowicz über Probleme und Methoden der Volksliederforschung, deren
Geschichte, den Gegensatz zwischen Pommer und John Meier usw.; sie bespricht
ausführlicher die Studie von Bystron über zwei Volksballaden, von dem gewaltsam
ins Heer eingezogenen Liebsten (herübergewandert nach Polen aus Mähren rm 1800
herum) und von der ‘Krakauerin, König und Henker’ (ungleich älter; der Stoff wie
Berichte.
r>r>
in der ‘Agnes Bernauerin’ u. u. — Gegenstück zu dem Manne, den vom Galgen ein
MUdehen oder Witwe retten kann): beides dürfte aus Deutschland unmittelbar
stammen, und die Verwahrung der Verfasserin dagegen scheint mir unbegründet;
beide Studien sind Krakau, Akademie, 1921 erschienen, in Prace i Materjaly etc.
2, 1—28 (vgl. ebds. '29—61 über aus Bruchstücken von Volksliedern entstandene
Sprichwörter). Dazu kommen Rezensionen, Berichte über die Tätigkeit der poln.
ethnologischen Gesellschaft usw.
Die von Grund aus veränderten Bedingungen nationalen Lebens lassen eine
Belebung und Förderung dieser Studien mit Bestimmtheit erwarten; schon regt sich
in den Provinzen, nicht nur in den Hauptstädten, neues Leben; lokale Sammlungen
(Museen), Monographien erstehen allenthalben, und vor allem ist die Zeit der
Dilettanten, die mit wenigen Ausnahmen das Feld bisher beherrschten, endgültig
vorüber. Aehnlich liegen die Verhältnisse in Böhmen, wo allerdings seit jeher
lokale Studien und Sammlungen im Vordergründe öffentlichen Interesses sich be¬
fanden: es gibt fast keine größere Stadt in Böhmen und Mähren, die nicht ihr
Museum und ihre Monographie, bzw. die des Kreises, ja oft auch ein besonderes
Jahrbuch besäße: für böhmische Kultur äußerst bezeichnend wie weit bleiben
andere Slaven zurück! Dann sind es besonders die wirtschaftlichen Verhältnisse
der Vergangenheit (und Gegenwart), die allseitig erforscht werden; so erschien der
10. Jahrgang der ‘Zeitschrift für Gesehiehte des Landes’ (d. h. im Gegensatz zu
Prag 1923: 'Agrarisches Archiv’, seit 1914: ‘Zeitschrift des patriotischen Museal¬
vereins in Olmätz’, 36. Bd., 1924; ‘Heimatskunde des böhmischen Nordens’ (Od
Jesteda k Troskam, Turnov 1923/24, 2. Jahrgang); ‘Lomnick’ (4. Jahrgang, 1923/24);
‘Sbornik okresu zeleznobrodskeho’ (Sammelschrift des Zb. Kreises, 1); ‘Zeitschrift
des Vereins von Freunden des böhmischen Altertums’ (31. Jahrgang, 1923); ‘Ost-
böhmische volkskundliche Sammelschrift’ 1, 1923 usw., usw. Außerdem erscheinen
in der Musealzeitschrift, im Öesky Öasopis Historicky (jetzt im 30. Jahrgang), im
Sbornik (Sammelschrift) des Geschichtsvereins (historickeho Krowzka), Jahrgang 23
usw. einschlägige Aufsätze, um nur einen zu erwähnen, der auch die gleichzeitige
Literatur (satirische Dialoge u. dgl.) berücksichtigt: Fr. Hruby, ‘Aus ökonomischen
Umwälzungen in Böhmen im 15. und IG. Jhdt.’ (in der Histor. Zeitschrift 30, 1924,
S. 205—23G und 433—469). Eifrig wird auch die Gesehiehte der religiösen Be¬
wegung im Lande, der Hauptteil seines Ruhmes, studiert, angefangen von Hus bis
zum Toleranzpatent Josephs II. und der Neuzeit: letzterer ist das Werk von
K. V. Adämek, Urkunden (Listinv) zur Geschichte der religiösen Bewegung im
Volke Ostböhmens im 18. und 19. Jhdt., zwei starke Bände (Prag 1911—1922) ge¬
widmet. ln ‘Studien und Texte zur Religionsgeschichte Böhmens’, herausgegeben
von Sedläk, 3. Jahrgang, verölfentlicbte P.A. Neumann ‘Französische Hussitiea’
(des 15. Jhdt., wie die französische Öffentliche Meinung darauf reagierte, Beteiligung
der Franzosen an Hussitenkriegen u. a.); Bartos druckte zwei Traktate eines Puer
Bohemus, die hussitischcr Propaganda in Frankreich dienen sollten (Vcstnik der
böhm. Ges. d. Wiss. 1922/1923).
Ein Hauptwerk geht seiner Vollendung entgegen, L. Niederle’s Slavische
Altertümer; der historische Teil (es fehlt nur noch ein Band, die Ostslaven) ist für
uns minder vviehtig und aueh minder gelungen, vieles von den Ausführungen
Niederle’s läßt sieh nicht aufrecht erhalten (der Teil erschien jetzt in einem fran¬
zösischen Auszug: Manuel de l’antiquite slave, tome 1, Histoire, Paris 1923, 24G S.).
Von bleibendem Werte ist der zweite Teil: ‘Zivot staryeh Slovanü, zäklady kul-
turnich starozitnosti slovanskych’ (Altslav. Leben, Grundlagen der slav. Kulturalter¬
tümer), seit 1911 erscheinend. Der erste Band behandelte die Heimat (der Slaven),
ihre Flora und Fauna, die Menschen und ihr Leben, Nahrung, Bestattung, u. a.
(389 S. gr. 8°); der zweite, 1913, S. 405—897, Kleidung und Schmuck sowie Wohn¬
bau. Es folgt die Mythologie (gegen diese riehtete sich meine eigene Sehrift),
1917, 299 S. (der zweite Teil dieser Abteilung wird das altslavisehe Recht von
Prof,. Kadlec bringen). Vom dritten Teil ist 1921 der erste Band erschienen,
345 S., über Ackerbau, Viehzucht, Jagd, Fiseherei und dgl., Dorfanlage, Gewerbe,
Bergbau, Goldsehmiedekunst, Keramik, Holzarbeiten, Spinnen und Weben, Spiele.
Ein Schlußband wird über Handel, Krieg, Kunst berichten: der französische Aus¬
zug dieser ganzen Abteilung wird sie allen Forschern zugänglich machen können;
von einer Besprechung von Einzelheiten sei hier abgesehen, hexvorgehoben sei nur,
Brückner: Berichte.
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daß gerade auf diesem Gebiete der Archäologe Niederle bewährtester Führer bleibt.
Die Heranschatfnng eines riesigen Materials war nur in einem solchen slavischert
Zentrum, wie es Prag seit jeher darstellte, möglich; das stupende Wissen und die
kritische, vorsichtige Art des Forschers verbürgen den Wert dieser seiner Aus¬
führungen.
Die unter der Redaktion von J. Poh'vka erscheinende Böhmische Ethno¬
graphische Revue ‘Xarod opisny vestm'k cechoslovansky’ (Mitarbeiter: T. Horak und
K. Chotek) hat die Wirrnisse der Kriegsjahre glücklich überstanden und ist jetzt
beim IG. Jahrgang angelangt, 194 S. gr. 8° (herausgegeben auf Kosten des böhm.
ethnographischen Vereins). Aus dem bunten Inhalt sei nur genannt die schon durch
mehrere Jahrgänge fortgesetzte erschöpfende Studie von Dr. F. Wo lim an, die
Vampyrsagen Mitteleuropas. Der Titel besagt zu wenig, denn W. erschöpft alles,
was auf Gespenster, Werwölfe, Nachtmaren, Irrlichter, Seelen Abgeschiedener u. dgl.
Bezug hat; eine erstaunliche Fülle von Material wird zusammengestellt, namentlich
slavisches (böhm.. poln., wendisch) und deutsches; ihre auffällige Uebereinstimnumg
wird festgestellt, ohne daß Schlußfolgerungen gezogen werden; die bloße Anein¬
anderreihung der Varianten desselben Motivs ist schon belehrend genug. Von
kleineren Aufsätzen verdient besondere Aufmerksamkeit Poh'vka’s 'Der Philosoph
als Reitpferd der Frau’ (Aristotelesschwank u. a.); nach Aufzählung aller europäischen
Varianten (es fehlt die polnische; M. Rej spielte darauf an um 1544) folgen die
arabischen, die am frühesten belegten, und die indischen, die sich aber recht ent¬
fernen, sodaß unmittelbarer Zusammenhang nur zwischen den europäischen und
arabischen Versionen anzusetzen ist; der indische Ursprung bleibt mehr als zweifel¬
haft; der Volksüberlieferung ist der Stoff völlig fremd, ausschließlich literarischer
Art; die Ausführungen von Bedier werden abgelehnt — ist aber damit, daß die
arabische Version zeitlich die älteste ist, auch der arabische Ursprung erwiesen?
Nebenbei sei erwähnt, daß der Böhme Lomnicky seine Anspielung auf Aristoteles
(und Phyllis) der böhmischen Übersetzung des Rej’schen Dialoges verdanken kann.
Es seien noch erwähnt Volkssagen aus dem Nordosten Böhmens, gesammelt von
D. Fih'p (sowie Polivka’s Besprechung von J. S. Baar’s Märchensammlungen. 1921
und 1922). Besonders interessant ist der Hinweis von V. Flajshans auf den
Exemplarius des mr. Claretus de Solentia von ca. 13G0, der 200 Exempel, in je einem
Viervers d. i. die Erzählung und die allegorische Umdeutung enthält und einen
prosaischen Kommentar, der in der einzigen Prager Kapitelhds. leider beim ersten
Hundert aufhört: oft die älteste Fassung bekannter Schwänke und Sagen (von den
drei Faulpelzen; Gang zum Eisenhammer usw.) Eine vorher unbekannte Fassung
des ‘Aschenbrödels’ aus einem Volkstext um 1804 herum, mit besonderem Eingangs
teilt Jos. Kubi'n mit. Anderes, Trachtenstudien, kleinrussisehe Volkslieder aus dem
Nachlaß von Dobrovsky die ihm Bandtke und Hoszowski (Francev schreibt den
Namen irrig mit G) überschickten und die Celakovsky zum Teil in seine Slavische
Volkslieder 1, (1822) aufgenommen hatte und deren Ursprung bisher unbekannt
war. Die eingehende Studie von J. Poh'vka, Du surnaturel dans les contes slo-
vaques (Revue des etudes slaves 2, (1922) 104 — 129 und 250-271, über Zauber¬
wesen selbst und über Menschen u. a. mit Zauberkräften), ein Auszug aus einem
geplanten Werke über slovakische Märchen überhaupt, sei liier nur erwähnt, uni
einen Irrtum zu berichtigen: der slovakische Name der Hexe bosorka (bekannt auch
bei allen ihren slavischen Nachbarn) stammt aus dem magyar. boszorkany, aber
dieses selbst hat nichts mit grieeh. dialekt. ßzerapa (angeblich thrakisch) * freches
Weib, zu tun, ist es doch auf dem ganzen Balkan und den Rumänen unbekannt*
sondern ist turkotatarisehen Ursprunges, wie man ohne weiteres aus dem Ety~
mologischen Wörterbuch der Magy. ersehen kann.
Berlin-Wilmersdorf.
Alexander Brückner.
Xolizen.
Notizen.
Emil Abegg, Der Pretakalpa des GaruJa-Purana. Hin«* Darstellung des Hindu-
istisehen Totenkultes und Jenseitsglaubens. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit
Einleitung. Anmerkungen und Indices versehen Habilitationssehritt Ziiiich . Heilm.
de (Hinter 1921. X. 272 S. — Der Pretakalpa ist ein mit dem Ganu.lapurana lose
zusammenhängende-, umfangreicher Anhang, der von den Pretas Leu hengcspenstem).
den Hollen und dem Totenkulte handelt. Der Uebersetzung liegt eine Fassung zu¬
grunde, die sieh selbst als einen Auszug bezeichnet, aber durchaus selbständigen
Wert hat und sieb durch geschlossene Komposition und sprachliche Sorgfalt au—
zeichnet, der sog. Garudapurüna Süroddhfna des XaunidhiiTmia. vermutungsweise dem
7.—s. Jht n. Chr. zuzmveisen. ln 16 Kapiteln werden in der Hauptsache die Höllen¬
strafen. die Spenden und Riten für Sterbende und \ erstorbene beschrieben Na« h
Aussage von Kennern des heutigen Indiens sind «lu* hier mitgeteilten Gebräuche
z. T. noch heute in Kraft, so daß das Huch auch für die Erkenntnis des heutigen
hinduistischen Totenkultes und Jenseitsglaubens von Bedeutung ist. Abgesehen da-
von bietet es in Text und Anmerkungen auch dem Nichtindologen eine Fülle von
Material für die allgemeine Religionswissenschaft und Ethnologie, z 11. Bedeutung
der Exkremente (S. 79), des MenHnialblntes 91), Totenfähre 120), Gold auf den Mund
des Toten gelegt (129), Entweichen der Seele durch Körperöffnungen Mol , Scheren
des Haares 1:> 1 . Entfernung der Leiche durch Öffnung in der Hauswand 139 , Schädel¬
zauber 1 IG, hegender Faden 116, ßtatnOarnjot 168 , rituelles Schaukeln ISO.— E.B.
K. Adrian, Von Salzburger Sitt' und Brauch. Wien, Osten-. Schulbücherverlag
1924. 375 S. AIit Abbildungen. 450U) Kr. (Deutsche 1 lausbücherei, Bd. 135-138.
Vor zwanzig Jahren veröffentlichte Adrian eine treffliehe Sammlung von Salzburg«!-
Volksspielen, Aufzügen und Tänzen oben 1(1, 323; 18,317, in denen neben Kraft-und
Gewandtheitsproben auch die Freude an Verkleidungen und Neckereien durch \\ asser-
guß oder Anschwärzen eine große Holle spielt. Hier wiederholt und ergänzt er die-«*
Darstellung und fügt zu den Volksspielen zwei ausführliche Kapitel hinzu über di«
Bräuche des festlichen Jahres, wie Weihnachtspiele, Perchtenlauf, Maibaum, Einzug
mit dem riesigen Samson, Sonnwenclfeucr, Scheibenschießen, Bi echelzeit, und über
die Hochzeitsfeiern. Neben den eigenen Beobachtungen bat er auch die Arbeiten
v«>n Marie Andree-Eysn, G. Zeller, Ä. Jlartmann u. a. sorgfältig zu Rate gezogen; denn
mancher Brauch ist'im letzten Decennium und vielleicht schon früher außer Ebung
gekommen. — J. ß
Alpenfreund - Bücherei. — Oben 33/34, 124 wurde eine im Rahmen der
‘Alpenfreund-Bücherei 5 erschienene Schrift von Eriedr. Liiers angezeigt ‘A.-B.’, Bd. 9 .
Die Reihe enthält jedoch noch weitere Bände, die für die Volks- und Heimatkunde
von Wert sind: Dem Gedächtnis eines vergessenen Alpenforschers ist Bd. 1 ‘Aus-
gewählte Schriften von Peter Carl Th urwieser ^1789—1865/ 88 S.. mit Bildern von
J. Riedl, gewidmet. AI. Rohrer, der Leiter der Sammlung, schildert in seiner Ein¬
leitung (S. 3—7 kurz das Leben des seit 1810 am Lyzeum in Siegenheim ^Salzburg)
Hebräisch lehrenden Priesters, worauf 7 Aufsätze, zum Teil aus dem handschriftlichen
Nachlaß Thurwiesers, in glücklich gekürzter Form wiedergegeben werden« zumeist
Schilderungen von Bergfahrten, die wohl manchmal etwas trocken anmuten, aber
dennoch eine Lektüre lohnen. — Ein ganz anderer schriftstellerischer Charakter ist
Karl Reiterer, der in Bd. 8 ‘Steierische Dorfgestalten’ (Go S.) voiführt. Reiferer hat
schon früher in der ‘Grazer Tagespost' eine Anzahl Bilder und Studien aus dem Volks¬
leben der Steiermark veröffentlicht, von denen manches in das vorliegende Büchlein
verarbeitet worden ist (Vgl. auch ‘Älplerblut 1 1902. ‘Waldbauernblut 5 1910, ‘Enns-
talerisch* 1913, ‘Altsteirisehes’ 1916.) Von den einzelnen Kapiteln seien erwähnt: ‘Aber¬
glaube und Unglaube 5 (S. 35—42); Sonderlinge* (S. 43f. : ‘Dorfräuberleben 5 (S. 45—47 ;
‘Holzknechtsleben 5 (S. 48—50) und ‘Wilderergestalten’ S. 51 - 59). Aufnahmen des
‘Pfingstlotters', eines Maibaumes und verschiedener steierischer Typen zieren das
Büchlein. — Daß in einer Alpenfreund-Büeherei auch Karl Stiel er vertreten sein muß,
ist wohl selbstverständlich. Bd. 10 (129 S.) bringt unter dem Titel ‘Das bayrische
Bergdorf vor fünfzig Jahren* 9 Prosaskizzen des Dichters, denen Zeichnungen von
W. v. Dietz beigegeben sind — (Hans Findeisen.)
N. P. Andrejev, Die Legende von den zwei Erzsündern. Helsinki 1924. 136 S.
FF Communications 54 . — Eine in Bulgarien etwa im 15. Jalirh. entstandene und
in mehr als 50 osteuropäischen und vorderasiatischen Versionen verbreitete Legende
erzählt, wie ein reuiger Räuber, dem eine unerfüllbare Buße auferlegt wird, einen
noch größeren Sünder erschlägt, worauf ihm seine Sünden vergeben werden. Sie ist
verwandt mit den Geschichten vom Räuber Madej oder den drei grünen Zweigen
(Bolte-Polfvka, Anm. 3, 463). Ihre Entwicklung und Ausbreitung untersucht Andrejev
übersichtlich und methodisch, unterstützt von W. Anderson, der auch die russisch
geschriebene Abhandlung verdeutscht hat. — LT. B.)
Notizen.
Achim von Arnim mul Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn. Aus-
gewählt und durchgesehen von Walther Zies einer. Mit Scherenschnitten von Jul.
P. J u nghanns. 2 Bände. Breslau, Ferdinand Hirt. 1925. TS und 79 Seiten. Geh.
je 0,70 M , kart. 1 M. Geschenkausgabe 4,50 M. — Mit geschickter und kundiger Hand
sind die bekanntesten und schönsten Stücke der unvergänglichen Sammlung so zu¬
sammengestellt. daß diese Ausgabe in nuce ein anschauliches Bild von dem bunten
Original gibt. Fine prächtige Beigabe sind die flotten Scherenschnitte sowie der
alten Mustern nachgebildcte Einband. Empfohlen seien die schmucken Bändchen
vor allem unserer wandernden Jugend als wegkürzende Fahrtgenossen. — F. ß.>
Albert Becker, Pfälzer Volkskunde ^Volkskunde Rheinischer Landschaften, h>g.
von Adam Wi ede). Mit 153 Abb. u. 5 Karten. Bonn u. Leipzig, K. Schroeder 19*25.
XV, 413 S, geb. (1 M. — Die Pfalz ist wegen ihrer seit den frühesten Zeiten ge¬
mischten Bevölkerung ein volkskundlich besonders interessantes Gebiet. Deshalb
ist es sehr erfreulich, daß gleich das zweite Stück der schönen Sammlung, deren
Eifelband wir oben 34, 177 anzeigen konnten, ihr gewidmet und von einem Forscher
bearbeitet ist, der sich in zahlreichen Einzelarbeiten um die Pfälzer Volkskunde außer¬
ordentliche Verdienste erworben hat. In Becker vereinigen sich tiefe Heimatsliebe
mit einem nüchternen Urteil, klarer Darstellungsweise und vorbildlicher Stoff- und
Literaturkenntnis, und so ist ein Werk entstanden, das unserer Wissenschaft zur
Zierde gereicht. Nach einer Einleitung, die eine Uebersicht über die bisherige Ge¬
schichte der Pfälzer Volkskunde gibt, wird Inhalt, Alter und Umfang des Begriffes
Pfalz behandelt, es folgen dann die Spezialuntersuchungen über Siedlungs-, Mammes-
und Ortsnamenkunde, Flur und Dorf, Hof und Haus, Tracht, Volkstum und Geistes¬
entwicklung, Glaube und Aberglaube. Sprache und Dichtung, Sitte und Brauch, An¬
merkungen mehr als GO S. füllend und Register. Neben Abbildungen im Text sind
zahlreiche Tafeln mit Bildern beigegeben, die dem Verfasser von den verschiedensten
Seiten zur Verfügung gestellt wurden. Bisweilen mangelt es an einer organischen
Verbindung zwischen diesen und dem Text, der im allgemeinen auch auf Hinweise
verzichtet Im übrigen ist das Buch auch in seiner äußerlichen Ausstattung ein
Schmuckstück. — F. B.)
Richard Benz, Die deutschen Volksbücher, G. Band: Das Buch der Geschieht
des großen Alexanders. Jena, Diederichs 19*24. VI. 358 S. Pappbd. 6,50 51., geb. S M.
— Die durch den Krieg unterbrochene Reihe der Benzschen Ausgabe der deutschen
Volksbücher wird mit diesem Bande zu unserer Freude wieder aufgenommen. Indem
Benz auf den Text der Hartliebschen Verdeutschung (1444) des Pseudokallisthenes
und seiner späteren lateinischen L'ebersetzer und Bearbeiter zurückgeht, läßt er ein
wertvolles Stück der spätmittelalterlichen deutschen Prosa wieder auferstehen, das
stofflich und stilistisch von größtem Reiz und Interesse ist. Vortrefflich ist die
äußere Ausstattung, vor allem der Druck in einer großen, altertümlichen Drugulin-
Fraktur. — (F. B.)
Hans Benz mann, Pommern im deutschen Liede. Leipzig-Gohlis, Eichblatt 1924.
*23G S (Bd. 1 der Sammlung "Deutsches Land im deutschen Liede’.) — Mit Recht tritt
der Verfasser, der sich ja als Lyriker selber einen Namen gemacht hat, dem alten
Vorurteil entgegen, als ob in seiner Heimat nicht gesungen werde: die Pommern
singen nach dem Zeugnis dieses Buches ebenso stark und zart, naiv und nachdenklich
wie andere deutsche Volksstämme. Diese Sammlung legt ein beredtes Zeugnis von
der Innigkeit der pommersehen Volksseele ab, und dabei handelt es sich um künstle¬
risch hochwertige Auswahl; ausgeschlossen ist jede handwerksmäßige, für einen
besonderen lokal- oder provinzpatriotischen Zweck hergestellte Dichtung, die soge¬
nannten ‘Pommernlieder' wird man also in diesem Buche nicht finden. Dennoch
hätte die pommersche Heimathymne vielleicht als Motto an die Spitze des Buches
gestellt werden können. Aber clie Anthologie hat andererseits auch keinen betont
wissenschaftlichen oder literaturgeschichtlichen Charakter; nur das Lebendige oder
Altertümlich-Charaktervolle ist berücksichtigt. — In fünf Abschnitten v'erden ge¬
schildert: ‘Natur und Jahreszeiten, Lieder und Stimmungen, Visionen und Sagen’,
‘Hochdeutsche und plattdeutsche Volkslieder’, ‘Die plattdeutschen Dichter Pommerns’,
‘Pommerns Geschichte im deutschen Liede’, ‘Deutschlands Geschichte im pommersclien
Liede' und ‘Pommersche Dichter, Stil, Persönlichkeit und Weltanschauung’. Den
Balladen sind feinfühlige Einleitungen vorangestellt worden. Es ist eine w'undervolle
Ernte reifster Früchte — (.Hermann Kiigler.)
Richard Berge, Noisk sogukunst: Sogusegjarar og sogur, skildringar og upp-
teikningar av R. Berge, Sophus Bugge, Anna Monrad, Sigrid Undset, Nikka Vonen.
Kristiania, Aschehoug & Co. 1924. If, 175 S. — In einem Aufsatze seiner Zeitschrift
*Norsk folkekultur’ (1, 1*2; 3, 145; 4, 49; 5, 156; 7, 64) hat Berge drei Stilarten des
norwegischen Märchens unterschieden: den unpersönlichen, trocken berichtenden
Stil ohne Dialog und schmückende Beiwörter, den persönlichen mit lebendigem An¬
teil und realistischer Ausmalung und den eigentlichen, reinen Märchenstil mit
Notizen.
‘ 59
fester Gliederung, dramatischer Steigerung und einem gewissen Rhythmus, auch
Alliteration, während die Einleitung gewöhnlich in Prosa gehalten ist; hier gibt der
Erzähler gleich dem Balladen^änger eine fertige Form wieder. In dem vorliegenden
Buche liefert er eine Reihe von wertvollen Beispielen für die genannten Vortrags¬
weisen aus dem Munde von zehn zumeist weiblichen Gewährsleuten. Die älteste von
diesen, Anne Godlid geh. um 1773, gest. 1863 , verfügte über ein Repertoir von etwa
HH) Märchen, die zumeist durch ihren Schwiegersohn aufgezeichnet sind. Ausführlich
werden wir mit den einzelnen Erzählern durch Porträts und Schilderung ihrer Lebens¬
und Familiengeschichte und Ausdrucksweise vertraut gemacht; leider jedoch hat
Berge auf eine Vergleichung der sonstigen norwegischen Aufzeichnungen derselben
Stoffe verzichtet und auch nicht durch Verweis«* auf Christiansens Register (1924)
dem Benutzer die Arbeit erleichtert, die Besonderheiten der vorliegenden Fassungen
zu ermitteln. Daß das Märchen von ‘Blutwurst und Leberwurst' (S. 162, vgl. 153) nicht
ursprünglich norwegisch ist, hat er selber gefühlt; das deutsche Original steht bei
Bolte-Polivka, Märchenanmerkungen 1, 376. Sonst möchte ich nur ein paar ver¬
breitete Stoffe notieren: S. 23 die dankbaren Tiere ebd. 2. 22). 33 Zornwette icbd. 2,
293; 3, 333). 39 Polyphem <ebd. 3. 376 , 48 Hans soll heiraten (ebd. 1, 319), 57 Prosa¬
fassung der skandinavischen Ballade‘Würfelspiel' d*rundtvig, Oanmarks g. Folkcviser
nr. 23S , 109 die vergessene Braut, 16-4 Sapia Licarda Glasile 3, 1), 173 Rechnung über
gekochte Eier (Bolte-Polivka 2, 368 1 ). — (J. B.
Bcrgischer Kalender für das Jahr 1925. Ein Heimatjahrbuch für das bergi-
sche Haus und die bergische Schule. Hsg. von August Kierspcl und Anton Jux.
Bergisrh-Gladbach, August Kierspel (1924V 200 S. — Der erste Band des trefflichen
Jahrbuchs, der oben ?3/3L S. 116 angezeigt wurde, umfaßte 112 S. Diesmal ist er
last doppelt so stark. Es ist daher auch nicht möglich, all die Beiträge, die der
Band enthält, autzuführeu, da der größte Teil kulturgeschichtliche und volkskund¬
liche Fragen behandelt. Aus dem reichen Inhalt seien angeführt: O. Schell, ‘Spuren
des Höhenkultus im Bergischcn’ (S. 55 - 60); H. Fischer, ‘Die Mühle im Sprachschätze
der Heimat’ v S 103f.); ders., ‘Alte Mühlen im Kirchspiel Gummersbach’ S. 405 ff);
‘Mundartproben aus dem Oberbergischen“ werden auf S. 112—124 gegeben, Karl Breuer
erzählt von sagenhaften Steinen ^S. 129 134). Den bergischen Pflug führt F. Schmitz
auf römischen Kultureinfluß zurück (S. 139 . ‘Bergische Sprichwörter und Redens¬
arten’ sammelt A, Jux aus dem Volksmunde S. 146 ff.' usw. usw. Möge der‘Bergische
Kalender’ noch recht oft seinen Weg in die Welt nehmen und Wissen über das
belgische Land verbreiten. — (Hans Findeisen).
R. Besch, Heimatkunde und Heimatschutz. Ein Verzeichnis wichtiger Schriften,
vornehmlich Pommern betreffend. Hsg. vom Bund Heimatschutz, Landesverein
Pommern, E. V. Stettin, Leon Saunier. 19*24. 56 S. — L T nter Mitarbeit verschiedener
• Spezialisten gibt der Verf ein Verzeichnis von 794 Schriften zur Landeskunde der
Prov. Pommern, für das ihm die an der poimnerschen Heimatforschung irgendwie
beteiligten Kreise gewiß dankbar sein werden. Daß der Abschnitt ‘Familien¬
forschung’ unter ‘Heimatschutz’ eingeordnet ist und so zwischen ‘Baudenkmalpflege*
und ‘Friedhofskunst' zu stehen kommt, ist ein Schönheitsfehler, über den man hin¬
wegsehen kann. An dem Zustandekommen des volkskundlichen Abschnittes (IV, 3)
hat, wie Besch im Vorwort angibt, Haas den größten Anteil. Bei dem knappen
Umfang konnte Besch gewiß nur eine Auswahl aus dem bestehenden Schrifttum
geben, diese ist aber so geschickt und kenntnisreich zusammengestellt, daß sie alle
hauptsächlichen Arbeiten enthält und mit Erfolg benutzt werden kann. Verschiedent-
liche kurze Charakteristiken größerer Werke leisten trefflichen Nutzen. Das Autoren¬
verzeichnis zum Schluß bietet neben der Erleichterung bei der Benutzung der Biblio¬
graphie einen Überblick über die Gelehrten, die über Pommern gearbeitet haben,
was ebenfalls dankbar vermerkt sei. — (Hans Findeisen.)
0. Bö ekel, Das deutsche Volkslied, Hilfsbüchlein für den deutschen Unterricht.
2. Aufl. Leipzig, Quelle & Meyer 1924. 103 S., 0.80 M. — Behandelt allgemein faßlich
1. Wesen und Werden des deutschen Volksliedes, 2. seine Arten, 3. das deutsche
Leben in ihm, auch das Heimweh. — (J. B.
M. Boehm und F. Specht, Lettisch-litauische Volksmärchen. Jena, E. Diede-
richs 1924. 334 S., Pappbd. 4 M., Halbleder 6,50 AI. — Aus den 6000 Nummern der
Sammlung von Lerchis-Puschkaitis hat Max Boehm 32 lettische Märchen ausgewählt,
verdeutscht und mit vergleichenden Anmerkungen ausgestattet. Welche Bedeutung
das Märchen bei den Letten noch hat, erkennt man daraus, daß zumeist Männer die
Erzähler sind, von denen einer 70 Märchen wußte Die bekannten Typen der euro¬
päischen Überlieferung erscheinen in ausführlicher Darstellung; einzelnes wie die
Beseitigung des Königs in NT. 9 oder die hilfreichen Tiere in Nr. 22 (vgl. Bolte-Polivka
2, 454 1 ist etwas roh aufgefaßt Zu den rätselhaften Dingen im Jenseits nr. 6) vgl.
Bolte-Polivka 3. 302; zum verhehlten Traum (nr. 7) ebd. 1, 331; zu den Tieren im
Waldhaus (nr. 27 ebd. 1. 253. — Außerdem enthält der Band 50 litauische Märchen,
GO
Notizen.
Oie 1*\ Specht zum größten 'Feil aus den Sammlungen von Basanavicius und Baranowskr
übersetzt hat. Kr macht auf deutsche, polnisch»*, weißru^sischo Einflüsse aufmerksam,,
auch Erzählungen aus 1001 Nacht finden sich; zu dem beliebten Schluß vom Er¬
zähler auf der Hochzeit (S. 180. 205) vgl. FE Communications 36, 20. Kerner erlaube
ieli mir ein paar Verweise auf Parallelen anzufügen: nr. I (Di»*b und Teufel Pauli.
Schimpf und Ernst c. 00; 1 Fliege und Floh) oben 15, lüo und Dähnhardt, Natur¬
sagen 3. 210: 5 (Alte und Teufel K. Köhler. Kl. Sehr, 3, 12: 14 Sidi Numan) Bolte-
Polivka 3. 7; 20 beiden des Flachses; «*bd. 1. 222 1 ; 54 i Kuchenregen) ebd. 1, 528: 35
iTierspracho) ebd. 1, 132; .‘»7 (Traumbrod) Gcsta Komanorum 100; 44 (Schatz im Baum¬
stamm' Pauli c. 020; 47 (Baba Abdallah Chauvin 5. 140; IS (Petrus* Töchter oben 11.
252; 10, 311; 22. 422. — (J. B.
Bökcrie voivn 1‘lattdütschen Kandsverbaml Meekolborg. Wat plattdiitsche Liid*
singen an seggen un siis noch wat. Heft 1; 1\. Wos.sidlo u. 11 Gosselek. Rimels.
Wolgast, P. Christiansen 1021. 32 S. — 2. Lustig Verteilers. 32 S - 3: Von allerhand
Slag Liid’. 47 S. — 4. R. Wos.sidlo, Uewer den Humor in de meekelbörger Volks-
>prak. 33 S. — 5: Von Hochti<h*n. 40 S. — Dem Volke wied»*rzugeben, was treue
Forscher aus seinem Munde geschöpft haben, damit es den Wert des eigenen Be¬
sitzes erkenne und ihn freudig weiter bewahre, das ist der Zweck dieser hübschen
auf 30 bis 10 Hefte berechneten Sammlung. Als Duelle der Tanz- und Neckreime,
Redensarten. Sprichwörter, Schwänke und Bräuche dienten vor allem Wossidlos. des
trefflichsten Kenners mecklenburgischen Volkstums, gelehrte Werke und seine ung»*-
lieuren hsl. Stoffsammlungen. Deu Volkshumor charakterisiert dieser in Heft 4)
als hervorgegangen aus der bildhaften Anschauung des Mecklenburgers, seiner Lust
an Neckereien und seiner unverwüstlichen guten Laune. Eine zusammenhängende
Schilderung der Hoehzeitsbräuche bietet Heft 5. Dabei sind die örtlichen Verschieden¬
heiten angemerkt, wie auch in den früheren Heften vielfach der Ort d»*i Aufzeich¬
nung eine» Reims angegeben wird. Daß viele Schwänke sich bis zu Wiekram und
Hans Sachs zurückverfolgen lassen, sei nur beiläufig bemerkt. — (J. B.
.T. Bolte, Der Stiefelknechtgalopp, ein Lied der Biedermeierzeit (Mitt des V. für
die Geseh. Berlins 10*25. 72-74). — Eine portugiesische Marschmelodie, die vor 1820
nach Deutschland drang, winde hier zu einer Tanzweise mit dem Text ‘Herr Schmidt,
was kriegt denn Julehen mit’ umgeformt und 1832 durch den Berliner Zeichner Dörbeek
illustriert. Vgl. noch Böhme, Gesch. d. Tanzes 1, 200. 2, 200: Erk-Böhme nr 1033;
Bl. f. pomm. Volksk. 3, 95. 0, 55. 131: Amft, Volkslieder von Glatz nr. 200 ‘Die Htihner-
scharre*; A. Becker, Pfälzer Volkskunde S. 203.
Carl Calliauo, Niederösterreichischer Sagenschatz 1. Herausgeber: Niederöster¬
reichische Landesfreunde in Baden. Wien, H Kirsch (1924 . 248 S. in 5 Heften —
Die reiche Fülle von Sagen des ‘Wiener Beckens* zu bergen ist ein verdienstliches
Unternehmen, zumal bisher keine umfassende Sammlung existiert. Der vorliegende
erste Band umfaßt 302 Nummern, deren gedruckte und mündliche Quellen im In¬
haltsverzeichnis summarisch angegeben werden. Die Darstellung ist durchweg schlicht
und knapp, docli finden sich auch einige novellistisch ausgemalte Erzählungen. Wir
wünschen dem Werke einen rüstigen Fortschritt. — (J. B.)
C. Cappeller. Litauische Märchen und Geschichten, ins Deutsche übersetzt.
Berlin, W. de Gruyter & Co. 1924. VIII, 16S S. 5 M. Zu der gleichzeitig erschienenen
Sammlung litauischer Märchen von F. Specht bietet Capellers Werk eine gewisse
Ergänzung; denn die 48 Nummern des letzteren sind durchweg andern Quellen ent¬
nommen. Neben den einheimischen Gestalten des Donnergottes Perkun und der
hexenartigen, kindervertauschenden Laumen treten uns auch deutsche Märchenhelden
wie Däumling, Rotkäppchen, Aschenbrödel, Dornröschen entgegen. Andere Stoffe
sind international, so Nr. 1 “Der Himmel stürzt ein* (Bolte -Polivka, Anmerkungen
1,253); 4 Frösche und Sonne (Aesop 77 ed. Halm); 6 Wettlauf von Igel und Löwe
(Bolte-P. 3,353 ; 7b Fuchs und Wolf (ebd. 2,115); 9 Hund und Katze (ebd 2,457);
10 Zaunkönig (ebd. 3, 2S2 ; 12 Sehlangenbräutigam (ebd. 2,258); 16 der kluge Knabe
(ebd. 2, 359 2 ; 19 Gevatter Tod ebd. 1,387); 22a der überlistete Teufel (ebd. 1,159);
22e Teufel und Dieb Pauli, Schimpf u. Ernst c. 9u : 23 Kröte bittet zur Taufe (Bolte-P.
1-366), 30 tausendfältige Vergeltung (Montanus, Schwankbücher S. 029); 33a Zornwette
(Bolte-P. 2,294); 33c Hasenhüter (ebd. 3,272); 33f Ritt auf den Glasberg ebd. 3,111);
34 Luftschlösser (ebd. 3, 2G4 ; 3G Traumbrod (Gesta Rom. 10G); 38.39 Spielhansel
(Bolte-P. 2,1845; 40 Erdmänneken (ebd. 2,311); 49 der Kaufmann und sein Schwieger¬
sohn (ebd. 1.286): 43 Meisterdieb (ebd. 3, 386); 44 Bruder Lustig (ebd. 2,157); 45 das
tapfre Schneiderlein (ebd. 1, 159); 46 die zwölf Raben (ebd. 1,230); 47 Kaiser Ohne¬
seele ebd. 3,42S). Einige Stücke zeigen merkwürdige Entstellungen, so Nr. 20 aus-
der Lenorensage, 32 aus dem Bärenhäutern!ärehen. — (J. B.)
Geoffrey Chane er, Canterbury- Erzählungen, nach Wilhelm Hertzbergs Über¬
setzung neu herausgegeben von John Koch. Mit 20 farbigen Tafeln. Alte Erzähler,
neu hsg. unter Leitung von Johanne*- Bolte, Bd. 3.) Berlin. Herbert Stubenraucli
Notizen.
GL
1225. 46 + 570 S. — Zuerst begann Kannegießer 1827 mit der Übersetzung einiger
‘Canterbury-Erzählungen*; Fiedler machte sieh 1847 ebenfalls an das große Wagnis,
brach aber schon nach der ersten Gruppe '4- Rechtsanwalt) ab, und wieder rund
•zwanzig Jahre später gelang dem Gymnasialdirektor Wilhelm Hertzberg 1806 die
meisterliche Verdeutschung, die uns noch heute lieb und wert ist. Kleinere Dichtun¬
gen übertrug John Koch 1SS0, und A. v. Düring wollte endlich den ganzen Chaucer
verdeutschen; doch blieb sein Unternehmen nach dem 8. Rande (1888-1885-1886
stecken: Haus der Fama, Legende von guten Frauen, Vogelparlament, Canterb. Gesell.
Seine Arbeit ist der liertzbergs gewiß ebenbürtig; diese ist seit 1S7<> nicht wieder
erneuert worden. Ob es dem von mir hochverehrten Chaucer-Forsehcr John Koch
gelungen ist, den Wortlaut dieser doch immerhin klassischen Übersetzung durchweg
zu verbessern, mag mancher bezweifeln; denn es handelt sieh um Geschmacksfragen.
Aber manche Stellen klingen hart, sind vielleicht Sprachfehler. Gleich der Anfang
z P». bei Hertzberg:
Wenn vom Aprilregen mild durchdrungen
Der Staub des März recht gründlich ist bezwungen
Und so von Kräften jede Ader schwillt.
Daß aus dem Boden Blum* an Blume quillt usw.
Bei Koch: Wenn der Aprilwind sanften Regen bringt,
Der Märzendürre an die Wurzel dringt.
Und jede Ader mit solch [ll] Säften schwellt,
Daß diese Kraft erzeugt die Blumenwelt usw.
An dem köstlichen Wortlaut „Mit Liebestränken wußte sie Bescheid, denn >ie
verstand den Spaß aus frührer Zeit' hat K. aber nicht zu ändern gewagt, und auch
sonst noch öfter — und tat gewiß recht daran. Nicht durchweg ist es K. gelungen,
M-ine Angabe im Vorwort zu erfüllen, den Ausdruck zu bessern. Aber dafür hat er
mehrere Stellen hinzugefügt, die Hertzberg einst als anstößig beiseite gelassen hatte.
Die gebildeten Leien müssen ihm dafür Dank wissen, abgesehen davon, daß wir ja
heute freiere Anschauungen hegen und das Buch schließlich nicht für ‘höben* Töchter*
geschrieben ist. Auch Hertzbergs für seine Zeit gründliche Anmerkungen sind mit
breiter und tiefer Kenntni> der seit 1870 schier unabsehbar angeschwollenen Lite¬
ratur auf den heutigen Stand der Wissenschaft gebracht worden; leider haben dabei
auch manche seiner noch immer wertvollen Äußerungen der Rücksicht auf den Raum
geopfert werden müssen. Eine gründliche Einleitung von 46 Seiten berichtet über
„das Zeitalter Chaucers“, „Sprache und Schrifttum iin Zeitalter Chaucers“, „das Leben
Chaucers“, „Cliaucers Werke". Vorsichtig und taktvoll nimmt er darin zu noch un¬
gelösten Fragen der Chaucerforschung Stellung. Aufgefallen sind mir auch hier
einige >prachliche Eigen Willigkeiten: S. 8 „als dessen in Frankreich anerkannte[rj
Bruderssohn", S 81 „Jcne[r] Stellung des Prologs der Legende entspricht auch dessen
innere Beschaffenheit 11 , S. 42 -trat Ch. in bewußten Gegensatz zur heimischen Volks¬
dichtung und die [der] durch Spielleute vergröberten r !] Romantik". Aber was ich
hier sagte, bitte ich wirklich nur als Sonnenflecke zu betrachten; man sieht sie auch
nur bei scharfer Beobachtung mit Hilfsmitteln. Denn an diesem Buche wird auch
der Bibliophile beim ersten Betrachten seine helle Freude haben. Der Verlag hat
einen geradezu wundervollen Druck angewendet, und die 26 farbigen Tafeln nach den
Handschriften von Ellesmere und Cambridge sind prachtvoll wiedergegeben. —
(Hermann Kügler.)
Arthur Christensen. Persiske aeventyr, oversatte. Kebenhavn, G. E. C.
Gad 1224. 158 S. 4° 6,50 Kr. — Schon mehrmals hat der gelehrte Autor durch wert¬
volle Veröffentlichungen unsere Kenntnis persischer Erzählkunst bereichert ^vgl.
oben 2S, 151 88, 14). Hier bietet er als ersten Band einer dänischen, von P. Tuxen
veranstalteten Sammlung ‘Aeventyr fra mange lande* ein Dutzend längerer und
kürzerer Novellen, Märchen und Schwänke aus dem 16. bis 12 Jahrhundert, die in
verschiedenen Stilarten, vom einfachen Bericht bis zu üppigem Schwulst abgefaßr
sind. Die beiden ersten (Schlange lösen; Tod und Mutter stehn in Anvar-i-suheili,
einer Bearbeitung des indischen Pantschatantra, gehen aber in letzter Linie auf
äsopische Fabeln zurück; die 3. Erzählung aus dem Beliar-i-danish schildert eine
Reise zum Lande der ewigen Jugend und die Verstoßung daraus, ähnelt also dem
von R. Köhler, Kl. Sehr. 2,406 besprochenen Gedicht von Cavaliere Senso. Glücklicher
verläuft Ilatim Tais Reise nach der verzauberten Stadt Badgerd (nr. 5). Der Hund
mit dem Rubinhalsband und die ungetreuen Brüder (Nr. 1) ist eine gleichfalls rieht
sehr geschickte, mit Wiederholungen desselben Motivs arbeitende Kunstdichtung.
In nr. 6 ‘Sad und Said' begegnet uns das aus Indien stammende Grimmsche Märchen
vom Krautesel (Nr. 122 ; der Übersetzer entnahm es gleich der folgenden Erzählung
vom getrennten Liebespaar, die an das Volksbuch von der schönen Magelone er¬
innert, (vgl. Chauvin, Bibi, arabe 5,24 aus dem persischen Papageienbueh. Unter
den kurzen, aus mündlicher Überlieferung aufgezeichneten Volksschwänken ist der
Notizen.
&2
letzte ‘Wer sprielit zuerst' als eine eigenartige Variation der Sehweigewette (oben
28,134 hervorzuheben. Eine willkommene Einleitung lind stoffvergleichende Nach¬
weise sind dem hübsch ausgestatteten Bande beigegeben. — (J. B.)
E. Consentius. Alt-Berlin Anno 1740. Mit 10 Abbildungen und 2 Planblättern.
3. vermehrte Auflage. Berlin, Gehr. Paetel 1025. 310 S. 10 M. — Zum dritten Male
tritt die treffliche kulturgeschichtliche Schilderung Alt - Berlins, die bereits oben
18,340 und 22,215 unsorn Lesern vorgestellt wurde, in die Öffentlichkeit. Sie ist von
dem gewissenhaften Verfasser wiederum gründlich durchgearbeitet und erheblich
vermehrt worden, während die Anlage unverändert blieb. 'Glücklich gewählt ist der
Regierungsantritt Friedrichs II. als der Zeitpunkt, in dem Preußen für die euro¬
päische Politik Bedeutung gewann. Consentius zeigt, wie die lebhafte Bautätigkeit
Friedrich Wilhelms I. damals das Stadtbild umgestaltet batte und welche Schatten¬
seiten die Bauspekulation darbot; er gewährt uns Einblick in die Wohnungen, Gärten,
die Wirtschaft, die strenge Gesindeordnung, die Nahrung, die Tor-Accise. die Herren-
und Damenmoden und vieles andre. Von staunenswerter Beherrschung des Mate¬
rials zeugen nicht nur die umfänglichen Anmerkungen auf S. 233 -203, sondern auch
die Darstellung weiß durch reichliche, mit Humor ausgewählte Zitate aus den Ver¬
ordnungen, den Anzeigen des Intelligenzblattes und andern Quellen und durch ku¬
riose Einzelheiten den Leser in die Atmosphäre des 18. Jahrhunderts zu versetzen.
Das Buch ist daher sowohl lehrreich als vergnüglich zu lesen, dazu vom Verlage mit
Stadtansieliten und Plänen glänzend ausgestattet. — (J. B.)
Albert Dieterich. Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. 3. erweiterte
Auflage, besorgt von Eugen Fehrle. Leipzig-Berlin. Teubner 1025. IV. 157 8.
geh. (> M., gebd. T.GO M. — Der Neuherausgeber des wundervollen Werkes hat, wie
Wünsch bei der 2. Auflage, Text und Anmerkungen Dieterichs nicht geändert, son¬
dern das ihm von verschiedenen Seiten, u. a. von W. Amelung und L. Mackensen
zugeflossene neue Material an Parallelen und Exkursen, vor allem seine eigenen
Zusätze in den Anmerkungen mit Namensangabe angehängt. Da zu vermuten ist,
daß auch weiterhin derartige Addenda einlaufen werden, wäre für eine vierte Auf¬
lage eine Zusammenfassung sehr erwünscht. Von Fehrles Zusätzen seien besonders
genannt die Auseinandersetzung mit dem Einspruch, den Goldmann ( r Cartam levare“.
Mitt. d. Instituts für österr. Geschiehtsforschg. 35, 1 ff, 1914) gegen gewisse Deutungen
Dieterichs erhoben hatte, und ein längerer Exkurs über Cic. de leg. 11 55. Sehr
dankenswert ist die Erweiterung des Registers. — F. B.
J. Erdeljanovic. Einige Fragen zur Ethnologie der Südslawen. Belgrad 1024.
(serbisch) 25 S. 4°.
Wilhelm Fra enger, Jahrbuch für historische Volkskunde. 1. Band: Die Volks¬
kunde und ihre Grenzgebiete. Mit 206 Abb. Berlin, H. Stuben rauch 1025. 348 8.
Lex. 8. Geh. 20 M., Halbleinen 21 31. — Herausgeber und Verleger haben sich ein
ausgesprochen geschichtliches Ziel gesetzt, das sie durch Behandlung der Geschiehte-
der Volkskunde, durch systematische Mitteilung wichtiger Quellendokumente, durch
Würdigung besonders volkswüchsiger Persönlichkeiten und durch historische Spezial¬
behandlung der drei Gebiete: Volksdichtung, Bauformen, Bildnerei erreichen wollen.
Der vorliegende 1. Band stellt eine Vorstufe zu den für später beabsichtigten dar r
insofern er in der Theorie wie an praktischen Beispielen darlegen will, auf welche
Weise sich die Volkskunde mit ihren Nachbarwissenschaften zu fruchtbarem Zu¬
sammenwirken vereinigen kann. Der Inhalt der Abhandlungen beider Art ist so
reich, zumal auch jene Grenzbegehungen neben theoretischer Betrachtung mit einer
Fülle von Beispielen ausgestattet sind, daß eine besondere Besprechung jedes ein¬
zelnen Beitrags wohl berechtigt wäre. Vorbehaltlich solcher seien daher hier nur
die Einzelarbeiten registriert, deren bloße Verfassernamen die Gediegenheit des
Werkes gewährleisten. Von den Grenzgebieten behandelt Arthur Haberland t die
Vorgeschichte, Naumann die Religionsgeschichte, Frh. von Klinssberg die Rechts¬
geschichte, Robert Petsch die Literaturwissenschaft, Michael Haberlandt die
Kunstwissenschaft; praktische Ergebnisse der Arbeit auf diesen Gebieten bringen:
Fehr, Das Stadtvolk im Spiegel des Augsburger Eidbuches, von Klinssberg
Hühnerrecht und Hühnerzauber, Bolte, Zur Geschichte der Punktier- und Los¬
bücher, Fra enger, Materialien zur Frühgeschichte des Neuruppiner Bilderbogens.
Endlich folgt eine kritische Bibliographie vom grenztheoretischen Gesichtspunkt aus
Naumann, Religions-, Kiinssberg, Rechts-, Mackensen. Literatur- und Fraenger, Kunst¬
geschichte). Jeder, der der historischen Seite der Volkskunde neben ihren Gegen-
warts- und Zukunftsaufgaben gleiche Bedeutung zumißt, wird das übrigens mit
Abbildungen reich geschmückte, gedankenvolle Buch mit dankbarem Interesse
studieren. — (F. B.)
L. Frobenius. Atlantis 9: Volkserzählungen und Volksdichtungen aus dem
Zentral-Sudan. Jena. Diederichs 1924. 427 S. geh. 7,50 31., geb. 9 31. — Der neue
Band des großen Afrikawerkes bringt die Überlieferungen der am mittleren Niger-
Notizen.
63
oder Quorra wohnenden Xupe, deren alte Kultur erst im 15. Jahrh. dem Islam erlag,
aber noch in einzelnen Spuren nachlebt. Anher einer Beschreibung des Familien-
und Wirtschaftslebens erhalten wir 122 Märchen, deren verbreitetste Stoffe hier kurz
verzeichnet werden mögen: S. 106. 365 (Gummifigur) Dähnhardt, Xatursagen 4,26.
— 110.126 Strickziehen' Atlantis 11,2*29.341. — 133 (Srhatzfinder morden einander
Bolte-Polivka, Anmerkungen 2, 151. — 134. 385. 386 (Schlange lö<en) ebd. 2, 120. —
153,380 Frau Holle) ebd. 1,225 — 173 dncest) Kirchhof, W^ndunmut 1,320. V. Schu¬
mann, Xaehtbiichlein c. 26. — 177 (Stab treibt Blätter) Tannhäusersage. — 186: Suchier,
Der Schwank von der viermal getöteten Leiche 1022 — 101 Biirle) Bolte-Polivka 2, 17.
— 196 Ehemann stellt sich blind) ebd 3, 124. — 100 (Hahnrei auf dem Birnbaum)
Boccaccio 7,0; Chauvin, Bibi, arabe S, 07. — 217. 304 (Amazonen) ebd. 8,55. — 230.306
(treue Tiere holen das gestohlene Kleinod) Bolte-P. 2, 458. — 247 Verwandlungs¬
kampf) ebd. 2,68. — 263 Kürbismädchen) vgl. ebd. 2, 55 ‘Allerleirauh'. — 270 (Joseph)
Bibel — 200 (zwei Diebe) Bolte-Polivka 3,393. — 372 (Der dickgefressene Hund
bleibt im Kellerloch stecken^ ebd. 2, 100. — 374 376 (Tiere im Waldhause) ebd. 1,255.
— 385 die undankbare Gattin) ebd. 1, 120. — Echt afrikanisch sind die Tierfabeln
von der listigen Schildkröte und Spinne; zur Erhöhung der Spannung werden wir¬
kungsvoll Reden lebloser Geräte eingeführt (S. 316.359 . — (J. B.
V. Geramb, Die Volkskunde als Wissenschaft (Zs. f. Deutschkunde 38,323—311).
— Ein Überblick über die Auffassungen und Begrenzungen der Volkskunde seit
Weinhold und Riehl bis auf H. Naumann und G. Koch; eine Antrittsvorlesung an
der Universität Graz. — V J. B.)
E. bin Gorion. Die schönsten Geschichten der Welt hsg. Berlin, Morgenland-
Verlag 1024 t: Von der Prinzessin Dordsehe, ein buddhistisches .Märchen aus Tibet
(vgl. M. J. bin Gorion, Der Born Judas, 1,310. 4 Bl. S ü . — Der Dechant von Badajoz,
altspani>ehe Xovelle aus aus dem 14. Jahrh. (Juan Manuel, Conde Lucanor 11; hier
nach Liebeskind, Palmblätter 1, 226;. 6 Bl. 8".
Franz Gottwald, Heimatbuch vom Wedding. Berlin X 113, Kribe-Verlag, o. J.
(1924 . 24S S. - Uns geht nur der umfangreiche Abschnitt über ‘das Volksleben auf
dem Wedding' (8 160-220 an. Wer ihn verfaßt hat, ist nicht ersichtlich, da der
Herausgeber seine Beiträger summarisch im Vorwort abtut. Bei dem ‘Sprachlichen’
ist zu bemerken, daß nach den Arbeiten von Agathe Lasch, Seelmann u. a. kein
philologisch Geschulter mehr behaupten kann, das Berlinische sei keine eigene
Mundart. Die Ausdrücke 'Topploch, Klicpseh, Spanne' iS. 161) u a. m. sind, vielleicht
mit Hilfe von Zeichnungen, zu erklären. ‘Straßennamen' gehören nicht zum Volks¬
leben. Die ‘Laubenkolonisten und die Kleingärtner’ sind warmherzig beobachtet,
besonnen und verständnisvoll beurteilt. ‘Volkskunst’ im strengen Sinne fehlt offen¬
bar. Der Abschnitt über die ‘Sagen’ enthält manche Xichtsage. Im großen Ganzen
aber ein wirkliches Heimatbuch, das als erster Wurf wohl zu begrüßen ist
(Hermann Kiigler.)
Marcel Gran et, La Religion des Chinois (Science et (Zivilisation, Collection
d'Exposcs synthetiques du savoir liumain, publiee sous la direction de Maurice
Solovinc, Xr. 4). Paris, Gauthier-Villars et Cie. 1022. XIII, 203 S. 8 frs. — Die
Sammlung ‘Science et (Zivilisation’ will, ähnlich mancher unserer deutschen Samm¬
lungen, wie etwa ‘Aus Natur und Geisteswelt' oder ‘Sammlung Göschen’, doch in
ausführlicherer Darstellung, einem weiteren gebildeten Publikum die Kenntnis der
verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete und ihrer wichtigsten Forschungsergeb¬
nisse vermitteln. Dementsprechend ist auch die vorliegende Veröffentlichung Prof.
Granets eine gemeinverständlich gehaltene Einführung in die Kenntnis der chine¬
sischen Religionen. Das Buch enthält vier Hauptkapitel, von denen das erste die
‘Bauernreligion’, das zweite die ‘Feudalreligion', das dritte die ‘offizielle Religion’
behandelt, unter welcher der Verfasser den Konfuzianismus begreift. Der vierte
Abschnitt gilt dem Taoismus und dem Buddhismus. Kapitel 2 und 3 bilden den
Hauptinhalt. Unter der ‘Feudalreligion’ versteht Granet den Himmelskult, die
Agrarreligion und die Ahnenvevehrung. Er stellt den Typus dieses religiösen Kom¬
plexes im Zusammenhänge mit den sozialen Zuständen dar an Hand der Berichte
über das Fürstentum Lu, des Musterstaates jener Feudalzeit. Diese Feudalreligion
erscheint Granet als eine Ausgeburt des bürgerlichen Milieus der alten Feudalstüdte.
— Das Buch überrascht durch seine neuartige soziologische Betrachtungsweise eben¬
so wie durch glänzenden Stil. Es bietet keine nüchterne Aufzählung von Tatsachen,
sondern sucht die religiösen Verhältnisse in fesselnder Weise aus den allgemeinen
Kulturzuständen begreiflich zu machen. Freilich gibt Granet, der seine zugrunde
liegenden Forschungen teilweise an anderer Stelle niedergelegt hat, hier nur eine
(Quintessenz, ohne jeden Quellenbeleg, <>hm* Literatiirnaehweisungen. Ich meine, daß
gerade eine populäre Schrift nicht auf solche verzichten darf, mag es auch nur ein
kleiner Teil der Leser sein, der dadurch zur weiteren Beschäftigung mit dem Gegen¬
stände instand gesetzt wird. Ebenso wäre ein Index sehr am Platze gewesen. D<un
<34
Notizen.
deutschen Leser, der den chinesischen Religionen noch fern steht, ist die Lektüre
zur Einführung Wohl zu empfehlen, doch zweckmäßigerweise erst nach einem Studium
von Grabes ‘Religion und Kultus der Chinesen’ (Leipzig 1910), einem Huche, welches
ganz anders angelegt ist als das vorliegende, aber jedenfalls eine solide Tatsachen-
kenntnis vermittelt und trotz Eikes' kürzlieher Ablehnung China 8. 1GT) in seiner
Art heute noch nicht iibertroffen ist. — Leonhard Adam.)
Albert Gruhn, Der Schlüssel zur Mythologie. Erstes Heft: Das Paradies,
1. Teil. Schöneiche b. Rerlin. Selbstverlag 1924. 39 S. — Nachdem vor einiger /.tut
ein sonderbarer Schriftgelehrter das biblische Paradies in Mecklenburgs gesegneten
Ebnen lokalisiert hat, wird es in vorliegender Schrift an den Nordpol verlegt. Zu¬
erst glaubt man eine Parodie vor sich zu haben, merkt aber bald mit Bedauern,
daß es dem Verfasser mit seinen Phantasmen Ernst ist. — (F. B.
Hans* F. K. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes. Mit 27 Karten und
539 Abb. 7. Auflage (unveränderter Neudruck der G., umgearbeiteten Auflage.)
München, .). F. Lehmann 1924. VIII, 504 S. Leinenband UM. — In der Be¬
sprechung der 1. Auflage (oben 34, HiOf) wurde ausgesprochen, daß die Zeit für ein
populäres Rassenweik noch nicht gekommen sei, da die Rassenforschung von all¬
gemein anerkannten Resultaten noch zu weit entfernt sei. Daß diese Ansicht nicht
unbegründet ist, zeigt die starke Umarbeitung, die der Verfasser bereits nach zwei
Jahren als notwendig erkannt hat. Neben den vier Rassen der Erstauflage nimmt
er nunmehr noch eine fünfte an, die er nach des Schweden Nordenstreng Vorgang
die „ostbalti>ehe“ nennt (bei Kraitschek oben 34, IG5 r Ostras>e u genannt , kurz-
küpfig-breitgesichtig-hellfarbig (Typen u. a Fritz Reuter, Gorki. Dostojewski, früher
als vorwiegend östlich oder nordisch * mongolisch bezeichnet. Über die Gründe, die
ihn zu dieser Erweiterung seines Rassenschemas bewogen haben, spricht sich G. in
der Vorrede ausführlich aus. Auch sonst hat er starke Umarbeitungen vorgenommen,
so fehlt z B. der gesamte Abschnitt, der die Rassengeschichte der Inder, Perser,
Hellenen, Römer u. a. m. behandelte; der Verf. beschränkt sich auf die Darstellung
der gemeinsamen Züge innerhalb der Rassengeschichte dieser Völker, was wegen
der Willktirlichkeiten. die die erste Fassung in diesem Teile enthielt, zu begrüßen
ist. Auch an zahlreichen anderen Stellen sind die von der Kritik erhobenen Ein¬
wände berücksichtigt worden, an dem Grundcharakter des Werkes hat sich indessen
nichts geändert. Seine hohe Auflagenziffer zeigt, daß es in weiten Kreisen Eingang
gefunden hat; ob dies im Interesse einer vorurteilslosen Behandlung der Rassen-
frage liegt, bleibt durchaus zweifelhaft. — (F. B.)
Bruno Gutmann, Das Dsehaggaland und seine Christen. Leipzig, Evang-
lutlier. Mission 1925. 1S2 S. mit 17 Abbild. — Von 1S93 bis zum Weltkriege haben
deutsche Missionare am Kilimandjaro gewirkt. Von ihrer erzieherischen Tätigkeit
unter den Dschagga berichtet G., dem wir schon zwei treffliche ethnographische
Schilderungen dieses Negerstammes verdanken (oben 2G, 215;. Er warnt vor der
Auflösung des völkischen Zusammenhanges und zeigt, wie die europäische Zivilisa¬
tion, die den sog. Frauenkauf beseitigen und Selbständigkeit der Individuen ein¬
führen will, gerade dem durch die Sippe gefestigten Eheleben Schaden bringt.
Einzelne Kapitel handeln u. a. von dem Traumleben, zweiten Gesicht, der Warnung
durch Sprichwörter und Zeichensprache, eignen Dichtungen der Neger nach deut¬
schen Melodien, Weihnachtsbäumen und Krippen. — J. B.)
A. Haas, Arkona im Jahre 11GS. 2. Aufl. Stettin, A. Schuster 1925. G2 S. —
Im Jahre 1918 veröffentlichte Haas in Bergen a. Rügen eine Übersetzung von Saxo
Grammaticus’ Bericht über die Eroberung Arkonas durch die Dänen (35 S. Text
und 20 S. Anmerkungen), eine Arbeit, die in der nunmehr vorliegenden 2. Aufl. er¬
weitert und vertieft worden ist. So sind vier neue Kapitel hinzugekommen S. 29
bis 39), in denen die Ereignisse des Jahies 11G8 vor und in Uharenza geschildert
werden, wo >ich ebenfalls slawische Heiligtümer befanden, und auch die Anmer¬
kungen sind vermehrt und z. T. umgearbeitet worden, wobei auch die Resultate der
Grabungen C. Schuchhardts eingehend berücksichtigt werden. Ein Grundriß des
Swantewittempels zu Arkona nach C. Schuchha^dts Ausgrabungen im J. 1921 ist
auf der letzten Umschlagseite wiedergegeben. Die wertvolle Schrift des hervor¬
ragenden pommersehen Gelehrten ist allen denjenigen aufs wärmste zu empfehlen,
denen an der Erkenntnis der slawischen Kultur Xorddeutschlands gelegen ist, deren
Umgestaltung und Fortwirken in dem Volkstum der späteren Jahrhunderte festzu¬
stellen eine der brennendsten Aufgaben der historischen Volkskunde Norddeutsch¬
lands darstellt. — (Hans Findeisen).
A. Haas, Burgwälle und Hünengräber der Insel Rügen in der Volkssage.
Stettin, A. Schuster 1925. SO 8. — Haas vereinigt in dem vorliegenden schön ge¬
druckten und mit einem geschmackvollen Umschlag versehenen Buch G3 Sagen, die
sich an die Burgwälle und Hünengräber der Insel Rügen geknüpft haben, eine
äußerst interessante und danken>werte Aufgabe, über deren Lösung wir uns aufs
Notizen.
65
lebhafteste freuen können. Die größere Zahl der Sagen sind solche über Hünen*
gräber. wobei geschichtliche Sagen, Riesensagen, Zwergsagen, Schatzsagen und Spuk¬
sagen erscheinen. Literaturveiweise über Burgwälle und vorgeschichtliche Gräber
werden auf S. 4S gegeben. (Hans Findeisen).
A. Haas. Der Badeort Saßnitz auf Rügen. 1824— 1924. Hsg. von der Bade¬
verwaltung. Saßnitz 1924. 10 S. — In der vorliegenden Schrift behandelt Haas die
geschichtliche Entwicklung des Badeortes Saßnitz, der aus> den beiden 19o0 zu einer
Gemeinde vereinigten Ortschaften Crampas und Saßnitz entstanden i>t. Wie aus
den slawischen Namen der beiden Orte zu schließen ist, fällt ihre Entstellung in die
Zeit vor der Umschmelzung der einheimischen slawischen Kultur durch die christlich-
römische, deren Träger die als Eroberer auftretenden Germanen waren. Wir erfahren
die interessante Tatsache, daß die beiden Orte verschiedenartige Siedlungen dar¬
stellten: Crampa> eine Aekerbau>iedlung, Saßnitz dagegen eine Fischersiedlung. —
f Hau» FindeBen.
A. Haas, Die Tiere im pommeisehen Sprichwort (Poinmer>ehes Schrifttum.
Denkmäler pommerscher Ge>chichte, Dichtung und Mundart, hsg. von H. Benz¬
in.inn u. E. Gülzow, 2. Band\ Greifswald, K. Moninger 1925. 101 S. — Nach viel¬
fachen Vorarbeiten legt uns der hervorragende Kenner des pomnierschen Volks¬
lebens eine Sammlung von 1521 sprichwörtlichen Redensarten vor, die sich an die
Tiere. Haustiere und Wildtiere, geknüpft haben. Neben den eigenen Sammlungen
des» Verf. ist auch die Literatur nach Möglichkeit herangezogen worden, so daß wir
wohl eine erschöpfende Zusammenfassung des plattdeutsehen Spruchgutes über die
Tiere erhalten. Hochdeutsche Sprichwörter sind mit Recht nur vereinzelt aufge-
nommen worden. Für weitere Fntersuchungen ist somit durch Haas eine dauer¬
hafte Grundlage geschaffen worden, und da auch die Anlage praktisch ist, indem
die alphabetische Reihenfolge unter Zugrundelegung der hochdeutschen Tiernamen
gewählt worden ist, kann das Buch von jedeirnann leicht benutzt werden. Das
einfache aber geschmackvolle Gewand, in dem die neue Schrift des unermüdlichen
Gelehrten erscheint, entspricht dem wertvollen Inhalt. Möge uns A. Haas noch mit
recht vielen Ergebnissen seiner Studien erfreuen! Sehr dankenswert wäre auch eine
Sammlung der vielen kleineren Arbeiten, die H. seit etwa 40 Jahren in pommer-
sclien Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht hat, denn sie sind kaum irgendwo
alle zugänglich. — Hans Findeisen).
Faul Hambr uch, Südseemärchen aus Australien, Neu-Guinea, Fidji, Karolinen,
Samoa, Tonga, Hawaii, Neu-Seeland u. a. Jena, E. Diederichs 1910. XXIV, 061 S.
4 M. — 73 Märchen hat H.. der selber auf den Karolinen und bei den Melanesiern
Sagen und Lieder gesammelt hat, aus den Publikationen englischer und deutscher
Forscher und aus eignen Aufzeichnungen zusammengestellt. Die sinnvolle Anord¬
nung veranschaulicht die stufenweise Entwicklung von den urtümlichen einfachen
Erzählungen der Australier bis zu den ausführlichen, novellenartig ausgeschmiiekten
Heldensagen der Polynesier. Häufig erscheinen ätiologische Berichte von Tieren,
Pflanzen, Himmelskörpern sowie Verwandlungen von Menschen in Tiere oder Steine;
der Ursprung des Todes wird verschiedentlich erklärt, die Menschenfresserei spielt
ihre Rolle; doch auch moderne Luftschiffe, Fliegebeutel genannt ^S. 209. 213 , kennt
das Märchen, und die Tonga-Insulaner behaupten sogar, Xapoleon sei in ihrem
Lande geboren S. 119 . Auf internationale Zusammenhänge weisen die Überein¬
stimmungen mit indischen und europäischen Stoffen, wie den Gefährten mit wunder¬
baren Eigenschaften (S. 277. Bolte-Polivka. Anmerkungen 2, 95), dein Lebenswasser
(S. 2S2. Bolte-P. 2,399, dem Schlangenbräutigam (S. 238. Bolte-P. 2, 245>, dem
Drachentöter V S. 89. Bolte-P. 1,548), dem Wettschwimmen iS. 190. Bolte-P. 3,354).
Antike Sagen von Prometheus (S 178), Phaethon S. 92 , die Fabeln von Hermes und
dem Holzhauer S. 159 . von der Henne mit den goldenen Eiern 05. 177), der Grille
und Ameise (S. 5 , der Fledermaus (S. 199. Bolte-P. 2, 437 klingen an, und die
Allerweltsmotive von der Jungfrau mit dem Goldhaar (S. 200. 208. Bolte-P. 3, 33),
der Unterstützung durch die tote Mutter S. 123) oder durch die Bäume (S. 78. 204),
von dem besten Jüngsten, der magischen Flucht, den Wahrzeichen der fernen
Brüder (S. 255) usw. fehlen nicht. Dankbar sind wir für die ausführliche Einleitung
des Verf. und die genauen Nachweise der Anmerkungen, die uns über die Vor¬
stellungswelt der Süd>eevölker Aufschluß geben. Die sorgsam ausgewählten Ab¬
bildungen führen Landschaften, Volkstypen und die Ornamentik der Eingeborenen
vor. — (.1. B )
P. Hambruch, Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena,
E. Diederichs 1922 IV, 331 8. 4 M. — Dies willkommene Seitenstück zu den ‘Süd¬
seemärchen' Hambruchs bietet 10 Nummern aus Renels Fontes de Madagascar und
51 Erzählungen aus der reichen malaiischen Literatur von Insulinde, unter denen
die beiden Zyklen der unserm Reineke Fuchs entsprechenden Zwerghirsch-Geschiehten
und der Streiche de.^ unter verschiedenen Namen auftretenden javanischen Eulen-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 5
m
Notizen.
snie^els Jaka Bodo ein besonderes Interesse beanspruchen. Die Quellen sind jedes¬
mal Gewissenhaft angegeben, leider nicht immer mit den Seitenzahlen, %\as dem Be-
nutzer unnötige Mühe verursacht Zur Geschichte der Stoffe »teure; ich e,n_ paar
Nachweise bei Nr. 5 und 6. Wettlauf zweier 1 lere (Bolte-I olivka 3, 3o4 . - <• Die
mächtigsten Dinge (R. Köhler 2, 47. Dahnhardt, Natursagen .>,3..,. 526). - 8. Ge¬
winnbringender tausch Bolte-P. 2,202). - 9. Einigkeit macht stark (Pauli, Schimpf
und Krnst e. cSßl . — 10. 54, 2. oh,'JO. I nibos Bolte-P. 2, 1 < . — 12. Konigswahl der
Vo<M (ebd. 3, 2S2). — 16, I Der befreite Tiger (ebd 2, 420). — 16, 10. Ins Holz beißen
(elul. 2 117). — 24. Die ungetreue Gattin (.ebd. 1, 130). — 32. Iherbrauugam (ebd. -,
2(J1). — 31 Verwandlungen des Unzufriedenen ebd. 1, TIS"). — 3o. Stroit dei Glied«
(Pauli c. 37)0). — 37. Amphitryon Bolte-P. 2. 420;. — 41. Mädchen als Krieger '.ebd.!,
3SI1H - 42. Aschenbrödel (ebd. 1,181). - 13. Der goldene \ ogel (ebd 1, oO.h 3, 506).
- 41. Gebetserhörung (ebd. 1,65 3, 127 . - 45. Eisenhans (ebd 10o). - K.. Drachen¬
töter (ebd. 1,550 . — 4S. Die wahre und die falsche Braut (ebd. .>, -S-> • ‘^. Lebens¬
wasser ebd. 3,31). - 51. Dankbare Tiere (ebd. 2, 2<). — oo. Das Rätsel (ebd. 1. 1JJ;.
_ öl T Eisen von Würmern gefressen, Büffel von Vögeln \ . .Schumann Nacht-
büchlcin e. 11). - 55.6. Ein Goldklumpen angeboten (B. Krüger Hans < lawert
< 31 Abr a S. Ulara, Etwas für alle 3,791. Hoffmeister, Hess. Volksdichtung S. 101.
Wisset. Plattdt. Vm. S. 103. Cohen, Ndl. Sagen 2,860. Hackman Sagor 2 21o nr 314.
Journal of am. folklorc 32, 163). - 55, 7 17 Gefesselter tauscht (Bolte-I - IS ;
55, 11. Ich denke nach (oben 30,51 . - oo, 12. Ad absurdum fuhren (Bolte-1 . 2,o.l\
-'58. Vogels Lehren .Gesta Rom. 167) und Placidus-Eustachius (ebd 110. Chauvin 6,
lhl. Oben 28, 151 — In den Abbildungen werden malaiische \ olkstypen, Hauser
und Ziermuster veranschaulicht. — (J. B.
Th. Hampe, Der Zinnsoldat, ein deutsches Spielzeug. Berlin, H. Stubenrauch
IO 0 ! 116 S kl. 4", mit 1S6 Abbildungen, 30 Tafeln. Kleine volkskundliche Bücherei 1).
-“Die Monographie, mit der das neue Unternehmen des rührigen Heidelberger Kunst¬
historikers W. Fraenger in die Öffentlichkeit tritt, gilt einem von der Forschung bis¬
her vernachlässigtem Gebiete. Denn wenn auch Sammler und Museen, insonderheit
das Germanische Museum in Nürnberg, den Blei- und Zinnfigurchen. die den Kindern
das Leben der Krieger, Jäger und Zirkusleute vorführten, Aufmerksamkeit geschenkt
haben so macht sich doch für eine geschichtliche Betrachtung der Mangel älterer
literarischer und archivaliselier Zeugnisse empfindlich geltend. Im so dankbarer
sind wir für die vorliegende reichhaltige, wohlgeordnete und mit vielen Abbildungen
„ezierte Untersuchung des Nürnberger Gelehrten. In Nürnberg scheint die hand¬
werksmäßige Herstellung der Zinnspielfiguren in der 2. Hälfte des lb Jahrh. ihren
Anfan" zu nehmen. 1664 sandte Ludwig XIV. seinen Kriegsingenieur \auban dort¬
hin um für den Dauphin etliche hundert Musketiere, Pikeniere und Kavalleristen
aus Silber anfertigen zu lassen, die durch einen Mechanismus bewegt wurden. Spater
regten die Kriege Friedrichs des Großen, der eine gleichmäßige Lmformierung seiner
Soldaten durehfiihrte, die Nürnberger Zinngießer zur Kabnkation von Zinnso daten
an, die naturgetreu bemalt wurden. Besonders zeichneten sich die Leistungen
J. Hilperts (seit 1760) aus. Allmählich warfen sich auch in andern Stadtcn wie Furth,
Berlin. Aarau, Hannover, Leipzig, Kunsthandwerker auf die Herstellung des beliebten
Kinderspielzeugs. Im 19. Jahrh. entstanden neben den flachen, in giavierten Schiefer¬
formen gegossenen Figuren auch runde. Das Manövrieren der Offiziere mit Zinnsoldaten
beim ‘Kriegsspiel’ soll der polnische General Mieroslawski lS4b aufgebracht haben.
In Frankreich empfahlen verschiedene Schriftsteller die deutschen Zinnsoldaten den
Erziehern zur Wacherhaltung des militärischen Geistes. — (J. B.)
M Hant ke, Sagenschatz des Weichsellandes (P. Behrend Westpreußischer Sagen-
schatz ausgewählt und neuerzählt Buchschmuck von B. He lingrath. Danzig A M .
Kafemann 1924. 188 S. — Behrends Sammlung erschien 1906 —9 in fünf Bändchen,
ln der vorliegenden, fiir die Jugend bestimmten Auswahl sind die Quellenangaben
weggelassen und die Abbildungen der Örtlichkeiten durch neue, zumeist die Handlu „
veranschaulichende Zeichnungen ersetzt. — (J. B.)
Heimatkalender 1924 für den Kreis Regenwalde. Herausgaben vom
Landbund und vom Wohlfahrtsamt des Kreises Regenwalde. Labes, A. Straube und
Sohn — Der vorliegende Kalender bringt vielseitige geschichtliche, natuikundliche
und auch einige volkskundliche Beiträge zur Kenntnis des Kreises Regenwalde
Von den volkskundlichen Mitteilungen seien genannt: Erklärung einiger• Orts- und
Flurnamen des Kreises Regenwalde’ von W.Settgast (S. 33 —30, Das „Kirschenfest
in Dorotheenthal' von Lehrer Zander (S. 37 f); ‘Handwerks-Mißbrauche. Erschwerung
des Meisterrechts‘ von R. Lüdtke (S. 40f.) und ‘Eine verschwundene M eihnachtssiUe
(Christmette, seit 190S in Labes nicht mehr abgehalten; aus anderen Städtchen
Hinterpommerns jedoch noch bezeugt, S. 42f.) von R. L. — Sagen aus p d ®™ i ^ g ?
walder Kreise' sammelt Knoop (S. 55 -60), und A. Haas stellt die aus Pommern be
kanntgewordenen ‘Vogelsagen' zusammen (S. 60-64). — (Hans Findeisen).
Notizen.
07
H. Hepding. Hessische Volkskunde. Gießener Huchschulblätter 1924. 29. I)cz.
S. 25—28'. — Ein Überblick über die Forscher von den Gebrüdern Grimm bis aut die
Gegenwart. — (J. B.'
Otto Homburg er, Museumskunde (Jedermanns Bücherei. Abteilung Bildende
Kunst, hsg. von W. Waetznld), Breslau, Ferdinand Hirt 1921 124 S. — Mit Freude
können wir die ‘Museumskunde' des am Badischen Eandcsmuseum zu Karlsruhe
tätigen Kenners dieser anziehenden Materie begrüßen. Das Buch enthält 94 S. Text,
darauf Literaturangaben, Register und 20 Tafeln mit 28 Abbildungen, gewiß ein sehr
beschränkter Kaum für das behandelte Thema. Der Yerf. beherrscht jedoch seinen
Stoff so gut und geht bei der Darstellung so geschickt und taktvoll zu Werke, daß
es ein Genuß ist, seinen Ausführungen zu folgen und sich über die historische Ent¬
wicklung des Museumswesens, die verschiedenen Arten der Museen (nach ihrem In¬
halt , über die Museen nach ihrer Herkunft, Unterbringung und in ihrem gegenseitigen
Verhältnis sowie über ihre praktischen Aufgaben zu unterrichten. Die Volkskundc-
museen werden auf S. 23 - 20 kurz besprochen, wobei auch auf die Einrichtung von
Bilderarchiven hingewiesen wird, (‘inen sehr notwendigen Bestandteil eines jeden
Museums und für die Völkerkundemuseen ebenso wichtig wie für die Volkskunde¬
museen! Die Bildertafeln, die sehr gut ausgeführt >ind, bieten typische und
treffliehe Ansichten der verschiedensten Ausstellungsräume und machen die Viel¬
seitigkeit des deutschen Museumswesens gut anschaulich. Die inhaltsreiche und an¬
regende Schrift Homburgers verdient von recht vielen Menschen gelesen zu werden;
in Volks- und Sehiilerbibliotheken sollte sie nicht fehlen. — Hans Findeisen.)
Arthur Hübner, Die Mundart der Heimat. Breslau. F. Hirt 1925. 83 S. Der
Heimatforscher, hsg. von W. Sehoeniehen, Bd. I . — Die Sammlung, die hier mit
einer trefflichen Leistung verheißungsvoll anhebt, soll allen, die an der Erforschung
von Natur- und Kulturgeschichte ihrer Heimat selbst tätig mitzuwirken bereit sind,
vor allem der Lehrerschaft, eine Einführung in die Probleme und die Methoden
ihrer Bearbeitung gewähren. Auf dem Gebiete der deutschen Mundarten war es,
seit uns die Forschungen der letzten Jahrzehnte Vorsicht gegenüber früheren sum¬
marischen Festsetzungen gelehrt haben, nicht ganz leicht, eine klare und allgemein
faßliche Anleitung zu schreiben. Aber H. wird dieser Aufgabe gerecht. Er bespricht
die Schriftsprache, Umgangssprache und Mundart mit ihren Schichten, kennzeichnet
die schwankende Natur der Dialektgrenzen und geht auf die Wege der Forschung,
der Phonetik, der Feststellung des Laut- lind Formonbestandes und des Wortschatzes
ein, zugleich auf förderliche Einzeluntersuchungen hinweisend. Er zeigt endlich, wie
auch der sprachgeschichtlich Ungeschulte, sofern er nur Kenntnis der Mundart be¬
sitzt, durch Sammelarbeit der Lexikographie und, wie das Beispiel des Rheinischen
Wörterbuches lehrt, der Volkskunde erfolgreich dienen kann. — J. B.)
G. Hy ekel, Schlesischer Sagenborn, eine Sammlung schlesischer Sagen, unter
Mitwirkung namhafter schlesischer Schriftsteller hsg. 2. Aufl. Breslau, F. Goerlich
(1924). III, 100 S. — Enthält 20 Sagen, die dem Forscher fast alle aus Kühnaus großer
Sammlung bekannt sind. Der Jugend werden sie, teilweise weiter ausgesponnen und
mit Bildern geschmückt, Freude bereiten. — (J. B.)
I Ging, Das Buch der Wandlungen. Aus dem Chinesischen verdeutscht und
erläutert von Richard Wilhelm. Zwei Bände. Jena, Diederichs 1924. XVI, 286
und IV, 267 S. Gell. 10 M., gebd. 14 M. — In seinem Aufsatz über Punktier- und
Losbücher in Fraengers Jahrbuch (s. oben S. 62' verweist Bolte auf die von Wilhelm
zunächst in einem Vortrage in der Berliner Religionswissenschaftlichen Vereinigung
gemachten Mitteilungen über das uralte chinesische ‘Buch der Wandlungen* (I Ging)
und spricht die Vermutung aus, daß die arabischen Punktierbücher letzten Endes
darauf zurückzuführen seien. Inzwischen hat der um die Erschließung des geistigen
und religiösen Lebens Chinas hochverdiente Theologe und Philosoph nach mehr als
zehnjähriger Arbeit die Uebersetzung dieses im fernen Osten in höchstem Ansehen
stehenden Weisheitsbuches vollendet und damit eine bisher den meisten Europäern
verschlossene Quelle der Belehrung eröffnet. In seiner ersten Anlage ist 1 Ging ein
Wahrsagebueh zur Benutzung eines mit 49 Schafgarbenstengeln vorgenommenen
Orakels, dessen ziemlich komplizierte Technik (beschrieben I, 280 immerhin an die
einfachere der mittelalterlichen und modernen Punktierbücher erinnert. Den 64
‘Zeichen’, bestellend aus je sechs ganzen oder gebrochenen Strichen, zu denen man
auf diesem Wege kommt, entsprechen die Orakolsprüche, die den Grundstock des
Werkes bilden. Durch die dazu gegebenen Kommentare, die z. T. auf Kungtse und
seinen Kreis zurückgehen, erhalten diese den Charakter von Vorschriften und Be¬
trachtungen ethischer, dann aber auch politischer und wissenschaftlicher Art, die
das alte Weissagebuch in der Tat zu einem Weisheitsbuche machen. Unmöglich ist
es, in Kürze den sehr verwickelten Aufbau des Buches darzustellen, das in der Fülle
und z. T. auch in der Fremdheit seiner Ideen zunächst den Leser verwirrt. Bei ein-
Notizen.
6 S
gellenderem Studium ist man erstaunt und ergriffen über die Tiefe dieser uralten
Maximen, ihre Parallelen zur Antike und zum Christentum, ihre Anwendbarkeit auf
die verschiedensten Probleme der Gegenwart. — F. B.)
G. Jacob. Märehen und Traum, mit besonderer Berücksichtigung des Orients.
Hannover. 11. La faire 1923. 111 S, geh. 3 M. (Beitrüge zur Mürclicnkundc des Morgen¬
landes, Bd. 1 j. — Die aus einem Vortrage hervorgegangene Schrift will den Traum
al> unbewußte Dichtung und als die hauptsächliche Urquelle des Märchens schildern.
Nach einem Überblick über diu Verbreitung und Wanderung der Märchenstoffe, wo¬
bei .1. an dem etwas, flüchtigen Büchlein Korkes über die indischen Märchen (1910)
berechtigte Kritik übt. und einigen Hinweisen auf Sonnen- und Mondmythen be¬
triebt der Vf. die Erinuerungs , Wunsch- and Reizträume, denen man einst eine
viel höhere Bedeutung als heut beimaß, und die Märchenmotive, die sich aus der
Gewohnheit, Träume naehzubildcn, entwickelten: Zauberkleinode. Liebesglück, Ver¬
wandlungen. Totencrweekungen, zauberhafte Erstarrung, Vergessen der Verlobung,
Aufhebung von Raum und Zeit. Verdopplung des Ich usw. Ferner die wachen Traum¬
zustände, den Haschischrausch und die Hypothese, daß im Menschenfresser, Tier¬
bräutigam, Ticibraut Reste aus dem Geistesleben der Urzeit vorlicgen, die im Traum
iortleben. Natürlich muß J. auch andere Quellen des Märchens S. 87) und eine kunst-
gemäße Umgestaltung der zusainmenhangslosen Traumbilder zugestehen. Gegen
manche seiner Behauptungen, z. B. daß die griechische Sprache ungeeignet für phi¬
losophisches Denken sei S. 62, möchte ich Einspruch erheben; auch scheint mir
Aarne (S. 27) unterschätzt und Olrik zu Unrecht ganz übergangen. Aber die An¬
regung, die von dem lebendig geschriebenen Vortrage ausgeht, und die angehängte
Bibliographie der Mürchensanimlungen und Traumforschungen verdienen warme An¬
erkennung. — (J. B.)
Jahrbuch für jüdische Volkskunde, hsg. von Max Grunwald. Berlin u.
AYien, Benjamin Harz 1925. IV, 480 S. — Das umfangreiche Sammelwerk erscheint
als Fortsetzung der seit 1S98 in OG Heften erschienenen ‘Mitteilungen zur jüdischen
Volkskunde*, deren fleißiger Herausgeber auch für diesen Band den größten Teil der
Aufsätze geliefert und eine die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Veröffent¬
lichungen kurz zusammenfassende Einleitung geschrieben hat. Er behandelt: Volks¬
medizinisches und Zauberei, interessante Liedertexte und Melodien der Ostjuden,
.indische Mystik, Berufe der Juden, Wesen des Laubhüttenrituals. Sprichwörter und
Redensarten, teils in hebräischer, teils in jiddischer Sprache, teilen A. Landau und
S. AL mit. Wertvolle und gelehrte Beiträge zur vergleichenden Volkskunde liefern
A. AI armorstein und AI. L. Bamberger, wogegen es die umfangreiche Studie ‘Der
Fuß’ von J. Nacht an Kritik, Genauigkeit und Klarheit oft bedenklich fehlen läßt.
Ausführlich behandelt A. Löwinger die Auferstehung in der jüdischen Tradition,
und J.Bronner schildert an Abbildungen von Puppenmodellen die Festtracht jüdischer
Bürgerfrauen aus dem 17. bis 19. Jht. Wir wünschen dem neu gegründeten Organ
für jüdische Volkskunde weiterhin günstiges Fortschreiten. — (F. B.)
G Jungbauer, Die Rübezahlsage. Reichenberg, Franz Kraus 1923. 48 S. 1,90 AI.
— Ein verdienstlicher Überblick über die Entwicklung der neuerdings mehrfach
untersuchten Sage mit guten Literaturnachweisen. Der alte Berggeist, dessen Name
von hriobo rauh) und Zagei (Schwanz) abgeleitet wird, hat schon durch die Berg¬
leute und Kräutersucher weitere Züge erhalten; Joh. Prätorius übertrug dann 1602 in
seiner Daemonologia Rubinzalii Geschichten vom wilden Jäger, von Faust, vom
Rattenfänger, Eulenspiegel u. a. auf ihn. Eine künstlerische, halbsatirische Ausge¬
staltung lieferte Alusäus, an den sich neuere Dichter anschlossen. Rübezahls Fort¬
leben im heutigen Volksglauben erwies R. Loewe (oben 18, 1; 21, 31). — (J. B.)
Ignaz Kaup, Süddeutsches Germanentum und Leibeszucht der Jugend. München,
Verlag der Gesundheitswacht 1925. 110 S, 04 Tafeln; geh. 4,50 AL, gebd. 0 AL — Im
ersten Teil des Buches setzt sich der Verfasser, Professor der Hygiene an der Uni¬
versität Alünchen, vor allem mit Günthers Rassenkunde ('s. oben S. 04) auseinander.
Nach Günther ist die nordische Rasse im süddeutschen Sprachgebiet mit etwa 50%
vertreten, während die andere Hälfte der Bevölkerung vorwiegend der dinarischen
und der ostischen Rasse zugeschrieben wird. Günther sieht bekanntlich alles Heil-
für Deutschland in der ‘Aufnordung’, alles niclitnordische Blut erscheint ihm ‘minder-
erwünscht’, seine Wertuiteile lauten vor allem für die Ostrasse sehr ungünstig, so daß
es nicht verwunderlich ist, daß sein Buch in Süddeutschland z T. großes Befremden
erregt hat. (Übrigens ist zu bemerken, daß G. in der Neubearbeitung seines Buches
an diesen wie an anderen Angriffspunkten etwas nachgegeben hat; Kaup scheint nur
die ältere Form Vorgelegen zu haben.) Aus siedlungsgeschichtlichen und statistischen
Gründen glaubt K. für das gesamte deutsche Siedlungsgebiet eine nordisch-germa¬
nische Rasse annehmen zu dürfen, hervorgegangen aus einer nordischen Urrasse, der
auch Kelten und Slaven angehören, differenziert durch sekundäre Einflüsse, wie
Klima, Bodengestalt usw. Für die Erhaltung und Stärkung dieser allgemeinen ger-
Notizen.
09
manischen Rasse entwirft K. im zweiten Teile des Ruches einen ausführlichen Plan,
der vor allem eine systematische Pflege und Vermehrung der Leibesübungen fordert.
So hat dies populäre Rassenwerk, gegen dessen wissenschaftliche Ausführungen die¬
selben grundsätzlichen Bedenken zu erheben sind, wie gegen Günther, wenigstens
den Vorzug, daß die von ihm gezogenen praktischen Folgerungen immerhin ausführ¬
bar sind und dem ganzen deutschen Volke dienen wollen. — F. B.)
O, Knoop, Sagen, Erzählungen und Schwänke aus dem Kreise Regenwalde, ge¬
sammelt und hsg. Labes, Straube u. Sohn 1924. XI, 110 S. — Der vielbewülirte
Sammler bietet hier den Eingesessenen und ebenso den Sagenforschern eine hübsche
Übersicht des Sagenreiehtnms des hinterpommersehen Kreises Regenwalde. Von den
1 .‘13 Nummern waren * He meisten bereits in Zeitschriften und Büchern veröffentlicht;
die beiden letzten entsprechen den Grimmschen Märchen 59 und 65. — J. B.)
O. Knoop und A. Haas, Die Pferdekopfsagen (Monatsblätter d. Ge*. für Pom-
m ei sehe Geschichte 1925, 10 -12;. — Die friesische und pommevsche Sage von einem
Pferdekopf, der das Überschreiten einer Meerenge ermöglicht, fühlt K. auf altger¬
manische Pferdeopfer zurück; II. glaubt, daß das slawische Wort Perkop Graben
die friesischen Kolonisten in Pommern an die heimische Sage erinnerte. — «I. B.,
Th. Koch-Grünberg, Indianermärehen aus Südamerika. Jena, E. Diederichs
1921. IV, 341 S. 4M. — Der im Oktober 1921 auf einer Reise in Brasilien ver¬
storbene Vf war einer der nicht eben zahlreichen Forscher, die der Märchenwelt
der südamerikanischen Indianer ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben. Seine sehr
dankenswerte Auswahl umfaßt 117 Erzählungen von 29 Volksstämmen. Darunter
befinden sich verbreitete Motive, die in den Anmerkungen erläutert werden, wie die
große Flut, der Ursprung der Plejaden, des Feuers, der Besuch im .Jenseits mit den
drei Aufgaben für den Freier, die Pfeiikette, die Tierbraut, die magische Flucht, der
Wettlauf zweier Tiere, das Beißen in die Wurzel, da* Schöpfen mit einem Siebe.
Zum Seilziehen nr. 55) vgl. Meinhof, Afrikan. Märchen 42; zur gefesselten Nacht
nr. 115 oben 26,313. 27, 6S; zur Totenbraut (116) Erich Schmidt, Charakteristiken- 1,
212; zu der zweideutigen Frag«* 110) R Köhler, Kl. Sehr. 1, 291; zu der Äußerung des
Wiederbelebten ‘Ich habe gut geschlafen“ S. 222. 226. 297 ebd. 1.555. Daß die von
R. Lenz gesammelten araukanischen Märchen manche europäischen Elemente ent¬
halten, wird nur nebenher erwähnt. Beigegeben sind Abbildungen von Volkstypen
und Ornamenten. — J. B.
Fritz Krause, Das Wirtschaftsleben der Völker (Jedermanns Bücherei, Abteilung
Völkerkunde, hrsg. von Fritz Krause und H. Thilenins). Breslau, Ferdinand Hirt
1924. ISO S. — Das vorliegende Buch des bekannten Reisenden und Forschers ver¬
sucht in kurzen Zügen einen Überblick über die Wirtschaftsformen der Erde und
deren Entwicklung zu geben. Vorangestellt ist eine Einführung in die völkerkund¬
liche Wirtschaftslehre (S. 9 - 21), in der verschiedentlich Konstruktionen auftallen,
wie es doch z. B. das Volk ist, das in kleinsten Gruppen von 1—2 Familien über
(*in großes Gebiet zerstreut ohne Zusammenhang leben soll ^S. 15); auch die Familien,
die in einfachsten Verhältnissen für sich, ohne Verkehr miteinander, leben -)S. 20).
Krause unterscheidet bei der Sammelwirtschaft die Wirtschaftsform der einfachen
Sammler und Jäger und die der höheren Sammler und Jäger; bei der Produktions-
Wirtschaft die auf den Anbau von Nahrungspflanzen begründete Hackbau, Garten¬
bau, Pflug- oder Feldbau) und die auf Viehzüelitung begründete Wirtschaftsform.
Wir erhalten dabei von einigen Völkern, die typisch für die genannten Wirtschafts¬
formen sind, eine ziemlich eingehende Darstellung und kurze Hinweise auf andere.
So heißt es z. B. nach der Erörterung der sozialen Verhältnisse im Schinguquell-
gebiet vergleichsweise: „In Afrika beruht die Familie auf der Ehe eines Mannes mit
mehreren Frauen ....“ (S. 68), oder: ..In Bogadjim hingegen ist die Sippe irn Dauer¬
besitz eines bestimmten Teiles der großen ... Dorfrodung“ V S. 68 usw. usw. Es man¬
gelt. hier leider der Raum, näher auf das Buch einzugehen. Grundlegendes zu er¬
örtern, Versehen richtigzustellen, aber auch das Anerkennenswerte zu beleuchten.
Recht sympathisch berührt das Eintreten für Eduard Hahn, dessen Hauptgedanken
in dem Abschnitt über die ..Theorien zur Entwicklung der Wirtschaft“ besprochen
werden. Auf S. 69 steht der Satz: „Nimmt man die Ansicht auf, daß der Hackbau
von der Frau entwickelt ist, so wäre demnach die* Zähmung des Mannes zu geregelter
Arbeit durch die Frau und ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse erfolgt.“ — Hans
Findeisen.)
H. L. Kreidner, Schewwern un Wacken. Mansfäller Jedichte.’ 2. erneuerte Auf
läge mit Beigaben hsg. von Fritz Schnee. Ilettstedt, F. Schnee 1925. 99 S. 1 M.
Der pietätvolle Neuherausgeber dieser anspruchslosen Gedichte hat sich bemüht,
eine phonetisch möglichst genaue Wiedergabe zu lielcrn und ein Wörterverzeichnis
sowie erklärende Anmerkungen sprachlicher und sachlicher Art, letztere z. T. -ehr
elementai gehalten, hinzugefügt. — JA B.
70
Notizen.
W Kriekebrr", lndianormärchen aus Nordamerika. Jena, E. Diedericlis 19-4.
VII. 419 S. Pappbd. 1 M., Halbleder 6.50 M. — Nachdem Longfcllows Epos ‘Hiawatha
ISöö zuerst weitere Kreise mit der indianischen Mythenwelt bekannt gemacht hatte,
seizte unter der Führung des Deutschamerikaners K Boas eine so rege Sammel¬
tätigkeit auf diesem Gebiete ein, daß es dem Ausländer schwer fällt, einen ubei-
blick über die Märchen der verschiedenen Stämme Nordamerikas zu gewinnen. Im
so wärmeren Dank verdient das Unternehmen Krickebergs, eines Schülers von Faul
Ehrenreich, die tvpischen Erzählungen herauszngreifen und in einer Ordnung, die
den ethnographischen Gruppen folgt, verdeutscht vorzulegen: die dein nüchternen
Alltagsleben entnommenen Geschichten der Eskimo, die Tiermärchen der Ost- und
PlatcaiivÖlker, in denen dem Koyote (Präriewolf die Hauptrolle zufällt, die Sagen
der Xordwestkiiste vom Kuben und Xerz und mythischen Kulturverbreitern, endlich
die dualistischen Sehftpfungssagen der Kaliforuier. Wertvolle Erklärungen und Nach¬
weise liefern die volle 48 Seiten einnehmenden Anmerkungen. In der Streittrap,
wie weit die Märchen aus der Astralmythologie zu deuten sind, neigt sich K. ei
Anschauun° Ehrenreichs zu, die von den amerikanischen Forschern zumeist ab-
"elehnt wird, die aber die Sehnsucht nach einer gründlichen Prüfung der gesamten
Ge<tirnsa°en, wie wir sie vom 5. Bande der Dähnhardtschen Natursagen ei walteten,
in uns von neuem rege macht. Auf außeramerikanische Parallelen zu den Motiven
des Hiinmels^turzes, des Sonnenfanges, des Sonnensohnes S. 22 4 ein richtiges I hae-
thonmärcheiP, der Schwanjungfrau, der magischen Flucht, der statt der Entflohenen
antwortenden Gegenstände, der Pfeilkette (über die jüngst Pettazzoni in Folklore
:>ü 151 schrieb), des Ursprunges von Feuer, Echo, Tod, der A lerzahl statt der m
Europa tvpischen Dreizahl u. a. ist er absichtlich nicht eingegangen. Er bereitet
iedoch einen weiteren Band vor, der die Märchen der amerikanischen Kulturvölker
in Peru und Mexiko bringen soll. Werden dabei auch die soviele afrikanische
und europäische Motive verarbeitenden Märchen der amerikanischen Neger Berück¬
sichtigung erfahren? — J. B.)
Eduard Klick und Heinrich Sohnrey, Feste und Spiele des deutschen Land¬
volks. Dritte, neubearbeitete Auflage. Berlin, Deutsche Landbuchhandlung K -0.
37 l>S. ^eb. 5 M. — Die Neuauflage, von der vorhergehenden durch den \\ eltkrieg
getrennt, ist aufs neue durchgesehen worden und zeigt überall die Früchte soig-
fältiger Nachlese und rüstiger Weiterarbeit an dem im besten Sinne volkstümlichen
Buche. Xeuaufgenommen sind vor allem zahlreiche Spiele von volkstümlich-sport¬
lichem Charakter. — ^F. B.
S. P. Kvriakides, 0 ru.Tao tVnoc yonoz ('IIueQo/.öyiov Ttj* Mtya/.q* A/./.«oos, 1.
_511 — Der ; Tanzehor der sieben Jungfrauen', der in neugriechischen Zahlen¬
deutungen erwähnt wird Bolte-Polfvka B. 15 , bezeichnet die Sterne des großen Baren
und iin Mithraskult, wie A. Dieterich nachwies, die sieben bchicksalsgottmnen, die
bei den Gnostikern als die sieben Lichtjungfrauen wiederkehren. — (J. B.)
T. Lehtisalo, Entwurf einer Mythologie der Jurak-Samojeden. Helsinki 19*24.
171 S. mit 24 Figuren. (Memoires de la soc. tinno-ougrienne 53). — Bespricht kosmo-
gonische Sagen, Geister des Himmels, der Erde und Unterwelt, heilige Tieie (Bai,
Wolf, Frosch. Kuckuck), heilige Stätten (Götzenbilder, Opfer), Zeitgeister, Unreinheit
und Reinigung, Totenkult, Zauberer (Trommel, Verwundung, Lieder) - (J. B.
Werner Lindner, Mark Brandenburg. Mit 245 Bildern. (Deutsche Volkskunst
hsg. von E. Redslob, 2). München, Delphin-Verlag (1925). Geh. <,o0M., Pappbd. 8,oO M.,
Ganzleinen 9,50 M. — Als Fortsetzung der oben 34.172 allgemein charakterisierten
Reihe begrüßen wir mit besonderer Freude diesen Band, der der märkischen A olks-
kunst gewidmet ist. Man weiß, wie durch Berlins Einfluß und die weitgehende In¬
dustrialisierung in dieser Provinz alles wurzelecht Volkstümliche besonders stark
von moderner Zivilisation überschichtet ist. So ist es denn zunächst eine in erster
Linie rückwärts gerichtete Schau, die diese schönen Bildertafeln bieten, zusammen¬
gebracht durch bereitwillige Beiträge von amtlichen und privaten b teilen und nnt
einer gedankenvollen und frischen Einleitung und Beschreibung aus der r eder eines
Kenners eröffnet. Doch gilt auch für dies zweite Heft, was über den praktischen
Gegenwartswert des ersten gesagt wurde: „Gesunkenes Kulturgut ist wohl vielfach
die Grundlage auch dieser Volkskunst, aber in einer so eigenartigen und selbständigen
Umbildung, daß es befruchtend und belebend auf unser Haus- und Kunstgeweibe
wirken kann, das ja z. T. auch bereits siel» diese Vorbilder zu eigen gemacht hat. — [t . B.)
R. Lochner, Grimmelshausen, ein deutscher Mensch im 17. Jahrhundeit. A er¬
such einer psvehologischen Persönlichkeitsanalyse unter Berücksichtigung literatur¬
geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Gesichtspunkte. Reichenberg i. B , * ranz
Kraus 1924. XII, 206 S. Pragei deutsche Studien 29. — Der A erfassen* des bimpli-
cissimus. dessen Name- vor 100 Jahren noch völlig unbekannt war, ist durch ver¬
schiedene Forschungen der jüngsten Zeit in seinen persönlichen A erhültnisscn wie
in seiner schriftstellerischen Bedeutung in helleres Licht gerückt worden. Die vor-
Notizen.
71
liegende umfängliche Studie sucht ihn als Typus einer besonderen Seite des deutschen
We>cn> darzustellen, und zwar mit Hilfe der Psyehographie. Ha diese aber einem
Menschen des 17. Jahrh. gegenüber nur unter Kenntnis seiner ganzen Umgebung
und Zeitverhältnisse angewandt werden kann, so erwächst dem Vf. die Aufgabe,
die Voraussetzungen der Persönlichkeit seines Helden, den hessischen Volkscharakter,
die alemannische Umgebung, das bürgerlich-bäuerliche Elternhaus, die Natur¬
betrachtung jener Zeit zu schildern, ehe er zu seinen schriftstellerischen Äußerungen
über Weib, Familie, die einzelnen Stände, das deutsche Volkstum und Gesellschafts¬
leben. Sittlichkeit und Übersinnliches, gelangt. Und diese breite Berücksichtigung
de> kulturgeschichtlichen Standpunktes macht das Buch des vorsichtig und besonnen
urteilenden Vf. auch für die Volkskunde wertvoll. - J. B.)
F. Loose, Geschichte von Groß-Mühlingen. Verlag der „Anhaltischen Bund-
schau“ 1923. .*‘>1 8. 4”. — Ein von eifriger und liebevoller Kleinarbeit des Orts¬
pfarrers zeugendes Werk, das besonderen Nachdruck auf die Siedlnngsgeschichte und
ihren Zusammenhang mit der Volkskunde legt. AIit Vorbehalt ist freilich aufzu-
nelunen, was über die Anlage des Dorfes und seine Baulichkeiten in heidnischer
Zeit mit allzu großer Sicherheit ausgeführt wird. — (E. B.
Ernst Luther, Franken, Volk und Land. Ein Heimatbueh. Würzburg. Gehr.
Memminger 1925. üb S. 2 AI. — Ein bunter Strauß: anspruchslose, aus einem heimat¬
liebenden Herzen strömende Lyrik. Plaudereien über Wanderungen im Frankenland,
Familien- und Literaturgesehichtliches (über AI. G. Conrad und AL Dauthendey), Schil¬
derungen des dörflichen Lebens und Sammlungen von Keimen, Sprichwörtern und
Redensarten. Kein bedeutendes, aber ein durch die Unmittelbarkeit des Erlebens
erfrischendes Buch. — F. B.)
Jo>. AI e i j boom- ttalia ander, Javaansehe Sagen, Alythen en Legenden verzameld.
Zutphen, W. J. Thieme & Cie. 1924. 5 BL, 323 S. mit Illustrationen. 1,90 Fl. — Die
59 hier vereinigten Sagen aus Java und Borneo hat die Herausgeberin größtenteils
selber aus dem Munde der Eingeborenen gesammelt und, wie sie versichert, in der
Form wiedergegeben, wie sie die alten Großväter und Großmütter ihren Enkeln er¬
zählen. In den Ortssagen erscheinen Berge, in denen gewaltige Riesen Schmiede¬
arbeit leisten oder gefesselt stöhnen, versteinerte Schiffe und Alensehen, Aleergötter
und Gestalten des indischen und mohammedanischen Glaubens S. bl 1 der Prophet
in der Höhle und die Spinne). Häufig ist die Bestrafung Habgieriger, welche den
Göttern keine Opfer darbringen, und die Verwandlung in Tiere, Bäume oder Steine.
Blutschande zwischen Vater und Tochter (S. 126) oder Alutter und Sohn (169. 171)
wird rechtzeitig verhindert oder S. 190) hart geahndet. An Isaaks von'Gott gebotene
Opferung erinnert S. 179, an Ovids Erzählung von Apollo und Koronis die Ver¬
wandlung der als Liebesbote dienenden weißen Krähe in einen schwarzen Vogel
(S. 15S), an die vom Raben gestohlene Sonne iDähnhardt, Natursagen ö, 113.500) die
Entwendung des Lebenswassers durch die Krähe (S. 302). Andere bekannte
Alotive sind: das Wecken des Hahns, bevor der Riese den nächtlichen Bau vollendet
hat (S. 171, Ii. Köhler, Kl. Sehr, b, 581), der Liebhaber, der in Schmetterlingsgestalt
zur Geliebten fliegt (S 156), die böse Schwieger, die den Neugeborenen ins Wasser
wirft und die junge Frau verleumdet (S. 130\ der in einen Vogel verwandelte Vater¬
mörder 0$. 95), der Streit zwischen der gelösten Schlange und ihrem Retter (S. 309.
Pauli, Schimpf und Ernst c. 7 15 ed. Bolte), Feuer, Wasser und Ehre (S. 307. Pauli c. 4).
Ein angehängtes Register erklärt die javanischen Ausdrücke und Eigennamen. — (J. B.)
Carl Aleinhof, Afrikanische Märchen. Jena, E. Diederichs 1921. 34b» S. geh. 4 M.
— Schwierig war es, in einem einzigen Bande alle afrikanischen Stämme mit ihrem
Alärchensehatze zu Worte kommen zu lassen, und mit Recht hat daher der gelehrte
Verfasser auf die in Nord- und Ostafrika reichlich eingedrungenen arabischen Er¬
zählungen zugunsten des einheimischen Gutes verzichtet. Die 82 übersichtlich nach
den Hauptgebieten gruppierten Alärchen sind mit erläuternden Anmerkungen ver¬
sehen; beigegeben ist eine nützliche Sprachenkarte und Abbildungen von Volkstypen,
Skulpturen, Ornamenten und Schriftproben. Zur Verbreitung der Stoffe gebe ich
einige Notizen: Nr. I. Der gestiefelte Kater (Bolte-Polivka, Anmerkungen 1,334). —
3. Tiersprache ebd. 1,132). — IG. Der Vogel offenbart den Alord (ebd. 1,275*). —
17. Wettlauf (ebd. 3, 348. — 18. 78. Teerpuppe Dähnhardt, Natursagen 4,37). —
35. Verwandlungskampf (Bolte-P. 2,67). - 4L Die beiden Wandrer (ebd. 2,480). —
55. Des Schakals eine List ebd. 2,121). — 58. Die treuen Tiere ebd. 2,458). —
59. Streit um den belebten Bräutigam ^ebd. 3,5b» 1 ). — G2. Die Wolfshaut als Arznei
für den Löwen Aesop 255 ed. Halm. Graf, FF Comin. 38,23 . — 65. Frau Holle
(Bolte-P. 1,225). — 66. Rhampsinits Schatz (ebd. 3,406). — 67. Fuchs und Ente ebd.
1.519. — 74. Der Mittelpunkt der Erde (ebd. 3,232). — 76. Löwenanteil ,'Ae>op 260.
Kirchhof, Wendunmut 7.24 . — Natürlich spielen in den Tierfabeln neben dem
•Schakal der gewitzte Hase und die Schildkröte die Hauptrolle. — (J. B.
72
Notizen.
ntto Münsing, Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch ^Volksausgabe^, Erster Band.,
erste Lieferung ^A-ankamen . Xeumiinster, K. Wachholtz 1925. VIII, 128 Sp. Lex.
— Nach 20-jähriger Samnielarboit, an der weite Kreise der Bevölkerung Schleswig-
Holsteins beteiligt waren, beginnt der Herausgeber dies groß angelegte Werk erscheinen
zu lassen, und zwar zunächst in Form einer .Volksausgabe“, die nur das Material
seit etwa 1700 berücksichtigt: der ursprüngliche Plan wollte bis auf die Urkunden
des 1 2. Jahrhunderts zurückgehen, ist auch zum größten Teile ausgeführt, kann aber
aus wirtschaftlichen Gründen vorläufig nicht erscheinen. Auch diese, auf gelehrtes
Beiwerk verzichtende Vorausgabe ist überreich an Stoff, so daß man mit einiger
Sorge ausrechnet, wann das abgeschlossene Werk vorliegen wird, da cs in viertel¬
jährlichen Lieferungen erscheinen soll und die erste Lieferung nur etwa die Hälfte
des eisten Buchstabens enthält. Für die verschiedensten Teilgebiete der Volkskunde:
Mundart, volkstümliche Aiisdrueksweise, Sprichwörter, Rätsel. Aberglaube. Bauern¬
regeln, Volksbräuche, Wirtschaftliches u. a m. sind die Einzelartikel eine vortreffliche
Fundgrube. Möge eine Beschleunigung des Druckes gewisse mit der Einschränkung
des ursprünglichen Planes zusammenhängende Mängel in bezug auf Quellen- und
Zeitangaben ausgleichen. Auf jeden Fall ist das Werk von größter Bedeutung für
unsere Wissenschaft. — (F. B.)
[Ferdinand Mentz,] Volkslieder vom Oberrhein. Freiburg i. Br., Urban-Verlag
1925. 111 S. 3,50 M — Das schmucke Bändchen enthält 87 Lieder aus dem El>aß,
der Schweiz und Baden, mit Geschmack ausgewählt und in sechs Gruppen ge¬
schieden (erzählende, Liebes-, Abschieds-, Trinklieder, religiöse und sonstigel Warum
aber fehlen außer den Melodien auch Überschriften und Register? Der Name des
Herausgebers, der übrigens nur gedruckte Quellen benutzt hat, erscheint erst auf
der letzten Seite. — J. B.)
Robert Mielke, Das schöne Dorf in deutschen Landen. Ein Bilderatlas. Leipzig,
Quelle & Meyer 1025. 90 Tafeln mit 189 Abbildungen. 27 S. (Wissenschaft und
Bildung 2<J0 . — Von den bekannten dorfkundlichen Schriften des Verfassers legt
„Das deutsche Dorf“ (TeubneU den Hauptnachdruck auf die siedlungsgeschichtlichen
Probleme, während „Das Dorf“ (Quelle & Meyer) mehr die künstlerische Seite, der
Siedlungstypen hervorhebt. Eine gewisse Ergänzung in Richtung auf stammesart-
liche Beziehungen bildet zu diesem Buche das vorliegende, das ihm auch eine große
Zahl von Abbildungen entnimmt. Der knappe angehängte Text gibt einen fort¬
laufenden Kommentar zu den Bildern, treffend und klar sind die landschaftlichen
und völkischen Bedingtheiten der einzelnen Typen und ihre künstlerische Wirkung
im Rahmen der Landschaft herausgearbeitet. Die Abbildungen selbst leiden zum
Teil unter dem kleinen Format, bieten aber viele prächtige und charakteristische
Proben der schönen dörflichen Siedlung. — (F. B. x
Mittelalterliche Volksbücher, Bd. 1 —3. (1. Aesops Fabeln. 04 S. 4°. 6 M.—
11. Geschichte von der wunderlichen Geduld der Gräfin Griseldis, hsg. von H. Hoepil.
30 S. 4". 5 M. — Des Giovanni Boccaccio Buch von den berühmten Frawen. Ver-
teutscht von Hainrieh Steinhöwel, hsg. von dems. 10 M. München. Holbein-Verlag
[1924].) — Wie leistungsfähig unser deutsches Verlagswesen trotz aller Schwierigkeiten
allmählich wieder geworden ist, dafür bieten diese Hefte eine Probe. Ihren Haupt¬
schmuck bilden die handkolorierten Holzschnitte, die den Originalausgaben von
Johann Zainer in Augsburg und Ulm, 1473 und 1475, entnommen sind. Mit diesen
Wiedergaben einer naiven Illustrationskunst, ihrer kräftigen Type und ihrem gut¬
gewählten Papier müssen sie eine Freude für jeden Bücherliebhaber sein, zumal der
Preis äusserst niedrig ist. Den einheitlichsten Gesamteindruck macht Boccaccios
Frauenbuch, da es zu den Originalbildern auch den alten Text der Steinhöwelschen
Verdeutschung von 1473 setzt, während der Text zum Aesop einer andern Über¬
setzung entnommen und für die Griseldis Schwabs geglättete Fassung gewählt
wurde. — F. B.)
Moltke Moe, Folkeminne fra Boherad. Oslo 1925. VII, 173 S. (Xorsk Folke-
minnelag 9). — K. Liestöl. unterstützt von R. Christiansen, bietet hier eine Aus¬
wahl aus den volkskundlichen Sammlungen, die der verstorbene M. Moe seit 187S in
Telemark zusammenbrachte. Wir erhalten 36 Märchen, 35 Sagen, ferner Balladen
und Vierzeiler (Stevi Hochzeits- und Bestattungsbräuche, Aberglauben, Rätsel,
Kinderlieder und Spiele. Auf vergleichende Hinweise hat der Herausgeber ver¬
zichtet, obwohl es bei den Liedern und besonders bei den durch Christiansen. 1921
katalogisierten Märchen leicht gewesen wäre, die Nummern etwa im Register beizu¬
fügen Ich möchte deshalb wenigstens auf einige wertvolle Märchen aufmerksam
machen: nr. 1. Brüdermärchen Bolte-Poh'vka 1, 537); 3. Zahlendeutung ebd. 3, 15);
4. Fürchten lernen (ebd 1, 31); 5. Der gestiefelte Kater ebd 1,332': 6 und 14. Das
Erdmänneken (ebd. 2, 304 : 8. Der Draehentöter mit seinen Hunden (ebd. 1, 549);
9. Fitchers Vogel (ebd. 1. 401); 11 und 35. Das tapfere Schneiderlein (ebd 1. 155):
12. Die gefräßige Maus ebd. 1. 40 ; 17. Bär und Fuchs (ebd. 3, 358); IS und 36. Grün-
Notizen.
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hart ebd. 1, 370 N ; 19. Trubort ,ebd. 3, 39.') ; 20. Der junge Kiese lebd. 2, 294); 22. Hansel
und Gretel (ebd. 1, 117'; 24 Jungfrau Maleen ebd. 3. 148 : 20. Sneewittchen (ebd. 1,
454); 27. La belle et la bete (ebd. 2. 242). — J. K.)
Eugen Mogk und Wilhelm Kreis, Volkskunde. (Jahresbericht des Literarischen
Zentralblatts, 1. Jahrg. 1924, Bd. 16. Leipzig, Verlag des Börsenvereins 1925. 60 S.
2 M. — Die umfassenden Bibliographien der meisten Wissenschaften, darunter auch
der Volkskunde, hinken bekanntlich, durch die Menge dessen, was sie bringen, be¬
schwert, beträchtlich hinter der Gegenwart her, und die buchhändlerischen Sammel¬
übersichten sind nicht jedem, der sie braucht, zugänglich. So ist es ein sehr dankens¬
wertes Unternehmen de^ Bibliothekars der Deutschen Bücherei Fn ls, aus dem mit
dieser Sammlung in Verbindung stehendem, vor kurzem neuorganisierten Literarischen
Zentralblatt kurze Jahresübersichten für die einzelnen Wissenschaftsgebiete, 24 an
Zahl, zusammenzustellen. Von Fachgelehrten bearbeitet, enthalten sie in erster
Linie die Titel der in der genannten Zeitschrift angezeigten Bücher und Aufsätze,
z. T. mit Beifügung kurzer Referate. Die Mitarbeit Mogks, der besonders die syste¬
matische Anordnung festgelegt hat, erhöht den Wert dieses handlichen und billigen
Hilfsmittels. — F. B
Pol de Mont en Alfons de Cock, Wondervertelsels uit Viaanderen, uit den volk<-
mond opgeteekend, met 32 ]»laten van Pol Dom. Zutphen, Thieme en Cie 1924. XV,
330 S. — Das splendid gedruckte und mit hübsehen farbigen Bildern ausgestattete
Buch ist «“ine neu«' Auflage der 18 »6 erschienenen Sammlung vlümischer Volks¬
märchen, die oben 6, 223 angezeigt wurde. Im Vorwort erstattet Pol de Mont einen
willkommenen Bericht über sein** gemeinsam mit dem verstorbenen Freunde A. de
Cock betriebenen Studien zur vhiinischen Volkskunde. Er schildert dabei sein Ver¬
fahren, aus den verschiedenen Aufzeichnungen eines Märchens di«* beste auszusuchen
und sie mit Hilfe der übrigen zu vervollständigen, wobei aut Wiedergabe der Mund¬
art verzichtet wurde. Der Text der 38 Märchen und die beigegebenen kurzen An¬
merkungen ist in der neuen Auflage unverändert wiederholt, außerdem aber sind
drei neue Nummern (15, 19, 4i) hinzugefiigt. Wenn der Herausgeber auf alle Nac h¬
weise von Parallelen verzichten wollte, um den Charakter eines Volksbuches testzu¬
halten, so hätte es doch nahegelegen, wenigstens die Nummern von Mamits de
Meyers Verzeichnis «1er vlämischen Märchen (FF Communications 37) anzuhängen.
Da ich bereits 1S90 vergleichende Notizen gegeben habe, begnüge ich mich hier mit
ein paar Nachträgen: Nr. 15. Van den Sterken Smidsgast (Bolte-Polivka, Anmerkungen
2. 303'. — 19. Van de zingende en springende Leliebucm ebd. 2. 236). - 30. Van «le
Koningsdochter en de Bakkersknecht (ebd. 3, 496\ 32. Van toen we gingen nootjes
plukken (Reuter, Werke ed. Seelmann 1, 396 zu Lauschen 1,29 . - 36. Van Jan Vottc-
graf (R Köhler, Kl. Sehr. 2, 406. — 3S. De dankbare Dieren ^Bolte-Polivka 1, 549. —
40. Van het Tooverstokje etc. (vgl. ebd. 3, 99 . — 4L Mauricia ebd. 1, 453). — .). B.)
Walther G. Oschilewski, Deutsche Sprichwörter, ausgewählt und eingeleitet.
Jena, Diederiehs 1924. XI 122 S., geh. 2,50 M., gebd. 2»,50 M. — Schade, daß sich der
Herausgeber nicht mit dem bloßen Wortlaut der 1000 von ihm gesammelten Sprich¬
wörter begnügt hat: es wäre eine Sammlung zustandegekommen, der man wohl eine
klarere Entscheidung für inhaltliche oder alphabetische Anordnung, stärkere Kritik
in der Auswahl und manches andere außerdem gewünscht hätte, die aber im ganzen
doch kurzweilig zu lesen gewesen wäre. Leider aber hat er es für nötig gehalten,
eine Einleitung vorauszuschicken. die in Inhalt und Form überaus absonderlich an¬
mutet. Da gibt z. B. der 1566» verstorbene Agricola im Jahre 1584 seine Sprichwörter
heraus, und — kein Spaß — ‘Laertios, der Sohn des Arkeisios und Vater des Odysseus’
teilt mit, daß Aristoteles ein Sprichwörterbuch hinterlassen habe. u. dgl. m. Hätte
der Hsg. nur noch mehr ‘Sparsamkeit im Gebrauch der Absichten inmitten der
literarforschendun Welt* angewendet, philosophus mansis^et! — F. B.)
Fr. Pfister, Dreißig Jahre bayerische. Volkskunde. (Die Frankenwarte, Blätter
für Heimatkunde, Beilage zum Würzburger General-Anzeiger 1925 Nr. 2) — Bericht
über die verdienstliche Tätigkeit des von Brenner, Schmidkontz und Bcyhl im Jahr**
1894 gegründeten Vereins für bayerische Volkskunde und Mundartforschung. Proben
aus dem Archiv des Vereins brachten die ‘Mitteilungen und Umfragen* (1895 — 1912 ,
dann die ‘Blätter zur bayerischen Volkskunde* 1912 1921). Der durch den Krieg
und seine Folgen nahezu vernichtete Verein soll in diesem Jahr seine Tätigkeit wieder
aufnehmen, wozu wir ihm alles Gute wünschen. — (F. B.
A. V. Rantasalo, Der Ackerbau im Volksaberglauben der Finnen und Esten mit
entsprechenden Gebräuchen der Germanen verglichen 3 —4. Sortavala 1920. Helsinki
1924. 137 - 162 S. (FF Communications 32. 55). — Die Fortsetzung der oben 30. 102
angezeigten Arbeit behandelt das Säen und Pflanzen, das dabei im Frühling gefeierte
Fest, die Behexung fremder Felder, ihre Entfernung, die Opfergebräuche bei der Ent¬
zauberung, die Rache am Feldvcrhexer und das Schützen vor Dieben. Wir hören
74
Notizen.
\om Umsehreitrn «Im* Saat. vnin Vergruben von Menschen- und Vudiknoehen, auch
von Eisen und Salz, gebotener Nacktheit und Schweigen hoi diesen Bräuchen. Bei
dem Frühlim;sf«\st spi«4t ein großes, zu Weihnachten gebackenes Brot eine Rolle.
Der Aekerbehexer stiehlt das Korngliick an bestimmten Tagen durch Entnahme von
Erde. Samenkörnern, Ähren o«ler Tau; man schützt sich gegen ihn durch Räuchern
oder Zaubersprüche. Rache am Diebe verschafft die Marterung eines Frosches. — (J. BJ
H. Reich mann, J. Schneider, W. Hofs ta etter. Ein Jahrtausend deutscher
Kultur (Duellen von SOO-lSO'b. 1. Band: Die äußeren Formen deutschen Lebens.
2 Auflage. Leipzig, J. Klinkhardt 1922. XVI, 390 S, 3 gebd. 10 M.— Für die Behand¬
lung der Kulturgeschichte im Schulunterricht haben die drei Herausgeber ein ganz
vorzügliches Hilfsmittel geschaffen, für das zweifellos ein starkes Bedürfnis bestand.
Freytags ‘Bilder aus der deutschen Vergangenheit' verarbeiten in ihren darstellenden
Teilen das Quellenmaterial und geben nur anhangsweise längere Auszüge aus einer
engbegienzten Auswahl von Quellen, andere Werke verwandter Art sind zum großen
Teil aus äußeren Gründen für Sehulbibliotheken schwer zu beschaffen. Hier finden
wir ein erstaunlich leiches und umfassendes Material in handlicher Form vereinigt,
für jeden Lehrer eine rechte Schatzkammer zur Belebung seines Unterrichts. Das
gesamte Privatleben, das Städtewesen, Handel, Rechtsverhältnisse, religiöse und so¬
ziale Bewegungen innerhalb des behandelten Jahrtausends werden durch geschickt
ausgewählte Zeitstimmen aus Literatur und Urkunden verdeutlicht. Das Buch wird
ohne Zweifel weit über die Kreise hinaus, für die es in erster Linie bestimmt ist,
belehren«! und anregend wirken. — (F. B.)
Y K. Reuschel, Das deutsche Volkssehauspiel, eine Auswahl. Bielefeld u. Leipzig,
Velhagen Klasing 1922. VI, 134 S. Deutschkundliche Bibliothek 1). — R. bietet
eine hübsche Probenlese aus den Weihnachtsspielen Schlesiens, Süddeutschlands und
Deutschungarns, Auszüge aus den Passionsspielen, dem armen Lazarus, Schwerttanz,
Sommer und Winter, Faust und Kaiser Karl, mit guten Literaturnachweisen. — (J. B.
7 K. Reuscli el, Volksdichtung, ein Literaturbericht über Märchen, Sage, Volkslied,
Volksschauspiel, Sprichwort Zs. f. Deutschkunde 3S, 394 - 399., — Ein Nachruf auf
den am 20. August 1924 Entschlafenen ebd. 38, 394, ein anderer von K. Guratzsch,
Sächsische Heimat 8, 2G f. — V J. B.)
K. Rotter, Volkssagen und Märchen aus Böhmen, neu bearbeitet und hsg.
Breslau. Priebatsch (1924 . 12G S. — Auswahl aus Wenzigs westslavischem Märchen¬
schatz (1857 . — (J. B.
L. Rütimeyer, LT-Ethnographie der Schweiz. Mit 3 Tafeln und 196 Abbildungen.
Basel, Helbing A Lichtenhahn 1924. XXI. 399 S. 20 Fr. /Schriften der Schweize¬
rischen Gesellschaft für Volkskunde 16). — In einer Anzahl von Aufsätzen hat R.
den Versuch ergologischer Stammbäume unternommen und ist dabei z. T. zu höchst
bedeutsamen Ergebnissen gekommen. Das vorliegende Werk faßt diese Einzelunter-
-suchungen in mehr oder weniger überarbeiteter Form zusammen und fügt weitere
gleicher Art hinzu. Für zahlreiche charakteristische primitive Werkzeuge, Geräte,
Bauten u. dgl. z. B. Kerbholz. Steinlampe, Birkenkerze, Spielzeugtiere, Handmühle,
Grabstock, Hacke, Pflug, Joch, Egge, Scheibenrad, Pfahlbauten, Wohngruben, Masken,
Schalen - [= Näpfchen] - und Gleitsteine^ wird zunächst ihr Vorkommen in der Gegen¬
wart oder in junger Vergangenheit, besonders in der Schweiz, nachgewiesen und
dann der Versuch gemacht, eine möglichst lückenlose Verbindung mit prähistorischen
Entsprechungen herzustellen. Selbstverständlich ist eine solche in idealer Kontinuität
nur selten möglich, immerhin geben die umfassenden Forschungen des Verf., belegt
durch geschichtliche Nebeneinanderstellungen von Abbildungen, vielfach die über¬
raschendsten Aufschlüsse über die Lebenszähigkeit der Kulturdinge, ja, in mehreren
Fällen (z. B. Steinlampen, Birkenkerzen) ermöglicht erst der gegenwärtige oder jüngst
vergangene Gebrauch, den der Verf. feststellt, eine Erklärung der prähistorischen
Funde. So ist das wundervoll ausgestattete Buch ein besonders wertvoller Beitrag
für das in letzter Zeit mehrfach behandelte Problem des Zusammenhangs und der
Zusammenarbeit von Prähistorie und Volkskunde. — (F. B )
O. Schell, Bergische Volkskunde. Elberfeld. Martini & Griittefien 1924. 142 S. 2,40 M.
— Seheil, dem wir schon eine treffliche Sammlung des belgischen Sagenschatzes ver¬
danken, legt hier in gedrängter Fassung die Frucht langer Forschertätigkeit vor. Er
behandelt in 8 Kapiteln Stammeskunde, Haus, Tracht, Sprache, Volksdichtung, Glaube,
Brauch, Rechtspflege seiner Heimat, vielfach auf ältere mythologische Grundanschau-
ungen von Sonne, Feuer, Baumkult, Gottesurteilen u. a. hinweisend, Märchen und
Sagen aber gänzlich übergehend. Für eine zweite Auflage möchten wir statt der ver¬
einzelten Zitate ein summarisches Verzeichnis der früheren Literatur beizugeben
empfehlen, um die Benutzer des Buches zu weiteren Studien anzuregen. — (J. B.)
Max Schemke. Wat Ohmke vertällt. Markes und Powjooskes ut de Danzger
Gegend. Danzig, Kafemann 1924. 117 S. mit Holzschnitten, geb. 2,70 M. — Die 30
Notizen.
flott in niederdeutscher Mundart erzählten Märchen und Schnurren sind großenteils
aus dem Yolksrnundv geschöpft und zeigen, wieviel alte» Volksgut in undjini Danzig
noch lebt. So S. 9 Dat klooke Hanske Bolte-Polivka Anm. 3, 146», 17 De Pann-
kook (Dähnhardt, Xatursagen 3, 272). iS Erschaffung der Ziege ebd. L 153), 21 Starker
Tabak (Bolte-R. 2, 530), 21) Fuchs und Gans (ebd. 2, 20< , 3o Teure Eier (ebd. 2, 368),
4Ö Kuchenregen (ebd. 1, 527), 53 Fuchs und Schwanz ebd. 1. 518 , 5h Darauf dem
Schulwege gefundene Geld oben 19, 94 l ), GG Xeekmärchen Bolte-R. 2, 21Ü> 71 Bären¬
häuter (ebch 2, 127 , 9b Feindschaft der Hunde, Katzen und Mäuse ebd, 3, 552) u. a.
- (J. B.)
Max Schmidt, Völkerkunde. Mit 80 Tafeln, b Völkerkarten und schematischen
Abb! im Text. Berlin, Ullstein 1924. 446 S. — Es ist gewiß eine der schwierigsten
Aufgaben, die man sich stellen kann, eine großzügige Zusammenfassung völkerkund¬
licher Forschung zu geben ; denn die Schwierigkeiten, die einer einheitlichen Darstellung
dieser Art im Wege stehen, sind derart, daß sie nur bei ausgebreitetster Gelehrsamkeit
und größter Energie des Verfassers zu einem befriedigenden Ergebnis führen können.
Das neuste umfangreiche und in großem Format gedruckte Werk des hervorragenden
Forschers ist die Frucht jahrzehntelanger mühevoller Studien über die außerhalb des
europäisch-asiatisch eil Kulturkreises stehenden Völker, Studien, die durch mein lache
Reisen zu den südamerikanischen Indianern ergänzt und vertieft worden sind. Wir
können dem Verfasser für sein allen Anforderungen genügendes Werk nur unseren
herzlichsten Dank sagen; denn sein Buch füllt eine lange und schmerzhaft empfundene
Tücke in der gesamten ethnologischen Literatur aus, fehlte es doch seit der Ratzel-
scheu ‘Völkerkunde*, die jetzt vielfach veraltet ist, an einem Buch, das man mit
gutem Gewissen den vielen völkerkundlich Interessierten empfehlen konnte. — Nach
einer gründlichen und tief durchdachten Einleitung (S. 13—58, werden wir im ersten Teil
in die allgemeine oder systematische Ethnologie eingeführt (S. 59 — 243), während im
zweiten Teil 'S-245 -416) die spezielle oder beschreibende Ethnologie (Ethnographie)
ihre Darstellung findet. Besonders der erste Teil ist allerhöchste Anerkennung wert,
ist er doch der erste als wirklich gelungen zu bezeichnende Versuch. Klarheit in die
verwirrende Mannigfaltigkeit der Menschheitskultur zu bringen. Die Abbildungen,
zumeist nach Originalen des Berliner Museums für Völkerkunde, sind hervorragend
gut wiedergegeben, so daß wir auch dem Verlag für die hingehende Arbeit, dem Buch
ein seinem Inhalt würdiges Gewand zu geben, dankbar sein müssen. — (Hans bind¬
eren.)
Otto Schön er mark, Die schönsten Harzsagen von Blankenburg und dem liegen¬
dem, von Kloster Michaelstein, Heimburg, Hüttenrode, Rübeland und Elbingerode
{Aus Deutschland» Sagenschatz. Eine Sagen- und Märchen-Anthologie. Ilrsgg. y. Rud.
Stolle, 3 Teil . Braunschweig, E. Appelhaiis & Comp. 1923. 56 S. — Das Büchlein
enthält 46 Sagen, zumeist nach I’röhle, Treseburg, Günthers Sagenschatz usw, und
bringt von Blankenburg 14 Sagen, 12 Xuminern vom Regenstein, je eine von Heimburg
und Hüttenrode und 8 von Eiibcland und Elbingerode. Es war ein guter Gedanke,
die Harzsagen nach und nach in einer billigen Ausgabe wieder zugänglich zit machen,
und auch das neue Bändchen der Reihe (vgl. oben 34, 128 und 130) kann deshalb auf
eine gute Aufnahme rechnen. Die Zeichnungen von H. Xernst sind recht geeignet, den
Stimmungsgehalt des Bändchens zu erhöhen. — (Hans Findeisen.)
Hu^o Schuchavdt, Der Kreisel im Baskischen S. A. aus Revue basque 15,
S. 351—360 . — Angeregt durch den Aufsatz von T. de Aranzadi in Revue basque
1923, 676 ff. über Spielknöchelchen und Kreisel im Baskischen, untersucht \ erl. die
Wechselbeziehungen zwischen Wort und Sache bei dem genannten Kinderspielzeug,
wobei er auch die romanischen Sprachen, in erster Linie naturgemäß das Spanische,
berührt. So stellt er S. 357) für span, peruiola ‘Kreisel’ eine schallnachahmende Grund¬
lage mit volksetymologischer Einmischung von Dingwörtern fest wie pera^ ‘Birne’,
pemo ‘Bolzen’ usw) Erschwert wird die Untersuchung durch eine beständige Kreuzung
von Homonvmen und Synonymen. Eingehend beschäftigt sich \ er), mit den dici
baskischen Namen der span .tabu - spielknöchelchen: torto , kurku.mait, die sich sämtlich
als Entlehnungen aus dem Romanischen erweisen. So führt \erf. torto auf ital. trot-
tola ‘KreiseF zurück, bei kurkit nimmt er das Zusammenfließen verschiedener Duellen
an (vgl. S. 354\ maif leitet er von lat. mallcus ‘Hammer’ ab. mail, ursprünglich Kolben
bei dem bekannten Mailspiel, wurde dann auf die Kugel übertragen.) Andere Namen
wie z B. bolborita , exurko , lotzur bieten wenig Bemerkenswertes. Bei den eigentlichen
baskischen Kreiselnamen stellt Verf. das Zusammenfallen dieser mit den Namen des
Gallapfels fest. Die anthropomorphe Bezeichnung des Kreisels als Tänzers txantxari
umgebildet aus dantxarD ist ohne weiteres einleuchtend. Die wertvolle Abhandlung
beschließt ein ethnographischer Exkurs über den Kreisel, dem \ erf. kulturelle f*e-
deutung zuerkennt, indem er in ihm das Vorbild der hpindel sieht. (R. Riegler.
Gudmund Schütte, Dänisches Heidentum. Mit 26 Abbildungen. Heidelberg,
0. Winter 1923 154 S. (Kultur und Sprache 2. — Das Buch ist eine l marbeitung
TG
Notizen.
des 1919 erschienenen dänischen Werkes ‘Hjemligt Hedcnskab', in welchem der VerL
♦ inen frisch geschriebenen, auf größeren gelehrten Apparat verzichtenden überblick
über die Entwicklung der Religion in Dänemark bis zum Eindringen des Christentums-
zu liefern versucht Vom Stofflcbenglanben (Präaniinismus) und Seelenglauben schreitet
er fort zu den Ahnengeistern und Schicksalswesen, den als friedlose Seelen un-
bestatteter Menschen aufgefaßten Elfen und Äsen sowie Naturdümonen. Die Gott¬
heiten erscheinen zunächst in primitiver unpersönlicher Auffassung (Sonnenscheibe\
dann in Tiergestalt (Stier auf dem Opferkessel von Gmidestrup'l und in der Zeit nach
Christi Geburt in menschlicher Verkörperung von Fruchtbarkeit und Frieden (Nerthus,
Frigg, Freyja, Njörd, Frey, Balder, Bovo). Zu diesen Wanen Vanir) dringen aus den
Go enländern Stideuropas die kriegerischen Gestalten der Asengöttcr Odin und Thor
mit ihrem Gefolge ein. Gegen die in den Edden vorliegende isländisch-norwegische
Mythologie verhält sich Schütte spröde, er will vielmehr aus den Zeugnissen der
Historiker, den Grabfunden und vor allem aus den in der heutigen Volksliberliefernng
und in den Ortsnamen fortlebcnden Resten die Eigenart der dänischen Entwicklung
herausarbeiten. Daß hierbei manche gewagte Konstruktion und zweifelhafte Hypothese
vorgetragen wird, liegt in der Natur des Stoffes. Es ist gewiß nützlich, daß das
größere Lesepublikum, auf das die Darstellung rechnet, von dem orientalischen Hinter¬
gründe des Balderglaubens und dem keltischen Vorbilde des ursprünglich dreiköpfigen
Thor erfährt; gegen andres wie Frazers Mythus von der Göttertötung scheint mir
vorläufig noch größere Zurückhaltung geboten Auch daß in den dänischen Balladen des
Mittelalters (Schütte übersetzt Folkevise regelmäßig mit ‘Volksweise’ statt mit ‘Volks¬
lied^ eine erhebliche Milderung des heidnischen Charakters eingetreten ist. könnte
deutlicher betont werden. Das letzte Kapitel handelt von den Zauberern, Priestern
und Menschenopfern. Der Ausdruck ist durchweg gewandt, wenn man auch hie und
da den Ausländer spürt. — (J. B.)
Theodor Siebs und Max Schneider, Schlesische Volkslieder mit Bildern
und Weisen. Bilder von Hans Zimbal. Breslau, Rergstadtverlag 1924, 110 S. —
Mit Freuden begrüßen wir diese Fortsetzung der früher im lnselverlag erschienenen
Deutschen Volkslieder, hsg. i. A. des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde
und der preußischen Volksliedkommission, erstes Heft einer Sammlung ‘Landschaftliche
Volkslieder’. Die Auswahl berücksichtigt ziemlich alle Gattungen des lebendigen
Volksliedes, z. T. in mundartlicher, von F. Graebisch redigierter Foim, mit zwei¬
stimmigen Singweisen (bearb. von H Altmann) und leicht ausführbarer Gitarren¬
begleitung (von F. Wirth und F. Günther). Hübsche Zeichnungen in leicht romanti¬
sierender Manier zieren das hübsche Heftehen, das hoffentlich vor allem in die Hände
der wandernden Jugend kommen wird. — F. B.)
V. Solstrand, Finlands svenska folkdiktning III: Ordstäv, utg. Helsingfors 1923.
XIL 370 S. (Skrifter utg. av Svenska litteratursällskapet i Finland 172;. — Die
Sprichwörter der finnländischen Schweden, die S. in zehnjähriger Arbeit, großenteils
auf eigenen Wanderungen zusammengebracht hat, bilden einen Teil der stattlichen,
von der Schwedischen Literaturgesellschaft zu Helsingfors unternommenen Sammlung
der heimischen Volksüberlieferungen, über die bereits oben 31, 89 und 33, 52 be¬
richtet wurde. Sie sind in drei Abteilungen gruppiert: 1. Eigentliche Sprichwörter,
2. geflügelte Worte, 3 Redensarten. Die erste enthält 2329 Nummern, die zweite
28öC>, die dritte 308, wobei die landschaftlichen Varianten nicht mitgezählt sind, also
ein reiches Material. Die Frage nach dem Ursprung der einzelnen Sprichwörter ist
späterer Forschung Vorbehalten; daß wir aber hier auf viele weitverbreitete Stücke
stoßen, mögen ein paar Beispiele dartun: ‘Wen Gott lieb hat, den züchtigt er nr. 15),
‘Herr Niemand soll alles Böse getan haben’ (916), ‘Da Adam grub und Eva spann,
wo war da ein Edelmann’ 3). Unter den geflügelten Worten versteht S., was wir
apologische Sprichwörter oder Sagwörter nennen, z. B. ‘Unglück kommt nie allein,
sagte das Mädchen, als sie Zwillinge gebar’ (3388), ‘Schön nicht, aber dauerhaft, sagte
der Tischler zum Sarg’ (4431), ‘Rühr mich nicht an, sonst schrei ich, sagte die Dampf¬
pfeife zum Steuermann’ (4767 , ‘Das war eine gute schwarze Suppe, sagte der Russe,
als er Schmierseife gegessen hatte’ (4868). Natürlich begegnen auch manche oii-
ginelle Stücke, so die Redensart ‘Du siehst aus, als hättest du Teig gestohlen und
ihn nicht backen können’ (14). — (J. B.)
Dr. Karl Spieß, Bauernkunst, ihre Art und ihr Sinn. Grundlinien einer Ge¬
schichte der unpersönlichen Kunst (Deutsche Hausbücherei, herausgegeben von der
Volksbilduhgsstelle des Bundesministeriums für Unterricht;. Wien 1925. öster-
reichischer Bandesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst (vorm. Österreichischer
Schulbücherverlag). Preis 400000 Kronen. — Der Verf. weist nach, daß Bauernkunst
keineswegs verbauerte Kunst ist, sondern eine Zierkunst, die seit ältesten Zeiten in
aller Welt besteht und mit gemeinsamem Maße zu messen ist. Ihr gegenüber steht
die persönliche, städtische Kunst, die durch Einzelne vorgetragen wird, während die
Bauernkunst ohne Künstlernamen auf steter Überlieferung fußend in mannigfachen
Notizen.
77
Variationen die uralten Motive wiederholt. Mit gut illustrierten Beispielen werden
<iie Stoffe der Bauernkunst und ihre Bearbeitung dargestellt und in eingehender
Untersuchung dm* Gedankeninhalt mit alten Volkssitten und Gebräuchen lehrreich
verglichen. Sie beziehen sich auf den Kampf zweier Gegner z. B. Sommer und Winter),
Verkehrung (d. h. Verwandlungen mit Masken u. dgl.), den Baum, das Lebenswasser,
Feuer und°Salz. Bin Schlußwort über den Stil oder die Besonderheit des künst¬
lerischen Ausdrucks weist die Beständigkeit der Bauernkunst nach, deren Motive
entweder rein geometrisch sind oder Tier- und Pflanzenornament mit sinnbildlicher Be¬
deutung. Das’Vortrefflieh ausgerüstete Buch ist als eine längst erwünschte Zusammen¬
fassung' und Vertiefung des allgemein interessierenden Themas mit Freude und Dank
zu begrüßen — K. Brunner.)
Carl Stanitzkc, Heimatmärchen aus Danzig und Pornmerellen gesammelt und
bearbeitet. Danzig. Kafemann 1924. iül S., geh. 2,20 M., gebd. 2,00 M. - Unter de»
ßn Nummern, die zumeist gedruckten Quellen entnommen sind, befinden sieh vier
kaschubisehe und zwei polnische. Bemerkenswert sind etwa nr. 3 ‘der Bär’ (Dälin-
hardt, Natursagen 2, 99. 2TS ; 6 ‘Frosch und Kuli* (Phaedrus 1, 24); 7 ‘Der Pfann-
kudn’n’ (Dähnhardt 2, 272 ; 8 Lügenmärchen (Bolte-Polivka, Anmerkungen 2, 510 ;
p -Der Unzufriedene* (ebd. 1. 114 : 11 ‘Das Hasenherz* (ebd. 2. 555 ; 12 ‘Affe und Schuster
Pauli c. 320 ; 13 ‘Der Waldwart' (Bolte-P. 2, 501); 15 ‘Die Prinzeß im Sarge’ (ebd.
5:15 ; 17 ‘Der betrogene Bauer’ (ebd. 3, 302 1 , ; 18 ‘Jacob* (ebd. 1,325V ; 20 'Bratwurst,
Maus und Erbse’ (ebd. 1. 20(5'; 23 ‘Die drei Müllersöhne' (ebd. 2, 33 ; 24 ‘Der Wacht¬
meister’ (ebd. 3, 452); 27 ‘Der betrogene Teufel’ ebd. 2, 10; 3, 422. 333); 28 ‘Die ver¬
wunschene Braut* ebd. 2, 28 ; 29 ‘Die treuen Tiere’ (ebd. 2. 455 ; 30 ‘Der verwunschene
Schimmel' ^eb. 2, 141). — gJ. B.)
O. Stückrath, Hesscn-Nassauische Bücherei für Schule und Haus. L Jammer
und kein Ende. 2. Nassauisclier Sagenborn. 3. Morgen wieder lustik. 4—•>. Nassau-
iM-hes Dorfleben. <5. Märchen der Heimat. Melsungen, A. Bernecker 1924. G9, Gl,
Gl, 99. G4 S., je 0,50 M. - ln den hübsch ausgestatteten Bändehen, welche die Heimat-
liebe der Nassauisehen Jugend pflegen wollen, bietet der verdiente Volksliedforscher
ein Tagebuch des Pfarrers Plebanus zu Miehlen, das die Drangsale der Jahre 1636
bis 1G37 vorführt (l), und einen Bericht des Casselers Fr. Müller aus den Jahren 180<>
bis 1813 3), sowie eine ausgezeichnete Schilderung des Dorflebens aus der Feder des
1847 zu Kirberg geborenen Nationalökonomen Karl Bücher 1—5). Eigene Aufzeich¬
nungen aus dem Volksmunde sind neben älterem Material in den Sagen (2 und
Märchen ^G) verwertet. — (J. B.)
Otto Stückrath, Märchen der Heimat. Nassauische Volksmärchen gesammelt.
Bildschmuck von R. Zineke. Melsungen. A. Bernecker 1924. 159 S., geh 2,20 M. -
Die 3G mit volksmäßigem Humor erzählten und illustrierten Stücke hat Stückrath
Größtenteils auf seinen Volksliedwanderungen aufgelesen; nur 7 sind der älteren
Sammlung von J. Kehrein entlehnt. Daß das vergnüglich zu lesende Büchlein auch
für den Forscher Wert hat, mögen ein paar Hinweise zeigen: S. 5 Der dankbare Tote
Bolte-Polfvka, Märchenanmerkungen 3, 495); 14 Teufel und Herrgott Müllenhoff 181)
nr oi3 * 22 Der Himmelsbote Bolte-P. 2, 448); 35 Mäuschen, Bratwürstchen und
Vögelehen (ebd. 1. 206); 41 Der goldene Vogel ebd. 1, 414); 54 Lügenwette ,ebd. 2,
510)- 6° Frau Holle (ebd. 1, 212); G7 Lügenmärchen (ebd. 3, 118); 72 Dankbare Tiere
ebd. 2, 22 1 •; SG Hans Drecksäekel (ebd. 2, 423); 102 Der starke Jörjel (ebd. 2, 288);
114 Wegwarte (ebd. 1, 501); 110 Der Dreißiger (ebd. 1, 124; 3, 33'; 124 Der dumme
Hans (ebd. 1, 201); 139 der prophezeite Schwiegersohn (ebd. 1, 287); 155 Das war gut,
das war nicht gut (Zs. f vgl. Litgesch. 1, 375; 4, 103. 22G: 9, 235. Roman. Forsch. 34,
898). — (J. B.)
H Tardel, J. M. Kohlmanns Nachträge zum Bremisch-niedersächsischen Wörter¬
buch (Bremisches Jahrbuch 29, 127- 137 . — Niederdeutsche Sprichwörter, gesammelt
von H. Smidt (f 1878) und J. M. Kohlmann (y 1SG4\
Lisa Tetzner, Deutsches Rätselbuch. Aus alten und neuen Quellen gesammelt.
Mit Zeichnungen von Marie Braun. Jena, Diederichs 1924. I\, 115 S., geh. 2,50 M.,
geb. 3,50 M. — Die ‘Märchentante’, von deren Fahrten und Erfahrungen an dieser
Stelle bei Anzeige ihrer Bücher öfters die Rede gewesen ist, schüttet hier einen
ganzen Sack voll Rätselnüsse aus, wie sie sie ihren großen und kleinen Zuhörern als
Nachtisch zu knacken geben mag. Um den volkstümlichen Charakter des Buches zu
wahren, gibt sie nach einer kurzen Einleitung den bloßen \\ ortlaut der Rätsel, nach
den Kategorien der Lösungsworte in Gruppen zusammengefaßt. Anhangsweise folgen
als Proben literaturgebundener Rätsel Stücke aus der Edda, besonders die Heidreks-
rätsel, ferner das Traugemundslied, die Weidsprüche und Jägerschreie, das Kranz¬
singerlied (vgl. zu all diesem Uhlands Abhandlung über das \ olkslied) und ^ehilleis
Turandoträtsel Ein anspruchloses und darum seinem Zwecke dienendes Buch, zum
Glück nur in der äußeren Ausstattung ein Gegenstück zu Oschilewskis Sprichwörter-
•sammlung s. oben), als was es in einer Anzeige des Verlages bezeichnet wird. — t- B.
Notizen.
7^
Franz Tiefensee. Wegweiser durch die chinesischen Höflichkeitsformen. ^.Auf¬
lage Mitteilungen der Deutschen Ges f. Natur- und Völkerkde Ostasiens IS). Tokyo,
Verlag der Gesellschaft (Berlin, Mehrend Co.' 1924. 2*24 S., gebd. S M. — In erster
Linie den praktischen Bedürfnissen der Deutschen in Ostasien dienend, hat das fein
ausgestattete Buch doch auch ein starkes volkspsychologisches Interesse. Gesten,
konventionelle Formen u. dgl. sind bekanntlich ein sehr konservativer Bestandteil der
äußeren Kultur, und auch in China, dessen Etikette sprichwörtlich ist, hat die neue
Zeit und die Revolution, wie der Verf. initteilt, auf diesem Gebiet wenig geändert.
Die umständlichen Zeremonien beim Besuch, das Nötigen beim Essen, die Ergeben¬
heitsformeln der Briefe und manches andere entbehren nicht der Parallelen aus
westlicher Welt. Viel volkskundlich Interessantes bietet u. a das Kapitel über Unter¬
haltungsspiele. darunter die wohlbekannte Morra und mehrere schachartige Brett¬
spiele. — (F. B.)
M. A. Vasiljev, Pamjatniki tatarskoj narodnoj slovesnosti. Skazki i legendy.
(Denkmäler der tatarischen Volksdichtung. Märchen und Legenden. Kasan 1024.
ist S. — Während die Volksmärchen der verschiedenen turko-tatarischen Stämme
Sibiriens, hauptsächlich dank den Veröffentlichungen W. Radloffs und seiner Mit¬
arbeiter. schon längst verhältnismäßig gut bekannt sind, waren die Märchen der
kulturell höher stehenden Kasaner Tataren bisher eine terra incognita. Von ein
paar zufälligen Textpublikationen in Zeitschriften abgesehen, existierte da nur die
mit ungarischer Übersetzung versehene kleine Sammlung von G. Bälint (1S75. ‘34 Nrn.)
und die wenigen Stücke, die Prof. N. Katanov in seinen ‘Materialien zum Studium
des kasan-tatarischen Dialekts’, tatarisch und russisch (1890) veröffentlicht hat. Diese
empfindliche Lücke ist durch das vorliegende Buch in vortrefflicher Weise ausgefüllt
worden. Es enthält der Numerierung nach 60, in Wirklichkeit TS Märchen, Sagen
und Schwänke. Die Texte sind in den Jahren 1912—1921 von Zöglingen des Kasaner
tatarischen Lehrerseminars aufgezeichnet worden, und zwar in den Gouvernements
Ufa (44 Stück , Kasan (20 . Samara (6 . Saratow und Uralgebiet je 2 , Simbirsk, Perm^
Wjatka und Tobolsk (je 1 ; einige von diesen Texten stammen übrigens zweifellos
nicht von Tataren, sondern von Baschkiren, was sieb aber nirgends genau fest¬
stellen läßt, da sich die mohammedanischen Baschkiren mit Vorliebe für Tataren
ausgeben (letzteres gilt nämlich als ‘feiner'. Aufgezeichnet wurden die Texte sämt¬
lich nicht in tatarischer, sondern in russischer Sprache, und zwar in schmuckloser
und manchmal ziemlich ungeschickter Weise; im Buche sind diese Texte durchaus
getreu reproduziert, jedesmal mit sorgfältiger Angabe von Ort und Jahr der Auf¬
zeichnung. Leider hat Vasiljev nicht alle von ihm gesammelten Märchen publizieren
können, sondern nur etwas weniger als zwei Drittel: er hat sie mit reichhaltigen
Parallelennaehweisen versehen, die freilich meistens (ohne Quellenangabe) aus Bolte
und Polivka's Anmerkungen zu den KHM entlehnt sind. — Der kasan-tatarische
Märchenschatz ist zum größten Teil bei den Russen entlehnt, einiges ist jedoch zu¬
sammen mit der mohammedanischen Kultur direkt aus dem Orient gekommen und
zwar z. T. auf mündlichem, z. T. auf literarischem Wege). - - Nr. 1. Aarne 545 B. —
2a. Dummkopf macht Einkäufe, weiter Aa 1S76. — 2b. Aa 1876. — 3, 3a, 3b, 3v,
3g. Aa 300. — 4. Aa 567. — 5, 5a. Aa 315. — 6. Aa 955 3-955* (FF Communications
25, 62). — Ga. Aa 955*. — 7, 7 a, 7b, 7 v. Aa 530. — 8, 8a. Afanasjev 3 nr. 59. —
(9. Übersprungene Nummer!) — 10. Aa 5G3. — 11. Aa 1535. — 11a. Aa 1535 — 1537.
— 12. Dummkopf erbt von seinem Vater eine Zaubermütze, sie wird ihm wieder ge¬
stohlen (sinnloses Fragment). — 13. Aa 560. — 14. Aa 301 A -fl 135.— 14a. Aa 301 B.
— 15. Motive aus Aa 301 und 550. — IG. Der Held rettet eine geraubte Prinzessin
und ihr Pferd aus der Gewalt eines Drachen. — 17. Aa 312 + 300 (vgl. auch 301'. —
18. Die Frau des Helden läßt ein goldenes Haar in den Fluß fallen, der König be¬
kommt es in seine Hände und raubt die Frau (vgl. das ägvptische Brüdermärchen).
— 19. Aa 1045 + 1071 + 1130. — 20. Aa 1725. — 21. Vgl. Aa 1088. — 22. Aa 13S4 + 1245
-r der Badstubenofen wird von außen ans Hans angebaut -+- Henne wird geprügelt, weil
sie ihre Küchlein nicht säugen will. — 23. Aa 301 B. — 24, 25. Aa 875. — 26. Aa 32G
(entlehnt aus Grimm KHM 4). — 27. Aa 1029 + 1()00 + 1116 + 571. — 2S. Aa 1020 (sehr
abweichend). - 29. Zeichendisput. — 30. Aa 313 B. — 30a. Aa 313 B + C. — 30b.
Streit zwischen Maus und Sperling + Aa 313 B. — 31. Aa 327 B + Auswerfen von Gegen¬
ständen auf der Flucht + Aa 450 + 720. — 32. Aa 707 ± 315. — 33. Aa 532. -- 34. Aa 531.
— 35. Aa 532 + 315. — 30. Aa 532 + 531. — 37. Aa 571 4 + 432 (?) + 425 A. — 38. Aa
552. — 30. Aa 613. — 40. Aa 562 entlehnt aus Grimm KHM 116). — 4L Aa 1920 C. —
42. Aa 709 (entlehnt aus Grimm KHM 53). — 43 Aa 1640 + 1060 +1062 + 1115 (ent¬
lehnt aus Grimm KHM 20). — 44. Aa 465 A. — 45. Aa 1045 + 1072 + 1130 + 1115 + 1530
+ 1535. — 46. Aa 621 (Anfang) * 706 + 315. — 47. Aa 315 + 300 + 561 (?) + 569. — 48.
Vgl. Aa 566 und den Schlußteil des ägyptischen Brüdermärchens. — 49. Aa 950. —
50. Aa S51 (Prinzessin Turanduk — 51. Aa 300. — 52. Aa 532 + 300. — 53. Aa 915.
— 54a, 54b. Der Ursprung des Vogels Sak-Suk. — 55. Der Tod des Kalifen Ali. —
56a, 56b. Ortssagen von der Gründung Kasans. — 57. Aarne FF C 25, 140, Ursprungs-
Notizen.
79
sage nr. 7-oSa, 58b, 58v. Ein Teufel besucht eine Witwe in der Gestalt ihres ver¬
storbenen Mannes. — 59. Der Waldschrat führt mehrere Mädchen irre. — 60. Ein
verirrter Knabe wird von einem geheimnisvollen Greise heimseleitet. — (Walter
Anderson.)
Vorträge der Hibliothek Warburg, hsg. von Fritz Saxl. II. Vorträge 1022/20,
]. Teil. Leipzig und Berlin, Teubner 1924. VI, 259 8., geh. GM. — Aus dem reichen
Inhalt sei besonders genannt der Aufsatz von A. Doren. Fortuna im Mittelalter
und in der Renaissance, der, auf gründlicher Quellenforschung füllend, einen höchst
interessanten Überblick über die Entwicklung der Fortuna-Vorstellung vom Altertum
bis zum Beginn der Neuzeit gibt. Mit Recht bezeichnet es der Verf. in einer An¬
merkung V S. IUI als eine lohnende Aufgabe, das Thema auch einmal vom volks¬
kundlichen Gesichtspunkte aus zu behandeln. Das Rad zu Orakelzwecken ist bis
ins Altertum zu verfolgen, bekannt sind die Orakelstätten im antiken r l yche- und
Fortunakult; vielleicht ließe sich auch feststellen, ob dem Symbol des zur Höhe des
Rades emporklimmendon und dann abstürzenden Menschen etwa ein tatsächliches
Geschicklichkeitsspiel zu Grunde liegt. Von den anderen Aufsätzen seien nur die
Titel erwähnt: E. Cassirer, Eidos und Eidolon; R. Reitzenstein, Augustin als
antiker und mittelalterlicher Mensch: H. Lietzmann, Der unterirdische Kultraum
von Porta Maggiore in Rom; P. E. Schramm, Das Herrscherbild in der Kunst des
frühen Mittelalters. — (F. B.
Jan de Vl ies, Over de Folklore van Oost-Indie. Harlem 1925, 51 S. aus: Vragen
des Tijds . — Der Vf., der eine Sammlung indonesischer Märchen vorbereitet, weist
auf die Mängel hin, die eine wörtliche Wiedergabe von Satzbau und Ausdruck der
malaiischen Originale mit sich bringt. Er bespricht das Auftreten bekannter Mürclien-
typen und einzelner Motive und wünscht, daß ein volkskundlich gebildeter Sprach¬
forscher das bedeutende hsl. und gedruckte Material, das bereits auf dem Gebiete
der Volksdichtung Indonesiens gesammelt vorliegt, durcharbeite, ordne und auf die
noch auszufüllenden Lücken hinweise. — (J. B.)
Otto Walter, r Dor lach ick öwer.“ Pommerscher Humor, sammelt im rutgäwen.
(Pommernbücher, Heft I). Stettin, Leon Sauniers Buchhandlung 1924. 59 S. - Die
vorliegende Sammlung von 56 schwankhaften Erzählungen in neuvorpommcrschem
Platt verdankt ihre Entstehung einer Anregung in den ‘Küstenfahrten an der Nord-
und Ostsee’, S. 219f. des 1819 in Greifswald geborenen Dichters Eduard Höfer. Walter
hat die einzelnen Geschichten seiner Sammlung zu verschiedenen Zeiten schon in
pommerschen lleimatzeitschriften veröffentlicht, da jedoch diese Zeitschriften außer¬
halb Pommerns kaum irgendwo gesammelt werden, die darin enthaltenen Beiträge
also nur sehr schwer zugänglich sind, so nimmt man die Herausgabe in Buchform
mit Dank entgegen. Die Sammlung enthält meist neues Erzählungsgut, alles aus
mündlicher Überlieferung und wird überall, wo sie hingelangt, nicht nur Fröhlichkeit
erwecken, sondern auch durch ihre trefflichen Beiträge zur Erkenntnis des^ pommer¬
schen Volkscharakters anregend wirken. Hoffentlich kann \\ alter seine Sammlung
fortsetzen. — Hans Findeisen.)
Joseph Weigert, Religiöse Volkskunde. (Hirt und Herde II. Freiburg i. B.,
Herder cS: Co. 1924. VIII, 124 S. geh. 2,20 M., geb. 5,20 M. — Der aus seinem Buch
‘Das Dorf entlang’ (oben 51,24) und anderen Schriften als liebevoller und nachdenk¬
licher Beobachter des Bauevnvolkes bekannte Verfasser will mit diesem Buche, das
<*r selbst im Untertitel als einen ‘Versuch’ bezeichnet, zum ersten Male von katho¬
lischer Seite her ein Gebiet behandeln, das, wie er im Vorwort hervorhebt, von den
Protestanten bereits seit längerer Zeit mit Erfolg angebaut wird. Das ‘\olk als
Gegenstand der Volkskunde ist für ihn in allererster Linie der Bauernstand. Die
religiösen Vorstellungen und Gebräuche, die sittlichen Anschauungen und Gewohn¬
heiten des Bauern muß vor allem der Geistliche kennen und verstehen. So ist denn
das Buch gewissermaßen eine praktische, mit zahlreichen Beispielen aus der Pasto¬
ralen Erfahrung des Verfassers erläuterte Psychologie des Bauern nach der religiös¬
sittlichen Seite hin. Nach einer Einleitung über das Wesen der religiösen \ olks-
kunde behandelt es die Eigenart der bäuerlichen Religiosität und Sittlichkeit, die
Hauptfragen des Glaubenslebens und der Sittlichkeit auf dem Lande und gibt in
einem Sehlußkapitel Hinweise auf die Hilfsmittel zur Erkenntnis der Volksseele, die
neben der eigenen Erfahrung die volkskundliche Literatur bietet. Auch dies V erk
zeugt für das von einer tiefen Herzensfrömmigkeit durchwärmte A erständnis des
Verf. für die Vorzüge und Schwächen des Bauern und wird vor allem den Geistlichen
beider Konfessionen viele Anregung zum Nachdenken und Nachtun geben. 1 rotz
äußerlich strenger Disposition hat das Werk stellenweise etwas Aphoristisches, was
durch die Weiträumigkeit des Themas, z. T. wohl auch durch die allmähliche Lnt-
stehung der einzelnen Kapitel zu erklären ist (s. darüber die Vorrede), der Wirkung
des Ganzen aber kaum Abbruch tun wird. — E. B v
80
Notizen.
A. Woselski. Märchen des Mittelalters. Berlin, H Stubenrauch 1025. XXIII,
27*2 S. kl. 4°. — Wesselski, der schon 1009 in seinem Buche „Mönchslatein“ eine ver¬
dienstliche Lese interessanter, in den Predigtexempeln des Mittelalters enthaltener
Erzählungen veröffentlicht hatte, bietet uns hier eine weitere, höchst anziehende
Sammlung von 66 Erzählungen aus dem 15. bis 15. Jahrh , die er aus lateinischen,
italienischen, spanischen, französischen, deutschen, englischen und isländischen Prosa¬
stücken und ein paar gereimten Vorlagen übertragen hat. Die große Mehrzahl ent-
jstammt den Gesta Komanorum, dem JDolopathos, Petrus Alfonsi, Caesarius, Thomas
von Cantimpre, Jakob von Vitry, Stephan von Bourbon, Bromyard, Pelbart, dem
sog. Kumulus, einer noch ungedruckten Compilatio singularis, die A. Hilka zur Ver¬
fügung stellte, und andern lateinischen Vorlagen. Ihre Bezeichnung als ‘Märchen*
muß allerdings in einem weiteren Sinne verstanden werden, als wir gewöhnlich mit
diesem Worte verbinden; denn wir stoßen öfter auf legenden- und sagenhafte Ele¬
mente; bisweilen wird das Lokal Rom, Mailand, Wimpfen) fixiert oder die Begeben¬
heit an bekannte historische Personen Salomo, Saladin, Kaiser Friedrich, Manfred)
geknüpft. Von besonderem Werte für den Forscher sind die S. 153—205 einnehmen¬
den Anmerkungen, die sich nicht mit einer Aufzählung bekannter und neuer Varianten
begnügen, sondern viele ausführliche Untersuchungen über die Wanderungen und
Wandlungen von Stoffen und Einzelmotiven, z. B. über die zuletzt von Christiansen
behandelte ‘Wette um die Augen’ nr. 14 , den diebischen Vogel (42), den Berge ver¬
setzenden Glauben (06), bringen. Abseits von den vielbeschrittenen Wegen wandert
der Vf. auch in der Einleitung, die gegen Aarnes Scheidung der Märchen des Volkes
und der Literatur oder, besser gesagt, gegen die Unterschätzung der letzteren Ein¬
spruch erhebt und eine Sonderung der verschiedenen Gattungen der Erzählungs¬
motive verlangt. Er unterscheidet 1. Mythenmotive (Dämonen, Zaubermacht, Ver¬
menschlichung der Tiere usw.j, 2. Gemeinschaftsmotive (Verhältnis zwischen Mann
und Weib, Eltern und Kindern. Herren und Knechten^, 3. Kulturmotive (kluge Dirne,
scharfsinnige Ratgeber und Richter, Unabwendbarkeit des Schicksals usw.). Die
Motive der l. und 2. Gruppe sind zumeist heimatlos, ihre Entstehung ist an keine
Zeit und keinen Ort gebunden, die der 3. Klasse sind von einzelnen Personen er¬
funden und wandelten von Ort zu Ort. Natürlich lassen diese Fragen sich nicht
glatt beantworten, sondern erfordern ausgedehnte Untersuchungen; aber Wesselski
hat beachtenswerte Erwägungen angeregt und ist gegen Einwände nicht blind. Er
gibt selber zu, daß die Aufzeichner der ‘literarischen Märchen’ mehrfach selbst¬
herrlich mit der Überlieferung schalten, wie Pelbart, der (nr. 14) die Wiedergewinnung
des Augenlichtes rationalistisch erklärt, oder Sercambi, der in nr. 27 zwei ganz ver¬
schiedene Märchen zusammenschweißt. — J. B.)
V. E. V. Wessman, Finlands svenska folkdiktning II: Sägner, 2: Historiska
sägner utg. Helsingfors 1924. XII, 411 S. (Skrifter utg. av Svenska litteratursällskapet
i Finland 174). — Die Sagen der finnlänaischen Schweden, deren Herausgabe W. im
Auftrag der Schwedischen Literaturgesellschaft übernommen hat, sollen in drei
Bänden erscheinen als kulturhistorische, geschichtliche und mythische Sagen. Der
zuerst fertig gewordene zweite Band enthält nicht weniger als 1786 geschichtliche
Sagen. Diese überraschend hohe Zahl erklärt sich daraus, daß der Begriff des Ge¬
schichtlichen im weitesten Sinne gefaßt ist. Weitaus der größte Teil des Stoffes,
nämlich 1440 Nummern, betrifft Erinnerungen aus den finnischen Kriegen von der
Vorzeit an bis etwa 1S50, insbesondere Greueltaten der Moskowiter, sowie Traditionen,
die an einzelne Gräber, Schanzen und Backöfen anknüpfen. Eine zweite Gruppe
enthält Erlebnisse der Pestzeiten und Hungerjahre, während die Überlieferungen
über einzelne Personen (nr. 1556— 17S6) den Schluß bilden. Hier erscheinen z. B. die
schwedischen Könige Gustav Wasa, Karl XII., Gustav III., der Zar Alexander II.
und allerlei Staatsmänner, Edelleute, Soldaten. Manche Erzählung ist natürlich auch
anderwärts bekannt; so wird die Geschichte von Karl XII., der mit einem Soldaten
nachts stehlen ging (nr. 1585), auch von Friedrich dem Großen berichtet (oben 23, 299.
Veckenstedt S. 229. Grundtvig nr. 80. Bäckström 3, 62. Allardt nr. 156 Aarne nr. 951).
Große Sorgfalt ist auf die Angabe der einzelnen Erzähler und der Landschaften, in
denen die Sagen fortleben, verwandt. Die Darstellung ist knapp und schmucklos.
- (J. B.)
Balthasar Wilms, Die Zunft zum Falkenberg in Freiburg i. Breisgau Mit Illu¬
strationen von E. Stritt. Freiburg i. Br , Herder & Co. 1925. XI, 356 S., geh. 5 M.,
kart. 6 M. — ln erster Linie von lokalgeschichtlichem und familienkundlichem Inter¬
esse, gewährt das frisch geschriebene Buch viele interessante Einblicke in das Leben
und die Politik der Zünfte im Anschluß an die Personalien der 80 Zunftmeister der
„Kaufleute zum Falkenberg“ von 1454 —186S. — (F. B.)
Wilten, Nordtirols älteste Kulturstätte, 1. Teil. Stift Wilten, Selbstverlag. 232 S.
(Tiroler Heimatbücher, hsg. von der Landesgruppe Tirol des V. f. christl. Erziehungs¬
wissenschaft 7). — Der Erziehung zur Heimatliebe dient die faßlich geschriebene
Notizen.
81
und hübsch ausgestattete Geschichte des sagenberiihmi<*n Prämonsiratenscrstiftus
Wilten bei Innsbruck, das aus dem römischen Standlager Veldidena erwuchs, nach¬
dem die rätisch-romanische Bevölkerung durch die Bayern germanisiert worden war.
In den ersten beiden Kapiteln behandelt Abt H. Schüler die Urzeit und die Körne r-
zeit Wiltens; der nächste Abschnitt ‘Wilten in der Sage' von H Garn per stützt
sich auf Seemülleis Untersuchung der Haymo Sage 1895), während die ausführliche
Geschichte der Hofmark Wilten von O. Stolz S. 59 — 230 auf eigener Durchforschung
der Archive beruht. Hier erfahren wir z. B. Genaueres über die Einrichtung der
Bauernhäuser (S‘ SS. 160) und die einzelnen Gewerbe (S. 17b. — J. B.
A. Wirth, Beiträge zur Volkskunde in Anhalt 1-5: Die Tiere im Brauch,
Glauben und Volksreim. Dessau, C. Dünnhaupt (1024 . 64 S. — Heft 6 7: Die
Pflanzen im Brauch, Glauben und Volksreim, ebd. GO S. — Die Fortsetzung des
oben 33, 134 angezeigten Werkes zeigt von fleißiger Stoffsammlung und Vertrautheit
mit der neueren Forschung. Neben den abergläubischen Bräuchen finden auch die
volkstümlichen Namen der Pflanzen und Tiere, die Reime und Rätsel ausgiebige
Berücksichtigung. W. behandelt ferner 4,10 auch die Tiere als Wetterverkünder;
G, 25 die Pflanzen in der Volksmedizin, G, 35 den Schlag mit der Lebensrute. — J. I>.
A. Wirth, Aus dem Seelenleben im deutschen Soldatenlied. (Beilage zum
Jahresbericht der Friedvichs-Oberrealsehuie zu Dessau 1025 . 12 S. 4°. — Die 19IS
niedergeschriebene Untersuchung geht ein auf die Klagen der Krieger, ihre Charakter¬
eigenschaften, die Stimmungsmalerei der Lieder, Krieger und Tod, Schlachtfeld und
Grab, Heimatliebe und Gottvertrauen. Die Unterschiede zwischen dem Landsknechts¬
leben des 16., dem Söldnertum des IS. und der allgemeinen Wehrpflicht des 10 Jalirh.
werden hervorgehoben; die Soldatenklagen und das Mitgefühl für den Deserteur ver¬
stummen allmählich, dafür stellen sieh schwermütige Betrachtungen ein, die zu paro-
dischem Humor Anlaß geben. — (J. B.
Iv. Ziegler und S. Oppenheim, Weltontstehung in Sage und Wissenschaft.
Mit 4 Figuren im Text. Leipzig und Berlin, Teubner 1025. 127 S., geb 1,80 M.
(Aus Natur und Geisteswelt, 710.) — Der uns in erster Linie interessierende ei>te
Teil ersetzt die Behandlung des gleichen Stoffes von Weinstein (Nr. 223 derselben
Sammlung^ Er enthält in übersichtlicher Darstellung die wichtigsten ko.smo-
gonischen Sagen der Semiten, Ägypter, indogermanischen, finnisch-turanischen und
mongolischen Völker, sowie eine Auswahl aus den entsprechenden Sagen der Ozeanier,
Australier, Malaien, Afrikas und Amerikas; den Schluß bildet eine kurze Literatur-
Übersicht. Nicht ganz in den Rahmen dieser sonst rein mythologischen Darstellung
fügen sich die Kosmogonien der griechischen Philosophen, die zwar zum Teil Ele¬
mente des Volksglaubens enthalten, zum Teil aber doch in bewußtem Gegensatz zu
diesem stehen. Sie würden, an den Schluß gestellt, vielleicht einen passenden Über¬
gang zu dem zweiten Teile des Buches bilden können und zugleich die wissenschaft¬
liche Bedeutung dieser Theorien für die Folgezeit ins rechte Licht setzen. — (F. B.)
R. Zoder, Altösterreichische Volkstänze mit Beschreibung und Noten gesammelt.
2. Auflage. Wien, Sehnlbiicherverlag 1024. 27 S. Dazu Noten für die 1. und 2. Geige
und Gitarre. 11, 0 und 10 S. Quer-S u . — Die oben 33,40 besprochene hübsehe
Sammlung hat in der neuen Auflage einige Zusätze erhalten, welche die Verbreitung
der Tänze betreffen. — (J. B.)
Antti Aarne f.
Am 5. Februar d. J. starb zu Helsingfors ein hochverdienter finnischer Forscher
auf dem Gebiet der Volkskunde, der Universitätsprofessor Dr. A. Aarne. Als Sohn
eines Schmiedemeisters zu Pors (Björneborg) am 5. Dezember 18G7 geboren, studierte
er seit- lSV.i in ILdsingfors, wurde 18:>S Vorsteher des privaten Lyeeums in Kokkola
(Gamla Karleby, Üsterbotten), 1002 Lehrer am Staatslyceum zu Sortavala in Karelien
und 1902 Rektor daselbst. Nachdem er 1007 seine Doktorarbeit eingereicht hatte,
begann er im Mai 1911 seine Universitätslaufbahn als Dozent in Helsingfors und
wurde 1022 zum außerordentlichen Professor für finnische und vergleichende Volks¬
dichtungsforschung ernannt. Studienreisen führten ihn nach Rußland, Deutschland,
Frankreich und England, vor allem im Interesse der vergleichenden Märchenfor¬
schung, zu der ihn sein Lehrer Prof. Kaarle Krohn angeregt hatte. Für diese schuf
er ein praktisches Hilfsmittel in seinem ‘Verzeichnis der Märchentypen’ (FF Com¬
munications 3. PRO), dem bald eine Übersicht der finnischen und estnischen großen¬
teils ungedruckten Märchen (ebd. 5, 8—10, 33, 25) und ein Leitfaden der verglei¬
chenden Märchenforschung (ebd. 13, 14) folgten. Von ausgebreiteter Sachkenntnis
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 6
Brunner:
82
und besonnenem Urteil zeugen eine "Reihe von Monographien über einzelne Märchen-
stolTe (ebd 11. 1 T>, ‘20, 2*2, 23. Memoires de la soc. Pinno-ougrienne 2.') und Joui-
nal 27, oben 10, 208), die nach Krohns historisch-geographischer Methode den
Stammbaum der Entwicklung festzustellen suchen. Wenn A v. Löwis (oben 25,
auch als Ergänzung dieser Methode zugleich eine Berücksichtigung der künst¬
lerischen Formung der internationalen Motive wünschte, so erkannte er doch den
hohen Wert dieser klaren, kritischen Sonderung vollkommen an. Ferner widmete
Aarne der Rütselforschung (FF Comm. *2G—*28) und den finnischen Runenliedern
ebd. 47—RS) eingehende Studien. Daß er alle diese Arbeiten in deutscher Sprache
verülfentlichte (nur die Abhandlungen über die Ruuenliedcr und Rätsel sind zu¬
gleich in finnischer Sprache erschienen), ist ein Beweis für die Hochschätzung, die
er unserer Gelehrtenwelt entgegenbrachte. Trauernd stehen wir am Grabe des un¬
ermüdlichen, liebenswürdigen und bescheidenen Gelehrten, dem unsere Wissen¬
schaft so reiche Förderung verdankt und von dem sie noch mehr erhofft hatte.
Berlin. Johannes Bolte.
Aus den
Sitzungs-Berichten des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 24. Oktober 1024. Der Vorsitzende, Herr Geheimrat Prof. Dr.
Joh. Bolte widmete dem verstorbenen Prof. K. Reuschel in Dresden herzliche
Worte der Erinnerung. — Herr Studienrat Dr. Fritz Boehm sprach über Gustav
Mahlers Wunderhornkompositionen. Der Vortragende gab zunächst einen Überblick
über das Werden und Wesen der Wundei hornsammlung, die nicht als eine wissen-
schafiliche Yolksliedersammlung, sondern als ein selbständiges, eigenartiges Er¬
zeugnis der Romantik bewertet werden muß. Einen gewissen Ersatz für das Fehlen
der Melodien im Wh. hot der 30 Jahre vorher erschienene ‘AI manuell 1 Nicolais,
aus dem Kretzschmer und Zuccalmaglio zahlreiche Weisen in ihr 1840 erschienenes
Sammelwerk übernommen haben. Beide Sammlungen enthalten jedoch neben echten
Volksmelodien auch zahlreiche eingeschwürzte Kompositionen der Herausgeber, was
von späteren Bearbeitern, besonders auch von Brahms, nicht bemerkt wurde. Von
Brahms besitzen wir über 120 deutsche Volkslieder, teils in eigener Komposition,
teils in Bearbeitung. Neben ihm und Mahler wären als moderne Wunderhorn¬
komponisten Streicher, Strauß und Reger zu nennen. — Gustav Mahler (1800 bis
1911) entnahm für 24 der 52 von ihm komponierten Lieder die Texte dem Wh.,
das er erst als 2«sjähriger kennen lernte. Daß er jedoch das lebendige deutsche
Volkslied in seiner mährischen Heimat auch schon in früher Jugend kennen gelernt
hat, zeigen gewisse Anklänge der von ihm selbst verfaßteu Texte zu den ‘Liedern
•eines fahrenden Gesellen 1 . Den Texten des Whs. gegenüber hat sich Mahler volle
Freiheit gewahrt, kein Lied ist gänzlich unverändert geblieben, manche sind durch
Auslassungen, Kontaminationen. Zudichtungen in ihrem ganzen Charakter stark ver¬
ändert worden, doch ist im ganzen gesehen der Anschluß ziemlich eng. Mahlers
Wesen, seine Naivität, seine Phantastik, seine tiefe Religiosität, ist dem Charakter
des Whs. durchaus verwandt. Deshalb kehrt er auch in seinen größten sympho¬
nischen Werken immer wieder zum Wunderhornlied zurück, in ihm fand er die
adäquate Ausdrucksmöglichkeit seines unendlich ieichen und wechselvollen Lebens.
— Nach diesen grundsätzlichen Ausführungen sangen Frau Erna Neugebauer
und Herr Dr. Karl Anton Neugebauer, vom Vortragenden begleitet, eine größere
Anzahl von Wunderhornliedern Mahlers, wobei der Voitragende Einzelbemerkungen
zu Text und Komposition machte. (Eigener Bericht.) — Herr Geheimrat Prof.
Friedlaender betonte, daß bedauerlicher Weise des Knaben Wunderhorn in Öster¬
reich nicht viel Anklang gefunden hat In Mahlers Kompositionen sei neben Naivität
auch ein gewisses Raffinement bemerkbar, z. B. in dem Liede ‘Es ritten drei Reiter
zum Tore hinaus 1 .
Freitag, den 28. November 1924. Der Vorsitzende legte das erste Jahrbuch
für historische Volkskunde vor, herausgegeben von Dr. Fraenger in Heidelberg.
Vom Unterzeichneten wurde zum Besuch einer Sonderausstellung niederdeutschen
Sitzungs-Berichte.
Volksturas m der Sammlung für deutsche Volkskunde aufgefordert, die anläßlich
des 50. Todestages von Fritz Reuter durch hiesige niederdeutsche Verbünde an¬
geregt war. — Herr Studienrat Dr H. Kiigler sprach zur Volkskunde Berlins.
Das Berlinertuni ist meist nur journalistisch behandelt, aber Job. Bolte und Robert
Mielke haben sieh bemüht, ihm auch wissenschaftlich naher zu treten. Der Redner
führte eine Anzahl bekannter Berliner Eigentümlichkeiten älterer Zeit bezüglich
Haus- und Geschäl'tsbezeichnungen an und gab Proben älteren Berliner Humors.
Bolte hat oben Holt*, einige Berliner Hausinschriften besprochen. Berliner
Kinderspiele, wie Himmel und Hölle, Murmeln und Fangsteinchen wurden erörtert.
Letzteres Spiel ist oben IG, 40 ff., 17, $5 IT. und 28, 20 ff. geschildert. Eber die
Sprache des Berliners, seine Mundart, haben W. Seelmann und Agathe Lasch wissen¬
schaftliche Feststellungen gemacht Der sogen. Aberglauben ist in Berlin noch recht
verbreitet. Beiliner Volksfeste im alten Sinne sind kaum noch vorhanden. Ehedem
war der Berliner Weihnachtsmarkt, der Stralauei Fischzug und Maskenumzüge
zu Weihnachten und später weit bekannt. Zur Zeit Friedrichs d. Gr. hörte man zu¬
erst vom Weihnachtsbaum; erwähnt 1755 als ‘lächerlicher Brauch’. Als Schmuck
dienten KartolFeln! Die Weihnachtspyramide war vorher und nachher in Berlin beliebt.
Herr Prof. Roh. Mielke bemerkte, daß man zwischen Baum und Lichtern zur Weih¬
nacht unterscheiden müsse. Die Kerzen stammten wohl aus kirchlichem Gebrauch.
Freitag, den 12. Dezember 11)24. Herr Universitätsprofessor Dr. G. Xeckel
sprach über die Familie bei den heidnischen Germanen. Im Anschluß an Tacitus’
Schilderungen hält der Redner für notwendig, das spärliche deutsche Material durch
nordische Quellen zu ergänzen. Der Brautkauf ist bis ins 14, Jahrhundert bekannt.
Die Kaufsumme erhält die Braut selbst, ln einer Nachricht um 1000 soll der Bräu¬
tigam ein Pfand dafür geben, daß er die Braut angemessen halten werde. Die alte
Sitte forderte Gehorsam der Töchter gegen den väterlichen Willen. Aussetzung
von Kindern, aber ehe sie irdische Speise genossen hatten, galt als erlaubt, ja zu¬
weilen als Pflicht. Knaben wuchsen nach alter Meinung in Gesellschaft von vielen
Schwestern nicht zu männlicher Tugend auf. Daher wurden Mädchen öfter aus¬
gesetzt Der Mann mußte in erster Linie tapfer sein. Ein solcher galt den Frauen
mein als ihr Geschlecht. Wie alle alten Völker hatten die Germanen auch Sklaven.
Sie wurden besser behandelt als spätere Leibeigene. An den Vortrag knüpfte Herr
Geh.-Rat Prof. Stutz einige Bemerkungen. Das Neugeborene war noch nicht ohne
weiteres lebensberechtigt. Dazu war feierliche Anerkennung als Familienglied
nötig. Das römische Recht steht im Gegensatz zum germanischen. Uber den
Quellenwert des Tacitus entspann sich dann im Hinblick auf Nordens Buch über
germanische Urgeschichte eine Erörterung, an der sich Geheimrat Prof. Di hie und
Dr. Kieke husch beteiligten. Erl. Ida Hahn fügte hinzu, daß bei dem Brautkauf
im allgemeinen die Arbeitskraft der Frau dem Stamme abgekauft werde.
Freitag, den 1). Januar 1025. Der Vorsitzende erstattete den Jahresbericht,
dankte der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft für ihre Beihilfen und betonte
die nationale Aufgabe der Volkskunde. Der bisherige Vereinsvorstand wurde
wiedergewählt. Herr Dr. Victor von Gera mb aus Graz hielt dann einen mit Licht¬
bildern erläuterten Vortrag zur Kulturgeschichte der Rauehstuben und der Kochöfen.
Die Rauchstubengrenze entspricht der deutschen bäuerlichen Besiedelung im Süden
und Osten. Nachher fand noch eine kurze Probevorstellung des Kasperletheaters
von Oswald Hempel aus Dresden statt mit dem Stücke ‘Die Wunderblume’.
Freitag, den 27. Februar 11)25. In der Einleitung zu seinem Vortrage ‘Land
und Leute der Mark bei Theodor Fontane’ hob der Vortragende Prof. Dr. Fritz
Bell re nd den Zusammenhang zwischen Literaturgeschichte und Volkskunde hervor.
Er betonte dann, daß von einer eigentlichen Berliner Literatur erst die Rede sein
könne, als sich Beil in aus dem niederdeutschen und dem märkischen Verbände
als ein Eigenwesen losgelöst habe — also etwa um 1800 —, nicht mehr die Rede
hingegen, als Berlin sich ins Weltstädtische aufgelöst habe. Im Mittelpunkt der
Darlegungen standen die ‘Wanderungen durch die Mark’, deren wechselnder Stil
aus den Entstehungsbedingungen aufgewiesen wurde. Die Kenntnis der Mark ist
erwandeit: so ist ihr erstes Merkmal die Frische; aber Fontane war naturfreudig,
nicht natnrfromm; er sucht, so zu sagen, den Esprit einer Landschaft, das fan-
malige: die großen gleiehbleibenden Eindrücke haften bei ihm nicht gleich stark.
Wichtiger sind ihm jedenfalls die Menschen. Von den alten Wenden denkt F. hoch.
S4
Brunner: Sitzungs-Berichte.
Wenn später trotz der ungünstigsten Verhältnisse die Mark in die Höhe kam, so
ist das die Kulturtat der Hohenzollern. Er wurde dann die die Stellung Fs zum
Adel, für den er ein Faible hatte, zum Bürgertum und Bauerntum geschildert. Der
Bauer ist hier durchschnittlich hart und zäh, aber auch geizig, gerissen, überaus
mißtrauisch, rechthaberisch und ohne den geringsten Sinn für Anmut des Daseins.
Am Schluß gab der Vortragende eine Charakteristik Berlins und des Berlinertums, wie
sie die Darlegungen Fontanes darbieten. (Eigener Bericht.) — HerrStudienrat Dr.Kleuker
rezitierte mehrere auf die Mark und die Märker bezügliche Gedichte Fontanes —
Die Märehenerzählerin Frau Else Hoffmann aus Danzig trug ein südamerika¬
nisches Märchen über die Entstehung der Planeten vor. — Zu Anfang der Sitzung
erstattete Herr Direktor H. Maurer den Kassenbericht über das verflossene Jahr
und erhielt nach erfolgter Rechnungsprüfung Entlastung, (J. Bolte.)
Freitag, den 27. Mürz 1925. Herr Prof. Dr. H. Lohre sprach eingehend über
Wilhelm Müllers volkskundliche Interessen und Bemühungen Er war 1705 einer
Handwerkerfamilie in Dessau entsprossen. Seine Lieblingslektüre in der Jugend
war das Wunderhorn; später wurde er Schüler von Friedr. Aug. Wolf. Damals
waren die Universitäten auf Germanistik noch nicht eingerichtet. Neugriechische
Volkslieder, die er übersetzte, regten den Plan einer Reise nach Hellas an, der
aber nicht zur Ausführung kam. Dagegen lernte er als Reisebegleiter Italien kennen
und sammelte dort manche Volksüberlieferungen. 1819 kehrte er nach Dessau
zurück, wo er als Lehrer und Bibliothekar bis zu seinem Tode 1827 wirkte. 1820
hatte er ein Buch über Rom, Römer und Römerinnen herausgegeben und in einer
Zeitung Bilder aus dem griechischen Volksleben veröffentlicht. Zu einer Bearbei¬
tung der von ihm gesammelten italienischen Volkslieder ist er nicht gekommen.
In anmutigen Liedern behandelt er Frühling, Wein und Lebensfreude in volkstüm¬
lichem Tone. Der Vorsitzende erinnerte an den Vortrag von Geh.-Rat Friedlaender
über die Müllerlieder, oben JO—82, 185, und teilte mit, daß Prof. Lohre Müllers
Briefwechsel herauszugeben beabsichtige.
Freitag*, den 24. April 1925. Der 2. Vorsitzende, Studienrat Dr. Fritz Boehm,
sprach über die neuen Richtlinien für den Unterricht an höheren Schulen Preußens,
die auch die Volkskunde im Deutschunterricht berücksichtigen, insofern die Volks¬
kunde zugleich Heimatkunde bedeutet. Auch der Kunstbetrachtung ist eine Stätte
gewährt Für die Behandlung der Volkskunde fehlt es allerdings noch durchaus
an einer ausreichenden Universitäts-Vorbildung, auch werden die Heimatmuseen,
in Berlin besonders die Sammlung für deutsche Volkskunde, nicht genügend aus¬
gestaltet und entwickelt. — Herr Dr H. Möte fi n dt besprach das Thema Vorgeschichte
und Volkskunde. Er legte ein System der Entstehung von Kulturgütern dar, be¬
ruhend auf allgemeinen Menschheitsgedanken, Wanderung und Convergenz, Nau¬
manns primitive Gemeinschaftskultur ist nicht einheitlich, sondern in 3 Gruppen
zu scheiden Gesunkenes Kulturgut ist hin und wieder in höhere Schichten gelangtes
uraltes Volksgut. Auch auf geistigem Gebiete sind viele Verbindungen und Parallelen
zwischen Vorgeschichte und Volkskunde vorhanden in Brauch, Sagen und Märchen,
An verschiedenen Beispielen aus dem Harzgebiete erläuterte der Redner seine Ar¬
beitsergebnisse. In der anschließenden Besprechung äußerten sich Prof. Mielke,
Ed. Hahn und Fr. Boehm.
Freitag, den 29. Mai 1925. Herr Prof. Robert Mielke sprach über ‘Leute
von Seldwyla’. Im ersten Teile seines Vortrags machte er den Versuch, die
deutschen Volksstämme nach ihren Besonderheiten zu charakterisieren. Der
Typus der von Gottfried Keller gezeichneten Leute von Seldwyla tritt bei den
deutschen Stämmen vielfach in Erscheinung ln Thüringen und Sachsen be¬
obachtete der Redner diese, ja oft durch ungünstige ökonomische Lage veran-
laßte geistige Erschlaffung schon vor 15 Jahren, während es im Srhwarzwalde trotz
ähnlicher äußerer Verhältnisse keine ‘Seldwyler’ gibt. Es sind Entartungserschei¬
nungen, die hier und da, selbst in nahe verwandten und benachbarten Stämmen
auftreten und Gegensätze wie Bamberg und Nürnberg, Zillertal und Pinzgau, Berg-
und Ebenenbewohner hervorbringen. Auch führt die Volksmeinung von der Über¬
einstimmung körperlicher Erscheinung mit geistiger Beschaffenheit oft zu unberech¬
tigtem Nachbarspott und Vorwurf des ‘Seldwylismus’. Mit einer Fülle von Beob¬
achtungen und Beispielen belegte der Voitragcnde seine Darstellung dieser höchst
veränderlichen Kulturerseheiming. K. Brunner.
Der heilige Christophoros.
Von Bruno Schröder.
Mit 15 Abbildungen.
So oft eins der großen Kirclienfeste bevorstellt, erscheinen zahl¬
reiche Zeitungsaufsätze, in denen naehgewiesen wird, daß viele Volks¬
gebräuche, die bei uns an diesen Festen üblich sind, in das germa¬
nische Heidentum zurückgehen. Aber selten ist die Hede davon, wie¬
viel religiöse Vorstellungen, Gebräuche und Sagen aus der klassischen
Antike im christlichen Glauben und Ritus fortleben 1 ). Und doch ist
über diese Dinge in den letzten Jahrzehnten eine ansehnliche Literatur
entstanden. Freilich ist die Forschung auf diesem ungeheuren Ge¬
biete ebenso verlockend wie gefährlich 2 ), denn die Versuchung ist
groß, vorschnell Zusammenhänge zu erschließen, indem man einfach
ähnliche Zeugnisse aus Antike und Christentum nebeneinander stellt.
Oft wird es daher ratsam sein, sieh mit dem Nachweis der Wahrschein¬
lichkeit zu begnügen. Das gilt auch für die Gestalt des hl. Christophoros,
in deren Entwickelungsgeschichte sich antike Sage, Dichtung und
Kunst mit christlichem Glauben und moderner Kunst besonders innig
zu verschmelzen scheinen.
Der hl. Christophoros 3 ) hat seit dem 10. Jalirh. einen immer mehr
anschwellcnden Kultus gehabt; er gehört zu den Nothelfern und hat
den besonderen Vorzug, daß jeder, der sein Bild erblickt hat, an diesem
Tage vor plötzlichem Tode bewahrt ist. Darum brachte man cs gern
in möglichster Größe in und an den Kirchen an. Die Darstellung ist
im Grunde immer dieselbe; es ist die Scene wiedergegeben, wie der
Riese das Christuskind durch den Fluß trägt.
Wie die Sage in den Acta Sanetorum verzeichnet ist, erzählt sie
von dem Soldaten Reprobus aus Canaan. Der will nur dem mäch¬
tigsten Herrn dienen und geht von einem Häuptling zu einem Fürsten,
dann zum Teufel und wird schließlich von einem Eremiten auf Christus
als den Mächtigsten hingewiesen. Fasten und Beten lehnt der Soldat
ab, er läßt sich aber dazu bestimmen, Reisende durch das Wasser
über den Fluß zu tragen 4 ).
1) Gerh. Loeschcke, Jüdisches und Heidnisches im christlichen Kult, Bonn 1910;
Ed. Stemplinger, Hellenisches im Christentum in Neue Jahrb. für d. klass. Alt. 21, Bd. 12,
1018, 21 ff. — Die Ewigkeit der Antike S. 142 ff.
2) Vgl. H. Kadermacher, Thekla und Hippolytos S. 02; E. Lucius, Die Anfänge
des Heiligenkultes S. 82; H. Günter, Die christliche Legende des Abendlandes S. 8. 50;
E. Schmidt, Kultübertragungen S. 80 Anm. 2.
3) K. Richter, Der deutsche Christoph in Acta Germanica V 1, 180G S. lff.; E. K.
Stahl, Die Legende vom heil. Kiesen Christophorus in der Graphik des 15. u. 16. Jahrh.,
München 1020.
4) Dieser Zug findet in der südlichen Natur mit den plötzlich von stürzenden
Wassern erfüllten Bachbetten seine Erklärung. So hatte einst Iason die in ein altes
Weib verwandelte Hera durch den Sturzbach getragen (Apollonios, Argonautica HI 72).
Auch an Nessus und Deianeira und an das alemannische Märchen vom Vogel Greif
(Brüder Grimm. KHM. Nr. 165) mag erinnert werden. Eine Darstellung aus dem
modernen Orient bei Flandin u. Coste, La Perse, Bd. 5, Perse moderne, PI. 68.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 7
80
Schröder:
Einmal nachts ruft ihn ein Kind, er nimmt es auf die Schultern,
das Wasser schwillt an, das Kind wird schwer wie Blei, Reprobus
kommt in Todesangst, bringt aber das Kind hinüber und sagt: Du
hast mich in große Xot gebracht und mich so belastet, daß, wenn ich
die ganze Welt getragen hätte, ich kaum ein größeres Gewicht ver¬
spürt hätte. Darauf der Knabe: Wundere dich nicht; nicht bloß die
ganze Welt hast du auf dir gehabt, sondern auch den, der sie ge¬
schaffen hat. Ich bin Christus, dein Herr, dem du dienst. Pflanze
deine Keule neben die Stätte und warte, bis sie grünt und blüht! —
Danach kommt eine lange Leidensgeschichte. Reprobus wird gefangen,
läßt sich mit den Soldaten, die ihn fangen sollen, tattfen und heißt
nun Christophoros 1 ). Dirnen werden zu ihm geschickt; er bekehrt
sie, leidet dann furchtbare Martern, bleibt aber unberührt. Pfeile,
die auf ihn abgeschossen werden, bleiben in der Luft hängen; er
wird schließlich geköpft und bekehrt im Tode noch den König, der
ihn hat richten wollen.
In dieser Legende sind zwei Bestandteile von ganz verschiedener
Herkunft zusammengefiigt worden: die Märtyrerlegende und die
Heiligenlegende mit dem Wunder im Fluß. Im allgemeinen unter-
scheiden sich diese beide Arten von Legenden dadurch, daß der
Märtyrer seinen Glauben durch eine einmalige Tüchtigkeit, durch den
Tod bezeugt, der Heilige aber durch einen beständigen Kampf mit
dem Teufel und anderen Anfechtungen, also durch eine immer¬
währende Tüchtigkeit mit Aufstieg, Läuterung und gottseligem Ende 2 ).
Dies Martyrium ist aus bekannten Bestandteilen zusammengesetzt.
Die Bekehrung der Soldaten, der Dirnen, des Königs kommt öfter vor,
ebenso die Umkehr der Pfeilein der Luft und der grünende Stab. 3 ) Die
Erzählung von der Jugend, dem Soldatenleben und dem christlichen
Liebesdienst des Riesen ist ganz deutlich unhistorisch, spät entstanden,
rein poetisch und unorganisch vor die Märtyrerlegende eines Reprobus-
Christophoros gesetzt worden, die erst dadurch zur Bedeutung gelangt
ist und sonst in der großen Masse verschwinden würde. 4 ) Denn nur in
den Ortsnamen Antiocliia, Lykien, Samos scheint ein historischer Kern
zu stecken. Wir werden durch sie nach dem südlichen Kleinasien und
seiner Umgebung gewiesen, wenn diese Angaben nicht reine Phantasie
sind. 5 ) Die Erkenntnis von dem ungeschichtlichen Charakter der
Christophoroslegende hat früh zu verschiedenen, auch rein symbolischen
Auslegungen geführt (Richter S. 227); ziemlich alt sind auch schon
Versuche, die Entstehung der wunderlichen Legende aufzuspüren und
sie -— ohne Zweifel irrig — aus dem ägyptischen und altgermanischen
Glauben abzuleiten (Richter S. 236). E. K. Stahl, a. a. O. S. 4 schließt
sich der Auffassung an, die Legende sei aus dem Namen Christo-
1) In einer gereimten althochdeutschen Erzählung, die ursprünglich aus dem
12. Jahrh. stammen und die Christoph.-Legende in ihrer ältesten Gestalt bieten soll,
heißt der Soldat Offerus. Er wird von Christus selbst im Flusse Christophorus getauft
(A. Schönbach in Zeitschrift für deutsches Altertum 17, 1S74 N. F. Bd. 5, 85 ff.), eine
Version, die deutlich späte Erfindung verrät. (K. Richter a. a. 0. S. 94).
2) K. Holl, Die Vorstellungen vom Märtyrer in Neue Jahrb. f. kl. Alt. 17, Bd. 33
1914, 520ff.
3) H. Usener, Acta Sanctae Marinae et S. Christophori, Festschrift 1886 Bonn;
A. Mussafia, Zur Christophoros-Legende in Wiener Sitzungsberichten 129, 1893 (Zwei
Fassungen, eine östliche und eine westliche zu unterscheiden).
4 Vgl. E. Lucius, Die Anfänge des Heiligenkultes S. 104.
5) K. Richter, Der deutsche Christoph S. 27.
Der heilige Christophoros.
87
phoros, der Bezeichnung für eine besondere Art von Märtyrern
entwickelt 1 ). Dies ist aber nicht wahrscheinlich. Denn das „Christo¬
phoros“ der altkirchlichen Sprache bezieht sich auf den Heiland und
nicht auf das Christuskind. Nach den Verhältnissen der Wirklichkeit
aber hätte der Riese auch Christus als Mann auf dem Rücken tragen
können, wie es bei dem Dienst an der Furt täglich geschehen konnte.
Fnd warum sind nicht auch die verwandten Wortbildungen Theophoros
und Naophoros in Einzelwesen umgesetzt worden 2 )? An den grie¬
chischen Herakles ist öfter gedacht worden (Richter S. 213, 238).
Tb. Trede (Das Heidentum in der römischen Kirche 3, 373) erinnert
zu einer als heilig verehrten Fußspur des Christophoros bei Cava in
Süd-Italien an Fußspuren des Herakles. Auf den Herakles, der den
Dionysos trägt, hat E. Stemplinger (Neue Jalirb. 21, Bd. 42, 1918, 21 ff.
= Ewigkeit der Antike S. 146) den Typus zurückgeführt; die Kapellen
des hl. Christophoros ständen an Straßen mit viel Verkehr „wohl eine
Nachwirkung des vielgewanderten Gottes“. Dionysos ist aber ein
Abb. 1.
Vase mit Relieffiguren. Paris, Louvre.
Jüngling oder ein erwachsener Mann, und man vermißt die Er¬
klärung, wie daraus das Kind der Legende werden konnte. In den
Monuments Piot 1923 Bd. 26 PI. 1 ist ein Wandgemälde aus dem 3. Jh.
nach Chr. abgebildet, auf dem u. a. eine Tvclie der Stadt Dura ab¬
gebildet ist. Diese sitzt ähnlich der Tyche von Antiochia da, zu ihren
Füßen den aus den Fluten mit halbem Leibe auftauchenden Flußgott
Chaboras. Die Göttin legt die 1. Hand auf den Kopf eines nackten
Kindes, das hinter dem Flußgott aufgestanden scheint „saus doute
une personification de la jeune colonie que la Fortune protegeait“.
Dazu F. Cumont S’. 13 Anm. 1: On peut se demander, m’eerivait
M. Jerome Carcopino, si la legende de Saint Christophe portant
1 enfant Jesus sur son epaule ä travers un fleuve n’est pas nee d’une
1) Phileas bei Eusebius, Hist. eccl. 8, 10; Ignatius von Antocliia ad Ephesios 9, 2;
vgl. F. I. Doelger, Der heilige Fisch (1922) Text S. 178, Anm. 1; F. X. Kraus, Real-
encyclopädie der christlichen Altertümer s. v. Christophorus mit älterer Literatur.
Dagegen H. Günter, Legendenstudien S. 25; Richter S. 27, 92.
2) An die Gestalten der Stifter mit Kirchenmodellen wird ja niemand denken
wollen!
T
88
Schröder:
representation semblable a celle que nous trouvous a Doura. II est
a noter que Saint Christophe est 1111 Syrien et qu’en Syrie cette coin-
position a du etre frequeinment reproduite.“ Gegen diese Herleitung
spricht die rein zufällige Ähnlichkeit mit dem Christophoros-Typus.
Noch weiter nach Osten führt die Vermutung, die Legende sei
aus dem indischen Kulturbereich ins Christentum übergegangen, und
zwar als Umdeutung der Erzählung von dem Prinzen Sutosoma, der
von einem hundsköpfigen, menschenfressenden Riesen überfallen und
auf den Schultern fortgetragen wird, dann aber als Inkarnation
Buddhas den Riesen bekehrt und vom Fluche befreit (R. Garber,
Indien und das Christentum, S. 101, angeführt von F. G. Hann in
Carintliia, Mitteilungen des Geschichtsvereins für Kärnten, Klagen-
furt 1917, 107. Jahrgang, Heft 1—4, S. 46f.). An Wisehnu, der in
Zwergengestalt den Riesen Bali die göttliehe Macht erkennen läßt,
erinnert A. Maury, Croyances et legendes du moyen age (Neue Aus¬
gabe 1896) S. 145. Auf Indien und die Ähnlichkeit mit der Krischna-
Abb. 4.
Scherbe Ton einem Beliefgefäß.
Abb. 5 und 6.
Bronzestatuette. London, Brit. Museum.
Sage hatte schon vor langem Carus Sterne hingewiesen, wobei er die
altarische Sage als das Ursprüngliche, die indische als eine Um¬
bildung und späte Einfügung der Mahäbhärata annahm 1 ).
Dann aber hat A. von le Coq als erster öffentlich die wahrschein¬
lichste Lösung gegeben, indem er innerasiatische Darstellungen eines
bärtigen Mannes mit einem Kinde als Parallelen zum hl. Christophoros
bezeiehnete und beide Typen von dem des Herakles mit dem Eros¬
knaben ableitete. 2 )
1) Daß Indien nicht durchweg der gebende Teil ist, bemerkt Günter, Die christ¬
liche Legende S. 50.
2) A. von Le Coq, Bilder-Atlas zur Kunst und Kulturgeschichte Mittel-Asiens
1925, S. 26 : „Parallele zum Christophoros der christlichen Kunst. In Gandhara kommt
öfter die Darstellung eines bärtigen Mannes vor, der ein Kindlein auf der Schulter
trägt. Es ist der Schutzgeist Päncika mit einem seiner Schützlinge, offenbar eine
Abwandelung eines antiken Vorwurfs. In Kutscha sehen wir eine Entwickelung dieser
Darstellung, die lebhaft an Christophorosbilder mahnt. Sie dürfte älter sein, als für
das Auftreten der christlichen Parallele bisher nachgewiesen worden ist.“ Dazu
Fig. 159: Gandhara Skulptur. Herakles mit dem Bacchusknäblein, um gedeutet. Aus
dem Völkerkundemuseum (hier in Abb. 7 wiederholt mit Erlaubnis des Verf.) Fig. 160:
Der heilige Christophoros.
89
Diese Annahme läßt sich begründen, sowohl mit den allgemeinen
Verhältnissen der christlichen Legendenbildung wie mit den antiken
Denkmälern, die sich mit jenen asiatischen Werken zu einer Reihe
verbinden lassen.
Christliche Legenden sind ans sehr verschiedenen Quellen ge¬
flossen * 1 ). Sic konnten spontan aus dem christlichen oder allgemein
volkstümlich - religiösen GcdankenstolT auf geschichtlicher Grundlage
entstehen, wie die Erzählungen vom Leben Jesu (A. Harnack, Ur¬
sprung und Anfänge des Christentums 1,52 ff.) oder vieler Heiliger,
deren irdischer Lebenswandel durch Ausschmückung oder Übertrei¬
bung zum Muster christlicher Führung gemacht wurde. Oder cs
Al>b. 7.
Relief aus Gandliara.
wurden die alten Götter einfach übernommen und nur umgetauft oder
Züge aus ihrem Kult beibehalten 2 ). Sehr stark ist die Einwirkung der
antiken Literatur in Form von Romanen und Novellen 3 ) und Philo¬
sophenleben 4 ).
Der Dämon Atavika führt einen Knaben durch den Strom. Parallele zu christlichen
Darstellungen der Christophoroslegende (?)“. Bacchusknäblein steht irrtümlich statt
Eros.
1) H. Günter, Die christliche Legende des Abendlandes.
2) H. Usener, Der hl.Tychon; A. Dieterich, Kleine Schriften S. 538f; L. Deubner,
Kosmas und Damian S. 52; G. A. S. Snyder, De forma matris cum infante sedentis apud
antiquos, (Utrechter Doktor-Dissertation 1920) S. 6G Anm. 3 u. a. Der wendische Gott
Goderac wurde zum hl. Godehard in Kessin bei Rostock: C. Krause in d. Beiträgen
zur Geschichte der Stadt Rostock 13, 1924, S. 14.
3) P. Rabbow, Die Legende des hl. Martinian, in Wiener Studien Bd. 17, 1895, 253ff.
4) K. Holl, Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens, in Neue
Jahrb. f. kl. Alt. 15, Bd. 29, 1912, 40Gff.
90
Schröder:
Bei der Ausbildung von Märtyrerlegenden haben antike Gerichts¬
protokolle mitgewirkt 1 ), der Märtyrerkult ist durch die mit großem
Eifer getriebene antike Totenverehrung vorbereitet 2 ).
Nicht ohne Bedeutung für das Christentum ist endlich die antike
Kunst; antike Kunstwerke wurden unmittelbar übernommen, natürlich
mit veränderter Bedeutung, wie wenn Tempel (Parthenon, Thescion,
Pantheon) in Kirchen umgewandelt wurden oder Götterstatuen als
Heiligenbilder dienten 3 ). Oder es wurde nur der Typus verwendet, um
eine jüdische oder christliche Idee anschaulich zu machen; so haben
Satyrn und Pan dem Teufel ihre Bocksgestalt geliehen 4 ), so die Kalb-
und Widderträger der Darstellung des „guten Hirten“ vorgearbeitet 5 ).
Auch wurde der Typus übernommen und symbolisch umgedeutet, wie
die Darstellung des Orpheus unter den Tieren als Sinnbild Christi. 6 )
Abb. 10.
Herakles und Pluton
von einer rotfig. Vase.
Abb. 11.
Herakles und Dionysos
von einer rotfig. Vase.
Sehr häufig ist auch der Fall, daß Bildwerke für eine spätere
Zeit unverständlich wurden und daß man sie als Darstellungen von
biblischen oder christlichen Geschichten deutete. So konnte eine
Muse mit Masken auf der Hand als Judith gelten. 7 ) In Born muß
sich ein Relief befunden haben (G. B.Rossi in Bullet. Inst. 1871, S. 6),.
1 A. Bauer, Heidnische Märtyrerakten, in Archiv für Papyrusforschung 1, 1900,
29ff; J. Geffcken, Acta Apollonii in Nachrichten der Göttinger Gelehrten Ges. 1904;
Zwei christliche Apologeten, ebenda 1908; Christliche Martyrien, Hermes 45, 1910, 4SI ff.
2) E. Lucius, Anfänge des Heiligenkultes, Einleitung.
o) W. Amelung in Röm. Mitt. 12,1897, 71 ff ; Ragna Enking, Beiträge zur Darstellung
des Engels in der altchristlichen Kunst Ungedruckte Dissertation), Jena 1921 S. 52
(Antike Statuen als hl. Michael), 'S. 45 (Engel); vgl. F. X. Kraus, Gesch. der christl.
Kunst 1, S. 492 (geschnittene Steine); A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen 1, 82
Nr. IGSa. b. Taf. 79 (Ein Consulardiptychon verändert zu Bildern des David und
Gregorius^; K. Lehmann-Hartleben, Bellerophon und der Reiterheilige in Röm. Mitt.
38/9, 1923/4. 264 ff.
4 B. Pick, Ein Vorläufer des Mephistopheles auf antiken Münzen in Jahrbuch
der Goethegesellschaft 4, 1917, 153ff.
5) L. v. Sybel, Christliche Antike 2, 101, 103; 0. Wulff, Altchristliche Kunst S. 147.
Mir scheint der christliche Ursprung des lateranischen Exemplars nicht erwiesen.
6) So die gewöhnliche Erklärung: L v. Sybel 2, 106f; Wulff S. 149. Einfluß
orphischer Mysterien: A. Dieterich, Kleine Schriften S. 478.
7) Elfenbeinrelief in Berlin, Bonner Jahrb. 107, 1901 50 zu Taf. 5 (H. Graeven).
Der heilige Christophoros.
91
wohl ähnlich dem vom Bogen von Benevent (Brunn-Bruckmann, Denk¬
mäler 396; Österr. Jahreshefte 2, 1889, 185), worauf Trajan mit einer
vor ihm knieenden, unterworfenen Völkerschaft abgebildet ist. Daraus
hat sich mit Benutzung älterer Sagenmotive die Geschichte entwickelt,
wie der Kaiser im Begriff ist, ins Feld zu ziehen, wie eine Witwe ihn
um Vergeltung für ihren erschlagenen Sohn anfleht und der Kaiser
dann seinen Feldzug aufschiebt, um erst Gerechtigkeit zu üben. (Dante,
Purgatorio 10, 73; K. Köhler, Kl. Sehr. 2, 380. 566. H. Fehl*, Das Recht
im Bilde 1923 S. 51, Bild 38; V. Chauvin, Bibliogr. arabe S, 204. Ähnlich
wird die eherne Gruppe zu Caesarea Philippi (Paneas) in Palaestina
gewesen sein, die einen Mann darstellte, wie er einem vor ihm knieen-
den Weibe die Hände reicht. Eusebius hat die Gruppe noch gesehen
(Hist. eecl. 7, 18); sie wurde zu seiner Zeit als Darstellung Jesu und
der blutfliissigen Frau gedeutet, die dies Denkmal aus Dankbarkeit für
ihre Heilung vor ihrem Hause errichtet habe 1 ). Rheinische Votiv¬
steine mit Bildern der drei alteinheimischen Muttergottheiten, die die
Abb. 12.
Herakles und Pluton, von einer rotfig. Vase.
Römer Matronen nannten 2 ), galten als Bilder der drei Marien 3 ). Auf
einem Relief in Genua 4 ) erscheint Atliena und ein Satyr, dieser mit
einer Flöte in der Hand, Atliena mit deutlich abwehrender Hand¬
bewegung, also eine Version der bekannten Erzählung, wie Atliena
die Flöten wegwirft und der Silen Marsvas sie an sich reißt. Dies
Genueser Relief wurde als Versuchung der hl. Justina durch den
Teufel erklärt.
Ferner übernimmt das Christentum den Typus oder das Bild¬
werk und erfindet zu seiner Erklärung eine neue Sage, die ihm
1) F. Munter, Sinnbilder und Kunstvorstellungen der alten Christen 2, 14ff.;
dagegen V. Schultze, zuletzt in Archäologie d. christl. Kunst S. 2SG.
2) H. Lehner, Das Provinzial-Museum in P>onn, Abbildungen (1917), Heft 2, Taf. 11 ff.
3) M. Ihm_ in Donner Jahrb. 83 ISST, 74. Vgl. G. Kinkel, Mosaik zur Kunst¬
geschichte S. 179ff. (Verschiedene Sagen von drei Schwestern).
4) Arndt-Amelung, Einzel-Aufnahmen 1370 (Bulle); Rom. Mitteilungen 25, 1910,
289 (Rizzo); Reinach, Repertoire des Reliefs 3,47,1.
92
Schröder:
von Hause aus fremd ist 1 ), ein Vorgang:, mit dem die Bildung von
Sagen ans auffälligen Naturerscheinungen zu vergleichen ist. Es
sei an Lots Weib, Niobe, die Nymphengrotten und die zahlreichen
Verwandlungssagen erinnert 2 ). So werden tributbringende Provinzen
zu den Magiern aus dem Morgenlande, Victoria wird zu dem Engel,
der sie führt 3 ); so hat sich mit der Statue
einer kindernährenden Göttin, die jetzt im
Vatican steht 4 5 ), die Geschichte von der
ganz unhistorischen Päpstin Johanna ver¬
bunden, die während einer Prozession ein
Kind geboren und so ihr Geschlecht ver¬
raten habe 6 ).
So sind auch an moderne Bildwerke
neue Sagen angeknüpft worden, besonders
häufig solche, in denen der Teufel vor*
kommt. Z. B. findet sich auf einem Grenz¬
stein des Gutes Gragetopshof bei Kostock
das Wappen der Familie Grapen topf, ein
dreibeiniger Koch topf; daraus hat die Sage
den Abdruck einerTeufelskralle gemacht 6 ).
Solche Sagen wurden dann von neuem bildlich dargestellt. So hängt
in der Nicolaikirche zu Rostock ein bekleidetes Kruzifix, also eins
Ares und Eros,
Tisckfuß aus Askalon.
1) G. Kinkel, Sagen aus Kunstwerken entstanden, in Mosaik zur Kunstgeschichte
S. 161ff.; Günter, Die christl. Legende S. 121 mit Berufung auf H. Maury, Croyances
et legendes du moyen äge.
2) Vgl. B. Schröder, Neue Grotesken, in Westermanns Monatsheften GO, 1916, SSI ff.
3) L. v. Sybel in Röm. Mitt. 27, 1912, 311 ff.; G. A. S. Snyder, De forma matris
(1920), GO ff.
4) W. Amelung, Die Skulpturen des Vaticanischen Museums Bd. 1 Taf. 48, Museo
Chiaramonti Nr. 241.
5) G. Tomasetti in Bull. comm. di Roma 35, 1907, 82ff.
6) L. Krause in Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock 13, 1924, 1, 59.
Der heilige Christophoros.
93
von den vielen gleicher Art, an die sich die Sage von der hl. Kümmer¬
nis, einer gekreuzigten Nonne, angesponnen hat (Kinkel S. 201), und
eben diese Sage ist an der Wand derselben Kirche in ausführlichen
Gemälden geschildert 1 ). Und endlich fügt das Christentum Legende,
bildliche Typen und romanhafte Erzählung zu einer Neusehöpfung
zusammen, wie in der Gestalt und Sage des hl. Georg 2 ). Dieser
Heilige war ursprünglich nur Krieger, zu Fuß oder als Heiter, mit
oder ohne Drachen, nur als Bekenner, Wundertöter und Märtyrer.
Der Drachenkampf ist der Legende unbekannt bis zum 12. Jahrh. Dann
hat es im Osten zahlreiche Reiterheilige gegeben und dazu die west¬
europäische Erzählung vom Drachen¬
töter und Mädchenbefreier, in der die
Sage von Perseus und Andromeda
nachleben mag. Aus diesen Bestand¬
teilen ist der übliche Typus znsammen-
gewachsen und die Sage immer wieder
dargestellt worden.
Was nun den hl. Christophoros
angeht, so haben wir oben die zwei
Bestandteile der Legende auseinander
gehalten. Das Martyrium verlangt
keine Erklärung. Die Geschichte von
dem dienstfertigen Fährmann ist keine
ursprüngliche alte christliche Legende
und auch nicht aus der heidnischen
Mythologie oder Literatur übernom¬
men, und die Beziehungen zu Indien
müssen zurücktreten, wenn eine Er¬
klärung aus einem näher
Kulturkreis zu finden ist.
Angesichts der vielen Sagen näm¬
lich, die aus Kunstwerken abgeleitet
sind, ist wohl die Frage erlaubt, ob
nicht auch die Christophoroslegcnde
aus einem Kunstwerk entstanden sein
könne. K. Richter S. 152 wirft bereits diese Frage auf, in dem Sinne, daß
die Umsetzung des abstrakten Namens des Heiligen in eine konkrete
Anschauung das Werk eines bildenden Künstlers und „der Dichter erst
der Nachschaffende gewesen wäre, der in Worte gefaßt, durch Worte ge¬
deutet hätte, was eines andern Phantasie erträumt“; doch meint er S. 153,
es falle schwer zu denken, daß nach dem Bilde oder der Statue eines
Mannes, der mit einem Kinde auf der Schulter durchs W asser schritt,
selbst wenn darunter stand „S. Christopliorus“, ein empfindender Be¬
schauer die Legende in ihren Einzelzügen in Worten hätte ausführen
wollen. Aber wenn das Kunstwerk zunächst mit der Sage garnichts
zu tun hatte? Wenn der christlichen Phantasie nur das künstlerische
Motiv vorlag? Wo findet sich in der Kunst die Gruppe des kräftigen
liegenden
Abb. 15.
Jüngling und Eros,
Bronzestatuette in Florenz.
1) F. Schlie, Kunst- und Geschichtsdenkmäler, Mecklenburg-Schwerin 1,154,15Sff.;
Bolte-Polivka, Anmerkungen zu den KHM. 3,241. Zu dem alten Sagenmotiv der
Mannweiblichkeit s. Usener, Legende d. hl. Pelagia XXIII.
2) 0. Freiherr von Taube in Münchener Jahrb. f. bild. Kunst 6, 1911, 188; J. Roos-
vaal, Nya St. Görans Studier S. 198.
94
Schröder:
Mnnnes, der ein Kind trägt? Die Antwort ist schon gegeben: In dem
antiken Herakles mit dem Erosknaben.
Nach zwei Epigrammen des Philippos und des Tullius Geminus
(Anthologia Graeea 2,209, 52; Planudea4,104; Overbeck, Scbriftquellen
1474 Anm. und Antliol. Gr. 2,255,4; Planud. 4, 103; Overbeck 1474)
scheint es ein Kunstwerk gegeben zu haben, das den waffenlosen
Herakles, von Eros bezwungen, darstellte. Daß dies Werk von Lysippos
herrührte, wie das Epigramm des Tullius Geminus angibt, ist nicht
sicher, aber glaublich angesichts des lysippisehen ausruhenden Hera¬
kles 1 ), und ebenso ist es wahrscheinlich, daß einige Werke der Klein¬
kunst, die mit leichten Abänderungen dasselbe Thema behandeln,
eben auf dies Werk des Lysippos zurückgehen; es sind eine Vase 2 ),
ein Spiegel 3 ), eine Gemme in Florenz 4 ), eine späte Gefäßseherbe 5 6 ),
eine Statuette 0 ) und das oben S. 88 Anm. 2 erwähnte gandharasche
Bildwerk (Abb. 7). Auf all diesen Denkmälern ist Herakles dar¬
gestellt, nach rechts hin schreitend, nackt oder mit der Keule und
Löwen feil, den Eros im Motiv des Ephedrismos auf dem Rücken.
Andere Gemmen, die ein nächstverwandtes Vorbild wiedergeben 7 )
zeigen den Heros auf ein Knie gesunken, wie er die Keule schwingt
oder wie er, als überwundener Pankratinst mit erhobenem Zeigefinger
das Zeichen der Unterwerfung macht 8 ). Das allen diesen Darstellungen
zu Grunde liegende Werk hat nicht nur Dichtern Anlaß gegeben, es
in den oben genannten Epigrammen zu beschreiben, sondern es ist
1) H. Bulle, Der schöne Mensch im Altertum 3 , (1922), Taf. 72.
2) Louvre, nach meiner Notiz mit Nr. 366 versehen; nicht im Katalog. Lekythos.
mit Relieffiguren, Mänade mit Tympanon, Satyr tanzend und Herakles, auf dem Rücken
im Motiv des Ephedrismos den kleinen Eros, der in der R. einen Ball zu halten
scheint. (Abb. 1 nach eigener Skizze.)
3 Athen, Nationalmuseum; Spiegel in der Carapanos-Sammlung Schrank 14
(biarpoocor tojtcov), schlecht erhalten. (Abb. 2 nach eigener Skizze.)
4) Cades, Impronte gemmarie, Kasten 25, Reihe V. 2; Furtwängler, Antike Gemmen
Taf. XXX, 8; L. A. Milani, II Real Museo arch. di Firenze Taf. 135, 8. (Abb. 3.)
5) D’Agincourt, Recueil de fragments de sculpture antique en terre cuite,
Paris 1S14 PI. 14 nr. 4 (Abb. 4.)
6) Statuette des nackten schreitenden Herakles, wie er, das gerade abstehende
Fell unter den 1. Arm geklemmt, vornübergebeugt den geflügelten Eros auf dem
Nacken trägt und auf dem Rücken mit beiden Händen unterstützt. Die Statuette,
0,113 m hoch, stammt aus Bressingham, Norfolk, ist sehr grob modelliert und im
Britischen Museum unter den mittelalterlichen Bronzen ausgestellt. Hier Abb. 5 u. (>
in Zeichnungen nach Photographien und einer 1907 von Herrn A. Smith freundlich
gesandten Skizze.
7) Cades, 25, Reihe V 3—5; A. Furtwängler, Antike Gemmen, Taf. 27, 7 u. 8, Ge¬
schnittene Steine in Berlin Nr. 1320, 1322, 1323; Milani a. a. O. (oben S. 94 Anm. 4)
Tav. 135, 9 (hier Abb. 8); Verkaufskatalog Vente Drouot 8. Mai 1905, Collection
dün Archeologue explorateur 14 Nr. 101 „Sous le bras d’Hercule, on voit le mono-
gramme chretien, ajoute par le possesseur de la pierre, dans les commencements
du Christianisme, pour transformer le heros en un saint Christophore. Ce detail
donne un interet particulier ä la gemme. u (hier Abb. 9.) In ähnlicher Weise ist ein
antiker Sarkophag durch das christliche Monogramm für den neuen Besitzer geweiht:
F. J. Doelger, Der heilige Fisch (1922) S. 388. An dem Konstantinopler Exemplar eines
Orpheus ist ein christliches Kreuz eingeritzt; es dient zum Beweise, „daß das Bild¬
werk zu irgend einer Zeit eine christliche Bedeutung hatte“ (J. Strzygowski in Röm.
Quartalsblatt 1890, 104 ; L. v. Sybel, Christliche Antike 2, 106). So ist das Monogramm
auf der Gemme mit dem Herakles gewiß auch nur Zeichen eines christlichen Be¬
sitzers. Die Form des Monogramms ist die der 2. Hälfte des 4. Jahrh. n. Chr. (F. X.
Kraus, Gesch. d. christl. Kunst 1, 131).
8) Vgl. Arch. Anz. 1892, 164. Zu den beiden Typen auf den Gemmen Furtwängler
und Roschers Lexikon I 2, 2249. Auf dem 1. Unterarm trägt der ruhig stehende jugend¬
liche Herakles den Knaben auf dem etruskischen Spiegel Gerhard, Etr. Spiegel 2, 181*
Der heilige Christophoros.
95
gewiß selber von dichterischen Gedanken angeregt worden. Schon
Agostini, Gemmae 2, 0 erinnerte zu dem Chaleedon in Florenz (s. S. 94
Anm. 4) an Ovid, Heroides VIII Deianira v. 25: Quem non inille
ferae, quem non Stlieneleius hostis, Xon potnit Juno vincere, vincit
Amor. Aus ähnlichem Gedankengang stammt die Vorstellung des
vom Wein bezwungenen Herakles: Anthol. Planudea 4, 99: ny.qüets
uTiahn h'oiftehT ßoojtucp (ü. Benndorf in Arcli.-cp. AIitt. Osterr. 3, 189).
Anderes lässt sich in formaler Hinsicht vergleichen. Auf jüngeren
rotfigurigen Vasen trägt Herakles den Dionysos und Pluton auf dem
Rücken 1 ) und in einer allerdings ergänzten Statuettengruppe des
Louvre ein junges Weib (Reinach, Rep. stat. 2, 235, 5). Auch der Satyr,
der Liberum patrem palla velatum umeris praefert (Plin. n h. 30, 29),
und die ähnliche Gruppe, die auf einem Berliner megarischen Becher
wiedergegeben ist (Inv. 3130; Arcli. Anz. 1880, 252 Nr. 10; hier Abb. 13),
gehören hierher, ebenso die rätselhaften Darstellungen Chirac 214, 4
und auf dem Sarkophag Raoul Rochette, Mon. ined. PI. 74. Zum
Motiv des Aufhoekens auf dem Rücken s. Jiithner in Pauly-Wissowa,
Realencyclopädie s. v. Ephedrismos und Winter, Typenkatalog 2, 05, 7.
130/7. Zu dem knieenden Herakles läßt sich der knieende Atlas mit
der Last der Himmelskngel vergleichen (Roschers Lexikon der Mytliol.
s. v. Atlas 710).
Der Gedanke, daß auch die mächtigsten Wesen dem kleinen Eros
unterliegen müssen — omnia vincit amor —, ist von der jüngeren
Kunst in mannigfachster Weise behandelt worden. So sitzt der Knabe
auf der Schulter des Ares 2 ), auf dem Rücken der Kentauren (Brunn-
Bruckmanns Denkmäler 392), so zügelt er den Polyphem auf dem
Wandgemälde im Hause der Li via auf dem Palatin Mon. Inst. 11, 23;
Reinach, Rep. de peintures 172, 7, und so bändigt er kraftvolle Tiere
wie den Löwen allein 3 ), oder in der Mehrzahl wie in der Gruppe des
Arkesilaos (Plin. n. h. 30, 41), und ebenso den Zeus-Stier (Overbeck,
Kunstmythologie Taf. 0, 17) und den Widder (Martial VIII 51). Ritt¬
lings sitzt Eros auf dem Nacken des Papposilen (Millin, Vases 1, 20;
Patroni und Rega, Vasi Museo Vivenzio Taf. 31), und wie von dem
jungen Kentauren, so wird er nur zu gern von jungen Mädchen
auf dem Rücken getragen (Laborde PI. 47 und nicht ganz sicher
Winter, Typenkatalog 2, 137), und so kniet er auf den Schultern eines
Jünglings in der rätselhaften Bronzefigur von einem Lampendeckel
in Florenz 4 ). Noch besser als zu dem jugendlichen Kentauren, zu
dem H. Brunn (Kl. Schriften 3, 219) es angeführt hat, paßt zu dieser
Bronzefigur das anmutige Gedicht des Bion, in dem der alte Ackers-
mann zu dem jungen Vogelsteller sagt: „Wenn du erst zum Manne
gereift sein wirst, dann wird Eros von selbst zu dir kommen und
sich dir plötzlich aufs Haupt setzen“. Endlich erscheint aber Eros
selber als Liebhaber, indem er, ein kräftig herangewachsener Bursche,
1) Millin. Vases 2, 10; Gori, Mus. Etrusco 2 pl. 159; Preller in Ber. Sachs. Ges. d.
AViss. 7, 1855, 23ff. Taf. 2; Heuzey in Gaz. des Beaux Alts 2, 1875, 204 hier Abb. 10—12.
2) Tischfuß aus Askalon, Abb. 14, Zeichnung nach alter Photographie. Zur Form
des Tischfußes s. Rom. Alitt. 38,9, 1923/4, 270ff (K. Lehmann-Hartleben).
3) L. A. Milani, II Real Museo arcli. di Firenze Tav. 134; Furtwangler, Gemmen
Taf. 57, 1; Winter, Typenkatalog 2, 318, G.
4) Gori, Mus. Etr. 1 tav. 54; L. A. Milani, Museo arch. di Firenze Tav. 34: Reinach,
Rep. Stat. 2, 459, 7. Zu dem Schwanenkopf als Griff zum Aufhängen vgl. Rep. Stat.
2, 97, 5. Stephani C. R. 1SG3, 50. Hier. Abb. 15.
Schröder:
90
ein Mädchen auf der Schulter trägt (Benndorf, Griech. u. Sieil. Vasen¬
bilder Taf. 3S). Zu dem Motiv der Gemmen, auf denen Herakles als
Pankratiast im Kampfe unterliegt, mag noch an den Ringkampf des
Eros mit Pan erinnert werden (0. Bie in Arch. Jahrb. 4, 1889, 134),
und zu der Gruppierung eines vollerwachsenen Mannes mit einem
Kinde an den Silen mit dem Dionysosknaben 1 ), womit wir wieder in
den lysippischen Kreis gelangen.
Wenn wir das Gesagte zusammenfassen, so ergibt sich die folgende
Reihe von Möglichkeiten: Es scheint irgendwo ein Werk des Lysippos,
Herakles mit Eros, gestanden zu haben; dies ist in verschiedenen Fas¬
sungen bis spät ans Ende des Altertums, wie in dem gandharaschen
Relief, nach- und weitergebildet worden. Ein solches Kunstwerk konnte
einer späteren Zeit leicht unverständlich werden, wenn, wie gewöhn¬
lich, erläuternde Beischriften fehlten (vgl. Dio Chrysostomus 91 ed.
v. Arnim 1, 240) und Beschädigungen eintraten, z. B. wenn dem Eros die
Flügel verloren gingen, wie der Berliner Victoria von Calvatone (Beschr.
Nr. 2) oder weggelassen wurden wie bei den oben S. 88 Anm. 2 ange¬
führten innerasiatischen Denkmälern. Dann mußte aus dem Knaben der
Christusknabe, aus dem Riesen, der ihn trägt, ein Christophoros werden,
und die christliche Phantasie des Volkes oder eines einzelnen Dichters
erfand —wie es scheint im 12. Jahrh.auf deutschem Boden 2 ) — eine neue,
besonders anmutige Legende, in der vielleicht die Keule des Herakles
als grünender Stab 3 ) und der Ball des Eros 4 ) als Weltkugel wieder
auftauchten. Ja, angesichts des Vasenbildes Abb. 12, auf dem Herakles
den Pluton durch das Wasser trägt, könnte man auf den Gedanken
kommen, daß auch der Dienst an der Furt in dunkler Erinnerung
aus der Heraklessage übernommen worden ist. Daß ein antikes
Heraklesbild wie in Gandhara so in einer der nördlichen Provinzen
das Altertum überdauert und die Erfindungskraft angeregt haben
könne, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Diese Legende wurde
dann mit der schon vorhandenen Geschichte eines älteren Heiligen,
des Märtyrers Reprobus-Christophoros verbunden und vielleicht unter
Einwirkung germanischer Mythologie ausgestaltet, (F. X. Kraus, Real-
encyclopädie s. v. Christophorus zitiert Jac. Grimm, Deutsche Mytho¬
logie S. 496, 509), was besonders die Jugendgeschichte des Riesen be¬
trifft (vgl. das oben angef. deutsche Gedieht, Z. f. d. A. 17, 1874, 140). 5 )
Endlich wurde das Ganze dichterisch behandelt und von neuem bildlich
dargestellt.
1) Statuarisch: Clarac-Reinach S. 169. Terrakotta: Winter, Typenkatalog 2, 400,
401. Vgl. Furtwängler in Archiv f. Relw. 10, 1907, 321 ff.
2) K. Richter a. a. O. S. 89, 91, 98, 105, 106.
3) Dies Märchenmotiv findet sich schon bei Herakles (Paus. II 31, 10) und sonst
oft, so bei Aaron, Joseph als Freier der Maria, Primislav, Tannhäuser und zahlreichen
christlichen Heiligen (A. Maury, Croyances et legendes S. 384; Bolte-Polfvka, KHM.
3, 471).
4) Wenn wirklich in einer der antiken Gruppen Eros einen Ball getragen hat
(s. o. S. 94 Anm. 2), könnte die Gruppe so erklärt werden, daß Eros den Riesen im
Ballspiel besiegt hat und von ihm ans Ziel getragen werden muß (Jüthner in Pauly-
Wissowa, Realencycl. s. v. eyedoiofiös] Furtwängler, Sammlung Saburoff 3 Taf. 81),
so wie er in dem Typus mit dem knieenden Herakles als Pankratiast siegt. Freilich
wäre damit der erotische Witz der Gruppe vernichtet.
5) [Den besonderen Zug, daß das kleine Wesen auf der Schulter des Riesen
diesen durch sein immer zunehmendes Gewicht zu Boden drückt, führt F. Ranke in
den Bayer. Heften f. Volkskunde 9, 31, 1922 auf die Volkssage vom Huckup zurück.]
Der heilige Christophoros.
97
Die ältesten christlichen Darstellungen (Richter S. IGOff; Stahl
Taf. 1-3) zeigen den Heiligen feierlich, ruhig stehend mit dein Kinde
auf der Schulter oder auf dem Arm ähnlich dem etruskischen
Spiegel S. 94 Anm. 8; erst vom 14. Jahrh. an wird die Scene im Fluß
lebendiger und mit breiterer Ausführlichkeit wiedergegeben, besonders
schon in dem Münchener Bilde von Dirk Bouts 1 ), das Goethe zu
dem Verse anregte;
Christkindlein trägt die Sünden der Welt,
Sankt Christoph das Kind über Wasser hält,
Sie haben es beid uns angethan,
Es geht mit uns von vornen an 2 ).
Ob bei dieser Neusehöpfung des Typus die antiken Herakles-
Erosbilder mitgewirkt haben, wäre zu untersuchen. Es ist aber
nicht unbedingt notig, dies anzunehmen, denn wenn wir jetzt die hier¬
hergehörigen Denkmäler aus den Veröffentlichungen und Museen zu¬
sammenstellen können, so fehlte dies Hülfsinittel doch den alten
Künstlern. Vielmehr konnte bei ähnlichem Thema die künstlerische
Behandlung auch ohne unmittelbare Übertragung zu ähnlichen
Lösungen kommen. 3 ) Übrigens hat die Legende ihren Reiz für die
bildende Kunst bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es darf wohl
auch erwähnt werden, daß es eine musikalische Behandlung des
Themas gibt, eine symphonische Dichtung von F. Liszt, in der das
Anseh wellen des Wassers und die immer schwerer werdende Last
des Kindes mit den Mitteln der Tonmalerei geschildert wird.
Die Sage ist nicht nur innerhalb des heiligen Personals ge¬
wandert und auf den heiligen Savinian übertragen worden (H. Günter,
Die christl. Legende S. 144), sondern sie scheint auch in dem deutschen
Märehen von Eisenhans anzuklingen (Grimm, KHM. Nr. 13G); Ein
wilder Mann aus dem Walde wird gefangen und in einen Käfig
gesetzt; einem Knaben fällt sein goldener Ball in den Käfig, und er
macht ihn auf, um den Ball wiederzubekommen. Der wilde Mann
tritt heraus, gibt ihm den goldenen Ball und eilt hinweg. „Dem
Knaben war angst geworden, er schrie und rief ihm nach: „Ach
wilder Mann, geh nicht fort, sonst bekomme ich Schläge“. Der wilde
Mann kehrte um und hob ihn auf, setzte ihn auf seinen Nacken und
ging mit schnellen Schritten in den Wald hinein.“ Auch der junge
Riese in dem Grimmschen Märchen Nr. 90 wird als Däumling von
einem Riesen entführt, und wenn man in der Erzählung von den
beiden Königskindern (Grimm Nr. 113) liest, wie der große lange
Mann den Königssohn mit sich nimmt und durch ein großes Wasser
trägt, so erinnert auch dies an den Heiligen. Er ist denn auch nicht
weit. Im Verlauf des Märchens heißt es: Ase de jungen Lude op de
Schlopkamer kämen, do stunn dor en steinernen Christoffel usw. (wie
das Standbild des getreuen Johannes in Grimms Märchen Nr. 6).
Während also hier der Heilige in das heidnisch anmutende
Märchen zurücksinkt, wird an einer anderen Stelle die christliche
1) Katalog der älteren Kgl. Pinakothek, Amtl. Ausg. 1911 Nr. 109. A gl. bulpiz
Boisseree, Briefwechsel mit Goethe S. 30, wo als Maler noch Memling gilt.
2) Zu unserem Thema angeführt von C. Martens in Tägl. Rundschau 9. Juli 192a.
3) Die Bronzeplakette m Berlin mit dem knienden Herakles und Eros (Kgl. Museen,
Beschr. d. Bildw. d. christl. Epochen, Bd. 2, Die Ital. Bronzen [1904] Taf. 40 Ar. 544) ist
ein Nachguß nach einer antiken Gemme. Vgl. S. 94 Anm. 7.
08
Schröder: Der heilige Christophoros.
Umtnnfe des Herakles zum zweiten Male vorgenommen: Auf der
Willielinshölie bei Kassel stellt eine Nachbildung des lysippiseheri
ausruhenden Herakles: Das Volk nennt ihn den großen Christoph 1 ).
Aber es gibt auch im Plattdeutschen ein Sprichwort, wenn einer
überheblich redet. Dann beißt es „hei redt von den grooten Christoffer“
(Fr. Reuter, Ut mine Stromtid Kap. 25). Das mag zur Mahnung
dienen, alles liier Vorgetragene für nicht mehr anszngeben als für
Vermutungen, die sich nicht streng beweisen lassen. Nur soviel sei
gesagt: Es scheint in der Gestalt des hl. Christophoros ein antikes
Knnstgut fortzuleben, das mannigfache Umwandlungen dureligemacht
hat: vom poetischen Einfall zum ehernen Standbild, vom antiken Kunst¬
werk zur christlichen Legende, von der Legende zum Heiligenbilde,
vom Heiligenbilde zur Märchengestalt und zur symphonischen Dichtung.
Berlin.
Kleine Mitteilungen.
Die märkische Sage von der keuschen Nonne.
Jedem Liebhaber der älteren brandenburgischen Geschichte steht wohl Martin
Friedrich Seidels Bildersammlung berühmter Märker v. J. 1671, die der Berliner
Itektor G. G. Küster 1751 mit ausführlichem Texte neu herausgab, in rühmlicher Er¬
innerung. Aber wer weiß, daß dieser urgelehrte Berliner Kammergerichtsrat des
Großen Kurfürsten 2 ) als Seitenstück dazu auch ein ‘Gynaeceum Marchicum’, d. h. ein
‘brandenburgisches Frauenzimmer’ vorbereitet hatte, welches Bildnisse kurfürstlicher
und markgräflicher Gemahlinnen und Töchter, sowie andrer vornehmer und frommer
Frauen enthielt? Bedauerlicherweise ist dies Werk, von dem der 1718 erschienene
Auktionskatalog der Seidelschen Bibliothek zwei Handschriften (Ms. fol. 61 und 68)
verzeichnet, spurlos verschollen; nur einen Auszug daraus, den der Kammersekretär
Joh. Philipp Jacobi (f 1719) angefertigt zu haben scheint, besitzt die Preußische
Staatsbibliothek als Mscr. boruss. quart 14. Freilich dürfen die kurzen Biographien
der in bunter Reihe folgenden fürstlichen, adligen und bürgerlichen Frauen 3 ),
zumal deren Porträts gänzlich fehlen, kaum ein allgemeineres Interesse bean¬
spruchen; nur auf die drei den Anfang machenden Vertreterinnen des jungfräulichen
Standes möchte ich besonders hinweisen. Es erscheint zuerst ein jung verstorbenes
Fräulein Anna Katharina v. Götze (1652—1680), von der Seidel einen unge¬
druckten Traktat von der christlichen Lehre und aufrichtigem Wandel besaß, ferner
die mittelalterliche Dichterin Roswitha aus dem Kloster Gandersheim, die er
nach einer allzu kühnen Vermutung seines Freundes Thomas v. d. Knesebeck für
ein märkisches Fräulein Helena v. Rossow hielt 4 ), und endlich die Nonne Mette
v. I low, die eine Familienüberlieferung für die Heldin einer bei dem Chronisten
Andreas Angelus ohne Namen erzählten Geschichte erklärte. Dieser letztgenannten
wollen wir eine genauere Betrachtung widmen. Seidels Bericht lautet:
1) Über anderen „Niederschlag der Legende in Volksbrauch und Volksmeinung“
s. Richter S. 206.
2) Ueber Seidels Leben (1621—1693) und Forschertätigkeit habe ich in einem
Berliner Schulprogramme (1896 nr. 51) ausführlich berichtet.
3) Es sind die brandenburgischen Kurfürstinnen Katharina, Anna, Eleonora, die
Markgräfin Maria Eleonora; Frau Armgard von Schulenburg, Margarete Katharina
und Bertha Sophia v. Reyger, Anna v. Randov, Luise Hedwig v. Löben; Elisabeth
Weißbrodt, Regina Flacius, Regina Hoffmann, Eva und Elisabeth Pascha (die beiden
letzten Seidels Verwandte).
4) Seidel hat sie auch als einzige Frau in seine Bildersammlung (1751 nr. 1)
aufgenommen.
Holte: Kleine Mitteilungen.
99
Mette von Ilov.
Als urob das Jahr Christi 1526 in der Mark Brandenburg ein Unwille zwischen
dem Churfürsten Ludwig dem Älteren und dem unruhigen Bischof zu Lebus Stephan
von Petzkov einiger Fehler und Zehenden halber entstanden und dem Bischof nach
genugsam gegebenen Ursachen von Edelleuten, Bürgern und anderen ihren Mit¬
genossen hinwieder viel Verdrieß angelegt worden, so hat er die Anstiftung getan,
daß König Vladislaus in Polen mit Hilfe der Litauer und Reußen das Land Stern¬
berg und die Uckermark gewaltsamer Weise überzogen, hin und wieder gestreikt
und in kurzer Zeit über 140 Dörfer nebst Kirchen, Klöstern und Clausen geplündert
und ausgepochet und ohn den großen Raub bei 0000 Christen weggefiihret, wobei
die ungläubigen Litauer und Reußen gegen die Christen große Tyrannei geübet, auch
Jungfrauen und Frauen, geistlich und weltlich, geschändet.
Es hat aber unter andern auch ein unchristlicher Bojare eine schöne Jungfrau
aus dem Convent des neumärkischen Klosters Hi m meiste dt, so, wie ich in meinem
alten Manuscripto gelesen. Mette von II ow genannt, gefangen bekommen; und ob
er wohl teils mit Bitte, teils mit Drauworten an ihr gewesen, daß sie seinen Willen
tun sollte, so hat er sie dennoch nicht bewegen können, dannenliero er sich unter¬
standen sie mit Gewalt zu schwächen. Da sie nun solchem starken grausamen
Menschen zu widerstehen viel zu schwach war, bat sie den Barbaren jetzt mit
weinenden Augen, bald mit Liebkosen, er möchte ihrer als einer geistlichen Person
verschonen, so wolle sie ihm dagegen eine solche Verehrung tun, die ihn in der Welt
recht glücklich machen könnte. Und als er fragete, was denn das für eine Verehrung
sein solle, hat sie ihm geantwortet, es wäre die: sie wollte ihm geheime und sehr
verborgene Kunst lehren, daß er die Tage seines Lebens mit keinen Waffen, Schwert
und Spieß noch Pfeile an seinem Leibe versehret werden könnte. Und wiewohl er
gänzlich entschlossen war, seinen bösen Millen an der Jungfrau auszuüben, jedoch
verzöge er, diese Kunst zu erfahren, sein Piirhaben in etwas und versprach ihr, sie
bei Ehren zu lassen, wenn sie ihrer Verheißung nachkommen würde. „Es sind“,
sagte sie darauf, „wenig geheimnisvolle Worte, die ich nur sprechen darf. 14 So sollte
ers nur an ihr erst probieren.
Indem kniete sie nieder, segnete sich nach Brauch der damaligen Christen mit
dem Kreuz und betete den \ ers aus dem 31. Psalm: „In manus tuas, Domine, com-
mendo spiritum meum.“ Diese Worte verstände jener nicht und meincto, es wären
«die kräftigen unverständlichen Zauberworte, darauf diese ganze Kunst bestünde.
Darauf sagte die vor dem Tod unerschrockene Jungfrau mit ausgestrecktem Halse,
er sollte nun getrost zuhauen, so werde er die Wahrheit ihrer Zusage richtig und
gewiß finden. Hierauf rückte der Barbar, welcher nach seiner finsteren Unwissen¬
heit sich nicht einbilden konnte, daß eine christliche Frauensperson sollte ihr Leben
verachten können, seinen Säbel ohn ferneres Nachdenken und schlug mit dem ersten
Streich ihr das Haupt herab und sähe do allererst, daß er durch den Verstand dieser
ehrlichen Nonnen betrogen und daß sie ihre Ehre lieber als das Leben gehabt hatte.
(Vide Angeli Annales Marchiae ad dictum annum p. 135. Nicol. Leuthingeri De Marchia
Brandenburgensi eiusque statu p. IV, 1. 1. fol. 667).
Umb dieser tapfern Tat willen und der Jungfrau zum Gedächtnis führen die
von Ilov (so etliche Hundert Jahr vorher in dem Sternbergischen floriert und von
undenklicher Zeit den bloßen Schild mit einem Lorbeerkranz zum Wappen gehabt,
womit man ehemals die tapfern Kriegsleute, wann sie die Feind mit sonderbaren
Herzhaftigkeit geschlagen, zu bekrönen pflegen) diese Klosterjnngfer mit dem in
beiden Händen haltenden Lorbeerzweige oben auf der Helmdecken, damit ihre Nach¬
kommen sowohl männliches als weibliches [Geschlechts] eine Anreizung hätten, daß
sie sich, so lang jemand von ihnen übrig bliebe, fernerer tapferen Taten und recht¬
schaffener adelichen Tugenden und Reinigkeit befleißen möchten, welches auch an
vielen dieses Namens, die zum Teil Feldmarschälle, Obristen und andere hohe
Offizierer, auch Hof- und Landbediente gewesen oder sonst rühmlich und kündbar
gelebet, erfüllet worden.
Seidels Erzählung stimmt wörtlich mit der von ihm als Quelle angegebenen
märkischen Chronik des Strausberger Pfarrers Andreas Angelus (1598 S. 135)
überein, bis auf die dort fehlenden Namen der Heldin und des Klosters. Diese
entlehnte Seidel einem alten Manuskript, in dem wir eine Familiengeschichte der
im Lande Lebus und Sternberg angesessenen, zum märkischen Uradel gehörigen
Familie v. 11 o w oder Ihlow vermuten dürfen. Denn mit dieser war Seidel
1679 in Verbindung getreten durch seine Heirat mit einer Nichte des kaiserlichen
Feldmarschalls Christian von IIow t , der als treuer Anhänger Wallensteins zugleich
mit ihm 1634 in Eger ermordet worden war und der uns in Schillers W allenstein
100
Bolte:
mit der falschen Schreibweise Milo’ entgegentritt, ln erster Ehe war jene Eva Catha-
rina v. Ilow mit einem Herrn v. Rochow, in dritter nach Seidels Tode mit einem
Herrn v. Barfuß vermählt Die Familienüberlieferung aber verknüpfte die Geschichte
von der keuschen Nonne mit dem Wappen der llows, das ich nach einer Abbildung
in Siebmachers Wappenbuch (III, 2, Taf. 234. Text
S. 186) wiedergebe. Wie dort bemerkt wird, zeigen
die verschiedenen Siegelabdrücke und Malereien viele
Varianten: der Kranz erscheint auch als einfacher
Laubkranz, das Frauenbild hält oft zwei heraldische
Lilien in den Händen. Bedenken erweckt jedoch
der Name des Klosters Himmelstedt; denn an die¬
sem bei Landsberg an der Warthe gelegenen Orte
bestand zwar im 14. Jahrhundert ein Cisterzienser-
Mönchskloster, aber kein Nonnenkloster (Riehl und
Scheu, Berlin und die Mark Brandenburg 1861 S. 472.
Cod. Dipl. Brandenburgensis I, 18, 381: Locus coeli).
Sehen wir uns also nach anderen Überlieferungen um!
Wie die Untersuchungen von Valentin Heinrich
Schmidt 1 ) und Georg Voigt 2 ) gelehrt haben, geht der
Bericht des Andreas Angelus in letzter Instanz auf
die gereimte Chronik des deutschen Ordens in Preußen
zurück, die der Kaplan Nicolaus von Jeroschin in
den Jahren 1331—1341 abfaßte 3 * ). Er schildert, wie
der Polenkönig Wladislaw Lokietek, unterstützt von
einem Hilfsheere heidnischer litauischer Krieger, im Beginn des Jahres 132G einen
verheerenden Einfall ins brandenburgische Land bis vor Frankfurt unternahm, wie
mehrere Klöster in Brand gesteckt und Priester und Nonnen, Frauen und Kinder
als Gefangene weggeschleppt wurden. Er erzählt auch von einer edlen Jungfrau,
um welche zwei wilde Litauer stritten, und von einem dritten, der, um ihren Streit
zu schlichten, die Jungfrau mit dem Schwert in zwei Teile hieb. Dann führt er
einen ähnlichen Fall schrecklicher Kriegsgreuel an:
Der selbin gotis heiligen
wold eine da bemeiligen
ein heidin in unküschir pflicht.
Do sprach di dim: ‘Ei, tu des nicht,
sundir hilf minem übe,
daz ich des reine blibe!
Ich habe so wise vornunst,
daz ich dich lere sulche kunst,
daz dich insnidit dikein swert. 5
‘Vil hoer mite were wert
di kunst 5 , jach der Littouwe.
Do sprach si: ‘Nü beschouwe
di kunst an mir, daz ist min ger!
Ein scharfiz swert lä brengen her,
dem wil ich so besprechin
sin snidin und sin stechin,
daz iz mir nicht geschaden kan ! 5
Do liz der heide brengen sän
ein swert, daz was wol sneitic.
‘Nü bis 5 , sprach si, ‘gebeitic
eine deine wile hi! 5
Worterklärung: bemeiligen: beflecken, entehren — dikein: kein — mite:
Lohn — jach: sprach — ger: Begehren — sän: alsbald — gebeitic: wartend.
1) V. H. Schmidt, Die keusche brandenburgsche Nonne (Journal für Deutschland
11, 385 -415. 1818).
2) G. Voigt, Die Lucretia-Fabel und ihre literarischen Verwandten (Ber. der K.
Sachs. Ges. der Wissensch., pliilos.-histor. Classe 1883, 1—36).
3) Jeroschin, Di Kronike von Pruzinlant v. 26540—26581 (Scriptores rerum Prussi-
carum 1, 610. 1861).
Kleine Mitteilungen.
101
Damit di magit üf di kni
vil und üf kegn himele sach
und vil innenclichin sprach:
‘0 minnenclichir JhOsü Crist,
want du min warir vridil bist,
beware mich armen dine mcit
in unbewolner reinekeit,
daz mir di crone blibe ganz
und der himelische cranz,
di du meitlichim lebbene
gelobit hast zu gebbene,
und nim, herre, minen geist
üz dirre jamirkeitc vreist!’
Und do volant was diz gebet,
des erüzis strich si vor sich tet
und zu dem heiden sprach:
Teil bin gereit; wiltü, so slaclih
Do sing er eines slages swanc,
davon ir ab daz houbit spranc.
Sus bleib bewart di reine
vor unküschlichim meine.
Worterklärung: vridil; Geliebter — unbewoln: unbefleckt — meitlich: jung¬
fräulich — üz dirre jämirkeite vreist: aus der Drangsal dieser Not — volant:
vollendet — gereit: bereit — swanc: Streich — mein: Frevel.
Jeroschin folgt in seinem Reimwerk durchweg genau der lateinischen ‘Chronica
terrae Prussiae’ des Peter von Dusburg, der dieselbe gerade 1326, im Jahre jenes
Streifzuges, abschloß und diesen also aus frischer Kunde beschreiben konnte. Allein
gerade die von uns ausgehobene Partie, die Geschichte der keuschen Nonne, fehlt
bei Dusburg 1 ), ist also ein aus andrer Quelle entlehnter Zusatz Jeroschins. Ohne
Bedenken haben ihn jedoch die polnischen und deutschen Chronisten der nächsten
Jahrhunderte übernommen und fortgepflanzt: so der 1480 verstorbene Johannes
Dlugosz (Historia Poloniae 1, 990. 1711), der Jeroschins Dichtung ins Lateinische
zurückübersetzen ließ, Matthias von Miechow (*j* 1523. Chronica Polonorurn 4,
208. 1521), Martin Cromer (De origine et rebus gestis Polonorurn 1555, p. 297),
Johannes Herburt (Chronica Poloniae 1571 p. 155, nach Cromer), Blaise de Vignere
(Chroniques de Pologne 1573), M. 0. Striykowski (Kronika polska, litebska 1582
p. 406), Stanislaus Sarnicius (Annales Polonorurn et Lituanorum 1587 p. 307),
A. W. Kojalowicz (Historia Lithuanae 1, 276. 1550), die deutsche ältere Hoch¬
meisterchronik 2 ), der wenig zuverlässige Dominikaner Simon Grün au (Preußische
Chronik 11, c. 13,2. 1, 538 ed. Perlbach 1876. Mit den Schlußworten: ‘Alß dis
der bayor sach, er sprach: 0 wie böslich bin ich beraubet meiner wollust mit dir!
Ich getrawe mein tage keiner in diser sachc.’), der Brandenburgische Stadtschreiber
Zacharias Garcaeus (f 1586. Scriptores de rebus Marchiae Brandenburgensis ed.
J. G. Krause 2, 122. 1729. Schließt: ‘Ecce, suas et habet Marchia Lucretias’. Nach
Cromer), der Danziger Stadtschreiber Caspar Schütz (Beschreibung der Lande
Preußen 1599 Bl. 61a), Joachim Cu reu s (Schlesische Chronica, verteutscht durch
Heinr. Rütteln 1585 S. 117), eine spätere Bearbeitung von Thomas Kantzows
Pomerania (1, 320 ed. Kosegarten 1816. Noch nicht in den beiden von G. Gaebel
1897—98 herausgegebenen Originalfassungen). Aus Cureus schöpft Widmann in
seinem Faustbuch 1, c. 43 (1599 — Scheibles Kloster 2, 534), aus Cromer der Jesuit
Od. Raynaldus (Annales ecclesiastici 5, 321. 1750). Da im 18. Jahrhundert branden¬
burgische Geschichtsforscher wie K. F. Pauli (Preuß. Staatsgeschichte 1, 407), Samuel
Buchholtz und G. T. Gallus (Allgem. deutsche Bibliothek 81, 169 und 94, 536) die
dramatisch wirkende Erzählung fortpflanzten, fühlte sich der Berliner Maler Paul
Joseph Bardou angeregt, sie in einem Gemälde darzustellen, das 1804 von der
Königin Luise angekanft wurde: Vor der offenen Klosterpforte kniet die Nonne mit
entblößtem Halse, den Blick nach oben gerichtet; neben ihr steht der Litauer mit
1) Scriptores rerum Pruss. 1, 193 (pars 3, c. 361).
2) Scriptores rerum Pruss. 3, 591 (c. 152).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925.
8
102
Botte:
erhobenem Säbel gutmütig auf die Beendigung des Gebetes wartend. 1 ) Über der
Pforte liest inan die Inschrift: ‘Casta sit domini sponsa’. 1818 vcrölfentlichte der
"Romantiker Fouque eine dramatische Szene ‘Der Litthauerfürst und die Branden-
burgische Nonne’ 2 ), in der auch Chöre der Litauer und der Nonnen mitwirken; das
Gebet der knieenden Heldin Clara besteht nur aus vier Worten: ‘Mein Herr! Mein
Gott!’ Das Stück, das alsbald den Berliner Schulmann Valentin Heinrich Schmidt
zu einer Untersuchung über die Glaubwürdigkeit der Sage veranlaßte 3 ), wurde von
Fouque nicht in seine Gedichte aufgenommen. Doch lockte der Stolf noch andere
Dichter wie Gustav Pfarrius 4 ), 0. F. Gruppe 5 ) und Paul Heyse 6 ). ln Heyses
Ballade ist die Enthauptung nicht gerade glücklich durch einen Flintenschuß ersetzt.
Als Vermittler des Stoffes haben wohl Tcttau-Temme (Volkssagen Ostpreußens
1837, S. 84 ‘nach Duisburg’), Adalbert Kuhn (Märkische Sagen 1843, S. 255 nach
Angelus), Wilhelm Schwartz (Sagen der Mark Brandenburg 1871, S. 186) oder
Gras sc (Sagenbuch des Preußischen Staates 1. 74. 1868) gedient.
Neue Züge von Bedeutung hat unsre Geschichte bei all diesen Autoren nicht
erhalten. Lokalisiert wurde sie nur zweimal: bei Seidel, wie erwähnt, im Kloster
Himmelstedt und zufolge dem Protokoll einer Inländischen Kirchenvisitation vom
Jahre 1613 in der Katharinenkirche, 7 Meilen von Pernau. 7 ) Die von Seidel be¬
richtete Ilowsche Familientradition haben wir natürlich der Gattung der Wappen-
sagen beizuzählen, deren Verbreitung wohl einer genaueren Untersuchung würdig
wäre. Denn die dichtende Phantasie, die den Ursprung und Sinn eines Wappen¬
bildes zu ergründen trachtet, arbeitet zumeist mit verbreiteten Motiven und nach
bestimmten Gesetzen. Man vergleiche z. B., wie in der Sammlung von G. Hese-
kicl 8 ) und in Grässes Sagenbuch folgende Wappenfiguren erklärt werden: das
springende Roß Hannovers (Grässe 2, 828), das rote Roßhaupt (Familie v. Schlegel),
der Eselskopf (Riedesel. Grässe 2, 790), Eberkopf (Dönhoff), Einhorn und Jung¬
frau (Restorff), Hirsch (Brauchitsch und Stolberg. Grässe 1, 500), Steinbock (Bredow),
Wolf (Stadt Wolfhagen. Grässe 2, 798), Vogel mit Ring (Bülow und Trotha.
Grässe 1, 332), Schlange mit Ring (Lynar. Grässe 2, 396), Rose (Berg. Grässe 2, 12),
drei Rosen (Königsmarck), Zweig (Goetz), Brücke (Arnim), Leiter (Donop), Rad
(Collowrat), Mühlrad (Wedell), Spitzwecke (Arras. Grässe 2, 156), Schachbrett
(Loeben und Prittwitz. Grässe 2, 275), Roche (Roehow), Haarlocke (Stubenberg).
Daß auch die älteste Nachricht über die brandenburgische Nonne bei Jeroschin
nicht als historisch beglaubigt gelten darf, haben die bereits angeführten Unter¬
suchungen von V. H. Schmidt und G. Voigt, denen noch F. Liebrecht (Zur Volks¬
kunde 1879, S. 83) zugesellt werden kann, festgestellt. Zu Anfang des 15. Jahrh.
berichtet der Venezianer Francesco Barbaro in seinem vielgelesenen Buch über
die Ehe (De re uxoria lib. 2, c. 6, Haganoue 1533, Bl. Fla) Gleiches aus Durazzo
von der in die Sklaverei geschleppten Jungfrau Brasilia und ihrem Herrn Cericus:
Ubi cum multas spectatissimas feminas imitari possint, an Brasilia primaria sit,
non scio, cuius egregium hac aetate facinus silentio praeteriri non debet. Ex enim
Dyrrachii nobilibus parentibus nata, ut a certis auctoribus traditur, hostium excursione
capta, paene violata est. Haec profecto vultu pulcherrimo in summo periculo ingenio,
virtute, magnitudine animi pudicitiam pie incorrupteque tutata est. Multis enim
1) Ein Stich von F. W. Meyer und J. F. Bolt, ein andrer in H. Rockstrohs Journal
für Kunst 1, 2, 69, Taf. 26 (1810).
2) Märkisches Provinzialblatt, hsg. von F. A. Pischon 1, 18 — 27 (1818). Nicht ver¬
zeichnet in Goedekes Grundriß 6, 126.
3) Mark. Provinzialblatt 1, 195—201 (1818): Über die keusche brandenburgische
Nonne. Ferner oben S. 100.
4 Gedichte, neue Sammlung, 1860, S. 50: Die Nonne (Auf deutscher Mark im
Osten ein Frauenkloster stand . . .).
5) Vaterländische Gedichte 18S4, S. 57: Die Nonne.
6) Gesammelte Werke, 3. Reihe, 4, 700 (1925): Das märkische Fräulein.
7) Scriptores rerum Pruss. 1, 610.
8) G. Hesekiel, Wappensagen. 2. Aufl. (1905\ gibt eine Reihe ansprechender Ge¬
dichte, alphabetisch nach den Adelsgeschlechtern geordnet, doch ohne Quellennach¬
weise. Sein Vorläufer war F. v. Gaudy (1830). P. Gründel (Die Wappensymbolik, 1907)
verfolgt andere Zwecke. [Nachträglich verweist mich Herr Dr. S. Kekule von Strado-
nitz auf die Materialsammlung von Grässe, Geschlechts-, Namen- und Wappensagen
des Adels deutscher Nation, 1876.]
Kleine Mitteilungen.
103
verbis impetum Cerici victoris placavit, furorem cohibuit: si castam se servarit, mer-
cedis instar ut nullis militaribus armis caedi possit, unguento quodam magico facturam
se recepit. lngenuae ac modestae mulieris oratio et rnagiae ditissimus locus fidem
vendicavit. Collocatis ab eo custodibns, dum aliquot radices generosa virgo colligoret,
exitum rci anxius exspectat. Tum ea magno animo militem convenit, se non verbis,
sed herbis periculum facturam polliceretur (1. pollicrtur). Dehinc ubi cervicem suco
perunxit, iugulum praebet. Cericus vero, quasi tnto temerarius futurus, ense caput
eximit et pudicissimae mentis testimonium admiratur.
Kürzer gibt J. L. Vivcs (De institutione foeminae Christianae, Antv. 1524,
Bl. H 2a) und sein Verdeutscher Christoph Bruno (Underweysung ayner Christ¬
lichen Frau wen, Augsburg 1544, Bl. 31b) die Geschichte wieder. Ebenso Lodovieo
Domenichi (Nobilta delle donne 1551, Bl. 41b), A. Hondorff (Promptuarium
exemplorum 1, 288a. 1570), Joh. Ireneus (Lob der Ehefrawen, durch A. Hondorff
1508, Bl. L5b), 0. Mel an der (Jocoseria 1005, 2, 33, nr. 28 1043, 2, nr. 57),
J. Zanach (Histor. Erquickstunden 4, 2, 17, um 1620), Georg Braun (Meisterlied
im Cgm. 5102, 292. Kcinz, Münch. Sb. 1893, 180); ohne den Namen der Heldin
Joh. Peter de Memel (Lustige Gesellschaft 1060, nr. 187), E. Wohlgemuth (500
Hauptpillen 1009, S. 110), Sommerklee und Wintergrün (1070, S. 81, nr. 108). Reich
ausgestaltet hat Ariost (Orlando furioso 29, 8) die F"abel Barbaros in der berühmten
Episode von Isabella und Rodomonte: isubella, die nach dem Tode ihres geliebten
Zerbino das Gelübde ewiger Keuschheit abgelegt hat, wird vom grausamen König
von Algier in einsamer Höhle an der Ehre bedroht und rettet diese durch die Vor¬
spiegelung eines unverwundbar machenden Zaubersaftes; im Augenblick ihres Todes
ruft sie noch den Namen Zerbinos. Aus Ariost schöpfte Gaetano Cioni 1790 die
fünfte seiner unter dem Namen Giraldo Giraldis verölfentlichten italienischen Novellen
von Gostanza di Rossello und Samclic; ebenso ein Ungenannter das ‘neue Reh¬
burger Lied’ bei Chr. Heinr. Sehmid, Anthologie der Deutschen 3, 247 (1772).
Offenbar gehen beide Erzählungen, sowohl die Jeroschins wie die des Italieners
Francesco Barbaro auf die ältere Legende von der heiligen Euphrasia zurück,
die sich in den Acta Sanctorum unter dem 19. Januar (Jan. 2, 220) findet und deren
noch Abraham a. S. Clara (Weinkeller 1710, S. 340) gedenkt. Der griechische
Chronist Georgios Monachos erzählt in seiner um b40 verfaßten Weltchronik
(B. 3, eap. 173), daß die Jungfrau Euphrasia in Nikomedien in der Diokletianischen
Christen Verfolgung einem Soldaten zur Schändung überliefert wurde, aber zugleich
die Krone des Martyriums und der Keuschheit erwarb. Sie versprach ihm eine
Salbe, die ihn unverwundbar machen werde, wenn er sie schone, bereitete aus Öl
und Wachs eine solche, mit der sie ihren eigenen Nacken bestrich, und forderte ihn
auf, mit voller Kraft zuzuschlagen. Aus Georgios entlehnten spätere Chronisten,
wie Georgios Kedrenos (1, 464 ed. Bekker) um 1050, Nikephoros Kallistos
um 1320 und Dorotheos von Malvasia (Liebrecht, Zur Volkskunde, S. 83). Der
arabische Historiker al-Makin (f 1302) verlegt in seiner Sarazenischen Geschichte 1 )
den Vorfall nach Ägypten, wo der wilde Merwan im 8. Jahrh. die Nonnen eines
Klosters zu Gefangenen machte.
Zum Schluß möchte ich auf eine eigentümliche Entstellung hinweisen, welche
die Euphrasia-Legende in einem armenischen Märchen ‘von der schlauen Jung¬
frau’ (bei Wlislocki, Märchen der Bukowinaer und Siebenbürger Armenier, 1891,
nr. 43) erfahren hat. Drei Räuber entführen eine Jungfrau, um sie gemeinsam zu
besitzen. Sie verheißt ihnen, sie alle durch eine Salbe unverwundbar zu machen,
beredet aber den Jüngsten, seine beiden Gefährten, denen sie nur eine gewöhnliche
Salbe auf den Hals streichen wolle, nacheinander zu enthaupten. Dann salbt sie
den Überlebenden mit dem angeblich richtigen Zaubermittel und erdrosselt ihn mit
einem Strick.
1) Georgius Elmacinus, Historia Saracenica lat. opera Th. Erpenii, 1625, p. 119.
Herbelot, Orientalische Bibliothek 3, 325b s. v. Marvan.
Berlin. Johannes Bolte.
8'
104
Holte:
Ein© Hebelsche Kalendergeschichte auf Reisen.
Im ‘Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes’ 1 ) veröffentlichte J. P. Hebel
1 s 11 die hübsche Geschichte von dem armen Tuttlinger Handwerksbursehen, der
in der großen, reichen Handelsstadt Amsterdam Gelegenheit erhielt, heilsame Be¬
trachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen. Denn als er
dort durch die Straßen wandernd fragte, wer wohl der Herr jenes prächtigen Hauses,
wer der Besitzer des großen Handelsschitfes und wer der Tote in dem statttlichen
Leichenwagen sei, bekam er jedesmal von den Befragten den kurzen holländischen
Bescheid: ‘Kannitverstan’, den er in seiner Einfalt als den Namen jenes reichen
Kaufherren deutete, der schließlich von all seinen Schätzen nichts in sein enges
Grab mitnehmen könne.
Eine ältere Quelle, die Hebel benutzt haben könnte, ist mir nicht bekannt, und
und ich halte es deshalb für durchaus wahrscheinlich, daß auf ihn die folgende in
Süd Spanien aus dem Volksmunde aufgezeichnete Erzählung 2 3 ) zurückgeht, die in
Hamburg spielt und die Wirkung dadurch steigert, daß sie eine ganze Schar von
Seeleuten an dem lustigen Mißverständnis ihres selbstsicheren Dolmetschers teil¬
nehmen läßt.
Mit einer reichen Ladung edler Weine, Feigen, Kosinen, Mandeln und Zitronen
landete ein kleines spanisches Kauffahrteischiff aus Malaga im Hamburger Handelshafen.
Kapitän, Steuermann und Oberbootsmann verstanden die Schiffahrtskunst wohl, doch
wenig oder nichts von allen andern Dingen; die Wissenschaften hatten sie, wie man sagte,
dick. Zum Glück half diesem Übel ein sehr gewandter Malaganer ab, der als Schreiber
des Kapitäns an Bord war; es gab kaum eine Kunst oder Wissenschaft, die er nicht verstand
oder in die er nicht wenigstens teilweise eingeweiht war, und keine Sprache, die er
nicht fehlerfrei verstand, schrieb und sprach.
Im Hafen gabs eine Menge großer Fahrzeuge jeder Art, darunter ein gewaltiges
Schiff von solcher Vollkommenheit, Pracht und Schönheit, daß es ein Wunder schien.
Die Spanier waren natürlich begierig zu wissen, wer der Herr des Schiffes sei, und
trugen dem Schreiber auf, als ihr"Dolmetscher einige Deutsche, die an Bord gekommen
waren, danach zu fragen. Der Schreiber fragte und gab sofort seinen Landsleuten
Bescheid: ‘Das Schiff gehört einem angesehenen Kaufmann und Keeder dieser Stadt,
der Senor Nichtverstehen 5 ) heißt'. — ‘Wie glücklich und reich muß der Herr sein’,
sagte der Kapitän neidvoll.
Sie gingen an Land und schlenderten durch die Straßen, indem sie die Größe und
Pracht der Häuser betrachteten. Durch ein vergoldetes Gitter gewahrten sie inmitten
dichtbelaubter Bäume und grüner Rasenflächen und Blumenbeete einen der herrlichsten
Paläste, die sie je gesehen hatten, und baten den Schreiber, sich nach dem Be¬
sitzer des Palastes zu erkundigen. Der Schreiber wandte sich an einen Vorüber¬
gehenden, fragte ihn und berichtete seinen Freunden: Tn diesem Palast wohnt der¬
selbe Kaufmann und Reeder, der Schiffsherr Senor Nichtverstehen’.
Sie gingen weiter und staunten über die Menge wohlgekleideter Leute, die zu
Fuß, zu Pferd und im Wagen vorüberzogen, und die zahlreichen hübschen Frauen.
Eine besonders erschien ihnen als ein Wunder von Schönheit und wahrhaft fürstlicher
Hoheit. Sie saß in einem offenen Landauer, den zwei feurige englische Vollblutpferde
zogen. Geblendet von der pompösen Erscheinung, wollten sie wissen, wer dies wäre.
Der Schreiber fragte und drehte sich mit den Worten um: ‘Das ist die Frau des
Besitzers des Schiffes und des Palastes, Senora Nichtverstehen'.
Wenn wir Spanier auch im allgemeinen wenig mißgünstig, vielmehr hochherzig sind,
muß man doch gestehen, daß bei dieser Gelegenheit (und es war genügender Grund
dazu vorhanden) Kapitän, Steuermann und die andern Seeleute vor Neid fast starben.
Um sich darüber zu trösten, daß sie nicht so glücklich wie Senor Nichtverstehen
waren, stiegen sie in zwei elegante Kutschen und fuhren durch die blühenden Um¬
gebungen von Hamburg. Unterwegs wuchs bei allen Bewunderung und Neid. Die
Ursache w’ar eine großartige Weberei. Sie fragten nach dem Fabrikherren und erfuhren
durch ihren Dolmetscher, daß es Senor Niehtverstehen sei.
Dann bewunderten sie eine kostbare Villa, umgeben von Gärten mit großen
Gewächshäusern, wo riesige Palmen, Farne, Orangen-, Zitronen-, Feigenbäume, Orchi-
1) Hebels Werke hsg. von 0. Behaghel 2, 121 nr. 66 ‘Kannitverstan’ = Werke hsg.
von A. Sütterlin 3, 111 nr. 58 = Werke hsg. von E. Keller 3, 142 nr. 46 (zuerst 1809).
2) Fulano Zutano, Mengano y Perengano, Cuentos y chascarillos andaluces tomados
de la boca del vulgo, Madrid 1896 p. 35 ‘El Sr. Niehtverstehen’. In der Verdeutschung
habe ich den Ausdruck hie und da gekürzt.
3) Offenbar lautete die Antwort: ‘Kann nicht verstehen’.
Kleine Mitteilungen.
105
deen und tausend andere ausländische Pflanzen standen und wo in geräumigen Käfigen
viele Tiere und Vögel brüllten, brummten und zwitscherten. Mit Staunen hörten sie,
daß dieser königliche Landsitz gleichfalls Eigentum des Senor Xiehtverstehen sei.
( Das muß ein Potentat sein’, rief der Steuermann. ‘Der viele Millionen besitzt’, fügte
der Kapitän hinzu. ‘Wer doch soviel hätte wie Schor Xiehtversteheiv, riefen die
andern im Chor.
Unter solchen Ausrufen fuhren sie zur Stadt zurück, stiegen aus und schritten
zusammengeschart weiter. Plötzlich füllte sich die Straße mit Leuten. ‘Was gibts?'
fragten sie. Es war ein vornehmes Leichenbegängnis. Der Schreiber wandte sich,
wie gewöhnlich, an eine nahestehende Person, um zu erfahren, wen man zu Grabe
trüge. Sowie er sich erkundigt hatte, drehte er sich zu seinen Gefährten um und
sprach, da er gelehrt und sentenzenreich war und nicht nur des Deutschen, sondern
auch des Lateinischen mächtig, mit vielem Ernst: ‘Sic transit gloriajnundi. Reichtum,
Wollust und Freudenleben muß man nicht beneiden. Dem Senor Xichtverstehen
haben all seine Millionen nichts genützt. Er war ebenso sterblich wie der elendeste
Bettler. Dort in jenem Sarg ist er eingeschlossen, und bald wird er im Grabe liegen
zur Speise für die Würmer.’
Wenn wir in diesem spanischen Schwanke ein bewußtes Streben gewahren,
durch Vermehrung des Personals, Häufung der Reichtümer des unsichtbaren Helden
und Ausmalung der Einzelheiten künstlerisch zu wirken, so führt uns eine unter
den Xegern der afrikanischen Goldküste umlaufende Fassung vom Herrn Minu *)
das deutsche Original in geringer Veränderung vor Augen. Auf welchem Wege
freilich Hebels Geschichte nach Afrika gelangte, bleibt vorläufig dunkel.
Einst geschah es, daß ein armer Akim-Mann aus seinem kleinen Dorf nach Accra,
einer der großen Küstenstädte, wandern mußte.. Der Mann konnte nur die Sprache
seines eignen Dorfes reden, die von den Städtern nicht verstanden wurde. Als er in
die Xähe von Accra kam, traf er eine große Kuhherde. Er war von der großen
Menge überrascht und wunderte sich, wem sie wohl gehören möge. Da er einen Mann
bei ihnen sah, fragte er ihn: ‘Wem gehören diese Kühe?’ Der Mann verstand die
Akimsprache nicht und erwiderte deshalb: “Minü” ich verstehe nicht). Der Wanderer
aber glaubte, Minü sei der Xame des Besitzers der Kühe, und rief: ‘Der Herr Minü
muß sehr reich sein’.
Darauf kam er in die Stadt. Bald sah er ein schönes großes Gebäude und
wunderte sieh, wem dies gehören möge. Der Mann, den er fragte, verstand seine
Frage nicht und antwortete: “Minü”. — ‘Mein Gott, was für ein reicher Kerl muß der
Herr Minü sein’, rief der Akim.
Wie er zu einem noch stattlicheren Hause mit schönen Gärten ringsum kam,
fragte er wieder nach dem Xamen des Eigentümers. Und wieder erfolgte die Antwort :
“Minü”. — ‘Wie reich der Herr Minü ist’, sagte unser Wanderer verwundert.
Alsbald gelangte er an den Strand. Dort erblickte er einen prächtigen Dampfer,
der im Hafen beladen wurde. Überrascht von der großen Ladung, die an Bord
geschafft wurde, erkundigte er sieh bei einem der Umstehenden: ‘Wem gehört dies
schöne Schiff?’ — “Minü”, entgegnete der Mann. ‘Also dem Herrn Minu; das ist der
reichste Mann, von dem ich je hörte’, rief der Akim.
Xaehdem der Akim sein Geschäft abgetan hatte, wandte er sich heimwärts. Als
er eine Straße der Stadt entlang schritt, traf er Leute, die einen Sarg trugen, und
dahinter einen langen Zug schwarz gekleideter Männer. ^ Er fragte nach dem Namen
des Toten und erhielt die gewöhnliche Antwort: ‘‘Minü”. — ‘Ach armer Herr Minu ,
rief der Akim, ‘so mußte er also all seinen Reichtum und schönen Häuser verlassen
und gerade wie ein Bettler sterben! Nun gut, künftig will ich mit meinem ärmlichen
Haus und geringen Vermögen zufrieden sein.’ Und ganz vergnügt kehrte der Akim
in seine Hütte heim.
* *
*
Ich benutze die Gelegenheit, um auf einige andere Xummern in Barkers west¬
afrikanischer Märchensammlung aufmerksam zu machen. Nr. 4 ‘Thunder and Anansi
enthält enthält Tischchendeckdich und Knüppel (Bolte-Polivka, Anmerkungen 1, 300);
10 ‘Why spiders are ahvays found in the Corners of ceilings’ die Teerpuppe (Dähn-
hardt, Natursagen 4, 2G); 19 ‘Ohia and the thieving deer 5 die Tiersprache (Bolte-P.
1, 132) mit tragischem Schluß; 2G "The robber and the old man ist der Advokat
Patelin (Wickram, Werke 3,371 nr. 3G); 30 ‘King Chameleon and the animals’ der
1) W. H. Barker and Cecilia Sinclair, West-afrikan folk-tales collected and arran-
ged, London 1917 p. 95 nr. 17 ‘Honourable Minü’.
10()
Bolte, Max Boehm:
Wettlauf von Hase und Igel (Bolte-P. 3,354); 32 ‘The ungrateful man’ ein altindischer
Stoff (Gesta Romanorum 119. Chauvin 2, 107); 34 The Orannhene who liked
riddles’ das Riitselmärchen (Bolte-P. 1, 200).
Berlin. Johannes Bolte.
Eine afrikanische Freierprobe.
In einem Dorfe lebte ein Mann, der hatte eine sehr schöne Tochter; die war
so lieblich anzusehen, daß die Leute sie ‘Morgensonne’ nannten. Jeder Bursche,
der sie sah, wollte sie freien; insonderheit drei begehrten sie ernstlich zur Frau.
Dem Vater fiel die Wahl unter ihnen schwer, und er sann auf eine List, um fest¬
zustellen, wer von den Dreien der beste Ehegatte für die Tochter wäre. Er gebot
ihr, sich auf ihr Bett zu legen, als ob sie tot wäre, und sandte jedem der drei
Freier Botschaft von ihrem Tode mit der Bitte, zu ihm zu kommen und zu dem
Begräbnis beizusteuern.
Zuerst kam der Bote zu dem ‘weisen Mann’. Als der die Botschaft vernahm,
rief er: ‘Was denkt der Mann? Das Mädchen ist nicht meine Frau. Ich will ge¬
wiß keinen Heller für ihre Bestattung zahlen’.
Darauf kam der Bote zu dem zweiten Freier, dessen Name Witzkopf war.
Dieser sagte sogleich: ‘Nein, mein Lieber. Ich werde keinen Heller für ihre
Begräbniskosten zahlen. Ihr Vater hat mir auch garnicht mitgeteilt, daß sie
krank war’. Er weigerte sich also hinzugehen.
Denker, der dritte Freier, machte sich, sobald er die Botschaft empfangen, auf
den Weg. ‘Natürlich muß ich kommen und um Morgensonne trauern’, sagte er.
‘Wäre sie am Leben geblieben, so wäre sie sicher meine Frau geworden’. Er nahm
also Geld mit sich und wanderte zu ihrem Hause. Als er anlangte, rief ihr Vater:
‘Morgensonne, Morgensonne, komm her! Hier ist dein wahrer Gatte’. Noch am
selben Tage ward die Verlobung gehalten, und bald darauf folgte die Hochzeit.
Denker und seine schöne Frau lebten mit einander sehr glücklich.
Dies Märchen von der Goldküste, dem man als deutsches Gegenstück Uhlands
Gedicht ‘Der Wirtin Töchterlein’ vergleichen mag, ist aufgezeichnet von W. H. Bark er,
dem früheren Gouverneur von Accra (West african folk-tales, London 1917 p. 87
nr. 14 ‘Morning sunrise’). Johannes Bolte.
Eine neue vollständige Sammlung lettischer Volksmärchen.
In der Einleitung zu meiner deutschen Ausgabe lettischer Volksmärchen, die
im vorigen Jahre innerhalb der Sammlung Märchen der Weltliteratur bei E. Diederichs
in Jena erschienen ist, habe ich eingehender von der großen Lerch-Puschkaitisschen
lettischen Märchensammlung berichtet. Ich habe dort die Befürchtung ausgesprochen,
daß dies verdienstvolle Werk ein Torso bleiben würde, da der unermüdliche Sammler
und Herausgeber nicht mehr unter den Lebenden weilt. Diese Erwartung hat sich
bestätigt. Zwar ist das Manuskript des zweiten Teils des siebenten Bandes, das
sich während des Krieges in der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften
befand, jetzt wieder nach Riga zurückgelangt, aber es scheint nicht die Absicht
vorzuliegen, es in Druck zu geben. Denn inzwischen sind die ersten fünf Bände
(richtiger Hefte) im Buchhandel längst vergriffen, auch fehlt es ihnen an syste¬
matischer Anordnung und Übersichtlichkeit, die erst in den letzten Bänden erstrebt
wird. So kann man den Entschluß des Professors P. Schmidt, der an der Rigaer
lettischen Hochschule den Lehrstuhl für Ethnographie bekleidet, eine völlig neue
Ausgabe der bisher gesammelten lettischen Volksmärchen und Sagen nebst Varianten
zu veranstalten, nur dankbar begrüßen. Von diesem Werk, das auf 10—12 Bände
angelegt ist, ist kürzlich der erste Band von 440 Seiten im Rigaer Verlag von
Walter und Rapa erschienen. Er trägt den Titel: Latviesu pasakas un teikas, pec
Ansa Lercha-Puskaisa un citiem avotiem sakopojis un redigejis prof. P. Smits = Die
Volksmärchen und Sagen der Letten nach Hans Lerch-Puschkaitis und anderen
Kleine Mitteilungen.
107
Quellen gesammelt und redigiert von Prof, P. Schmidt. Der Name des Herausgebers,
der methodische Schulung und Belesenheit mit einem ungewöhnlich weiten ethno¬
logischen Horizont verbindet, läßt erwarten, daß seine Sammlung an wissenschaft¬
lichem Wert die seines Vorgängers in den Schatten stellen wird, ohne daß diesem
das Verdienst eines großen, erfolgreichen Sammlers lettischer Volksüberlieferungen
verkürzt werden soll. Da noch eine Reihe von Jahren vergehen dürfte, ehe die
neue Sammlung zur Vollendung gelangt, sei schon jetzt auf ihr Erscheinen hin¬
gewiesen.
Den Märchentexten vorausgeschickt ist eine 134 Seiten umfassende Einführung,
die zunächst den Zweck verfolgt, die Leser mit den Grundsätzen bekannt zu machen,
von denen sich der Herausgeber bei der Auswahl und Anordnung der Märchen
leiten läßt. Er ordnet seinen Stoff ln vier Teile: echte Märchen, Kabeln uud Tier¬
märchen. Schwänke und Sagen. Unter letzteren unterscheidet er: Schöpfungssagen,
mythologische Überlieferungen, Sagen von Haustieren und Pflanzen, Ortssagen, alte
Volksüberlieferungen, endlich solche, die sich auf Träume, Halluzinationen und
Wahrsagungen beziehen. Den Schluß sollen unter verschiedenen Gesichtspunkten
abgefaßte alphabetische Register bilden. Die folgenden Kapitel handeln von Ent¬
stehung und Ursprung der Märchen, von dem Unterschied zwischen Märchen und
Sage, kurz von alle dem, was als Ergebnis der Forschung dem gebildeten Leser
ein tieferes Verständnis der Märchen erschließen soll. Sehr vorsichtig äußert sich
Schmidt zur Frage nach dem Ursprung der bei den Letten verbreiteten Volks¬
märchen. Die meisten dürften von den Nachbarvölkern, in erster Linie den Deutschen
und Russen übernommen sein. Die ersteren waren naturgemäß zugleich die Ver¬
mittler für französisches und italienisches Märchengut, während die morgenländischen
Überlieferungen großenteils über Rußland Eingang fanden. In weit geringerem
Maß scheinen die Letten, wie bei ihrer seßhaften Lebensweise nicht wunder nehmen
kann, die ihnen geläufigen Märchen ihren Nachbarn vermittelt zu haben. Nur den
Litauern und Esten gegenüber scheint dies in größerem Maße der Fall gewesen zu
sein. — In einem letzten Kapitel behandelt der Verfasser die lettischen Märchen¬
erzähler und -aufzeichner. Von den ersteren sind allein bei Lerch-Puschkaitis 144
namentlich aufgeführt, obwohl keineswegs alle Sammler die Namen ihrer Gewährs¬
männer aufgezeichnet haben. Strenges Gericht übt Schmidt, was besonderen Dank
verdient, an den Märchenerzählern, die besonders in Erfindung angeblich lettischer
Gottheiten ihrer Phantasie die Zügel schießen ließen. Schon in seiner lettischen
Mythologie (Latviesu mitologija, Moskau 1918) hat er den dankenswerten Versuch
gemacht, die sicher begründeten mythologischen Überlieferungen der Letten, soweit
sie heute noch faßbar sind, gegenüber willkürlichen Erfindungen neuerer Zeit heraus¬
zustellen. Dabei sei bemerkt, daß die mythologische Ausbeute in den Volks¬
märchen äußerst gering ist. Auch gegen den Mißbrauch kämpft Schmidt, rein
märchenhafte Überlieferungen zum Rang geschichtlicher Sagen zu erheben, indem
der Erzähler die Begebenheiten willkürlich lokalisiert oder die reine volkstümliche
Überlieferung durch patriotische Ressentiments verfälscht. Solche lagen den bäuer¬
lichen Märchenerzählern, soweit ich sehe, fern, während freilich die Volkslieder,
unter dem harten Druck der Leibeigenschaft entstanden, an Anspielungen auf die
fremden Gewalthaber reich sind.
Der erste Band der Sammlung beschränkt sich auf Erzählungen (im weitesten
Sinne) von Tieren und Bilanzen. Viele von ihnen, einige Tierfabeln und Deutungen
von Vogelstimmen, umfassen nur wenige Zeilen. Es sind, einschließlich der Varianten,
505 Nummern. Unter ihnen sind verhältnismäßig zahlreiche, etwa 300, die in der
L.-P.-Sammlung, soweit sie im Druck erschienen ist, nicht Vorkommen. Diese sind
z. T. dem oben erwähnten Manuskript zum Bande VII b entnommen, zum größeren
Teil anderen bereits gedruckten oder handschriftlichen Sammlungen, wobei jedes¬
mal die Quelle und, soweit es möglich ist, der Erzähler und Herkunftsort genannt
sind. Wo Zweifel bestehen, ob es sich um eine echte volkstümliche Überlieferung
handelt oder um literarische Einflüsse, da ist dies in einer Fußnote erwähnt. Hier
dürfte die Kritik, wie sich der Herausgeber wohl bewußt ist, noch einige Ansatz¬
punkte finden, indem manches aufgenommene Stück m. E. besser zu streichen ge¬
wesen wäre. Doch ist zuzugeben, daß sich im Einzelfall die Entscheidung, wieweit
eine alte, unverfälschte Volksüberlieferung vorliegt oder fremdes Gut, das erst in
neuerer Zeit durch Vermittlung der Schule ins Volk gedrungen ist und sich bei
108
Max Boehm, Krohn:
diesem sozusagen Heimatrecht erworben hat, ungemein schwierig gestaltet. So ist
der Inhalt der Sienderschcn Sammlung bei den Letten noch heute recht populär,
und doch hat Stender, wie A. Behrskaln erst kürzlich in dieser Zeitschrilt (1924
S. 95) im einzelnen nachgcwicscn hat. Äsopische, Gcllcrtsche, Hagedornsche Fabeln
und Erzählungen ins Lettische übersetzt und wohl nur in seltenen Ausnahmen
lettische Überlieferungen aufgenommen. Aber auch nach Stender ist der Inhalt ver¬
breiteter Schullesebüchcr in weitem Umfang vom Volk angeeignet und den Sammlern
gutgläubig als lettisches Gut in die Feder diktiert worden. So hat Pastor Schatz
vor 80 Jahren, Stenders Vorbild folgend, zu Schulzwccken deutsche Fabeln wie die
von den beiden Ziegen, die auf dem schmalen Steg in Streit geraten, oder von der
klugen Maus, die gleichwohl der Falle nicht entgeht, ins Lettische übertragen, wo¬
durch sie Gemeingut des Volkes geworden sind. Auch die Rückertsche Erzählung
vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt, ist in lettischer Übertragung des
bekannten Bischofs Ulmann durch das genannte Lesebuch ins Volk gedrungen und
von Schmidt seiner Sammlung einverleibt worden. Hier schiene mir eine größere
Strenge in der Ausmerzung fremder Bestandteile erwünscht, der Reichtum an altem,
echtem Volksgut bleibt auch dann groß genug.
Zum Schluß seien ein paar Fälle erwähnt, in denen der Herausg. durch mehr
oder weniger überzeugende Erklärung lettischer Märchennamen die Einwanderung
aus Deutschland bezw. Rußland wahrscheinlich macht. Eine Variation des Schwan-
kleb-an-Märchens (KHM 64, L.-P. I, 92) ist im Lettischen bekannt unter dem Namen
Impamps. Er deckt sich, da den Letten der h-Laut fehlt, mit dem deutschen himp-
hamp, der bei den Dithmarsen, Friesen und Pommern begegnet (s. Bolte-P. II, 41,
42). — Der König Drosselbart heißt in einer lettischen Fassung in wörtlicher Über¬
setzung Stradabärda, in einer anderen (L-P. I, 5) unverständlich Brusubärda, welche
Form Schmidt mit der deutschen Bröselbart (s. B.-P. I, 144, Fußnote) in Beziehung
bringt. Dagegen weist der Name Nekte im Märchen von dem um sein schönes
Weib Beneideten (Aarne 465 A) auf russischen Einfluß. Die dritte Aufgabe, die
der Gatte lösen soll, besteht in der Herbeischaffung des Nekte, worin unzweifelhaft
eine Verstümmelung des russischen njikto = niemand zu erkennen ist.
Aus obigem Bericht ist ersichtlich, daß man der Fortsetzung der groß angelegten
Arbeit Schmidts unter Anerkennung des bisher Gebotenen mit Interesse entgegen¬
sehen darf.
Berlin-Friedenau, Max Boehm.
Die Wunderfeder.
In seiner Sammlung lappischen Aberglaubens (Kristiania Etnografiske Museums
Skrifter I, 2, S. 73) hat J. Qvigstad aus Kvänangen in Finnmarken folgenden
Volksglauben mitgeteilt:
Von alter Zeit her ist unter den Lappen die Sage erzählt worden, daß alle
Raubvögel eine Feder haben, die sie immer nach dem Orte führt, wo Essen oder
Beute zu finden ist, wie weit weg der Ort auch sei. Diese Feder wird hevve dolgge
genannt. Wenn du einen Raben tötest und, wührend der Wind weht, rupfest, fahren
alle Federn mit dem Winde, nur eine Feder fliegt gegen den Wind. Das ist die
leevve- Feder. Gib acht, daß du sie verwahrst, und so lange du diese Feder bei dir
hast, folgt dir das Glück, wo du auch hingehst.
Dieselbe abergläubische Vorstellung ist in Schwedisch - Lappland bezeugt.
S. Drake (Västerbottenslapparna under förra hälften av 1800-talet S. 346) be¬
richtet aus Lule: Leven-tälki ist eine Feder, die dem Adler, Raben, Kuckuck
gehört und an der inneren Seite unter dem Flügel verborgen ist; beim letzten
Atemzuge des Vogels fährt sie auf. Da gilt es eilig die Feder zu nehmen, als
teuerstes Gut zu verwahren, so lange man lebt, und seinen Kindern als Erbschaft zu
hinterlassen; ihr Besitz bringt Glück mit sich. S. Kolmodin (Folktro, Seder och
sägner frän Pite Lappmark S. 7) beschreibt leve-dälke als eine weiße Feder unter
dem Kropfe des Raben; sie soll genommen werden, während der Vogel noch lebt,
um Glück zu erhalten.
Kleine Mitteilungen.
109
Bei den finnischen Lappen in Enontekiö hat T. Itkonen noch folgende Er¬
klärung angetroffen: lävve genauer ( leäuvi)-tolgi bezeichnet eine weiße, vom toten
Raben gegen den Wind gefallene Feder, die ihren Finder reich an allerhand Eß-
waren macht.
Auch bei den Finnen ist der Glaube an eine weiße Feder des Raben sehr
verbreitet. Sie ist einzig und befindet sich unter dem Kropfe oder dem linken
Flügel. Beim Sterben versucht der Rabe sie herauszuzupfen und wegzuwerfen, in
die°Haut einzuziehen oder zu verschlucken. Sonst kann man diese finden, wenn
der Rabe bei der Mauser seine Federn in einen Fluß geworfen hat; sie schwimmt
nämlich gegen den Strom oder haftet an einer Stelle. Der Besitzer gewinnt Glück,
Liebe oder Geld ohne Ende, kann Schlösser öffnen, sich oder einen Gegenstand
unsichtbar machen, versteht die Sprache der Raben, weiß die Witterung oder alles
-Geschehende voraus usw. An die linnischen schließt sich noch eine Angabe^ in
T. Wiedeinann’s Werk ‘Aus dem inneren und äußeren Leben der Ehsten’ (S. 453),
nuf die Qvigstad hinweist. Der Rabe hat eine einzige weiße Feder im Flügel.
Wer sie bekommen kann, erlangt damit aller Welt Weisheit, und was er damit
schreibt, hat die Kraft, alle zu überzeugen.
Eine besondere Bezeichnung, die der lappischen entsprechen würde, hat sich
im finnischen Aberglauben nicht erhalten. Aber in den finnischen Runenliedern
finden wir den ersten Teil des lappischen Kompositums wieder (der zweite Teil
dolgge , tolgi , fi. sulka bedeutet ‘Feder’).
In den archangelschen Hochzeitsliedern hat das Wort die lorm lieve und wird
als Parallelwort zu kaarne , ‘Rabe’ gebraucht (z. B. no. 1591 in \ ienan läänin runot):
Der Schwiegersohn sitzt auf schwarzem Hengst,
wie auf einem fressenden Wolf,
auf einem tragenden Raben,
auf einem fliegenden lieve.
Eine andere Form lievo finden wir in der Beschreibung des archangelschen
Sampoliedes, wie die Wirtin von Pohjola (urspr. Vuojola, ‘Gotland’), nachdem sie
ihr Schiff verloren, sich in einen Vogel verwandelt (z. B. nr. 58): nouxi lievon len-
timille , ‘stieg auf die Flugmittel des lievo'. Die unmittelbar folgende Parallelzeile:
‘erhob sich auf die Flügel des Finken’ weist darauf hin, daß lievo mißverstanden
sein muß und zwar als leivo, ‘Lerche’, die mit dem unbekannten Worte in den
Varianten abwechselt. Eine zweite Parallclzeile bei dem besten Sänger des archan¬
gelschen Kareliens (nr. 54, vgl. 469): ‘auf die Spitzen der Flügelknochen des Adlers
führt uns jedoch zu dem ursprünglichen Zusammenhang.
Schließlich bietet uns eine Beschwörung aus der alten finnischen Kolonie in
Wermland an der Grenze von Schweden und Norwegen das Verspaar (Gottlunds
handschr. Samml. nr. 792): (das Übel möge) ‘der blaue Fink schnell wegführen, die
schwarze Lerche fliegen lassen, d. h. auf den Flügeln tragen’ (muslan leivon lennä -
tellä). Die schwarze Farbe der Lerche bezeugt, daß auch hier eine Verdrehung
des unverständlich gewordenen lievo vorliegt.
Fi. lievo muß somit einen starken, schwarzen Vogel, der sowohl dem Raben
als dem Adler im Parallelverse entsprechen kann, bezeichnet haben. Der mit der
hrvve-Feder verbundene lappische Aberglaube bezieht sich auf alle Raubvögel ,
unter denen Adler und besonders Rabe genannt werden.
Um zu bestimmen, welchem Vogel die wunderbare Feder ursprünglich zuge¬
teilt worden ist, müßten weitere Belege nicht nur aus dem Norden, sondern auch
von den Abend- und Morgenländern gesammelt werden, ln den italienischen
Varianten des Themas vom augenkranken König sucht man für ihn eine heilende
Greifenfeder (Lutz Mackensen, Der singende Knochen, FF Comm.49, 125. 156). 1 )
Für die Sprachforscher wiederum bietet die Etymologie des lappisch-fmnischen
Wortes eine nicht uninteressante Aufgabe.
x ) Vgl. Bolte-Polivka, Märchen-Anmerkungen 1, 265.282. 3,267 (eine zauber¬
kräftige Drachenfeder holen). 3, 18. 33 (der Held muß den Goldvogel, dessen leder
er vom Boden aufgehoben hat, herbeischaffen.)
Helsingfors.
Kaarle Krohn.
no
Kügler:
Bemerkungen zu neueren Volksliedern.
].
ln seinem oben 34, 172 angezeigten Buche Unser geistliches Volkslied 1 2 * 1924,
172 sagt Hermann Petrich, das Lied Am Weihnachtsbaum die Lichter
brennen (von Hermann Kletke), sei „wahrscheinlich schon 1841 gedichtet“ worden.
Als ersten Druck führt er die ‘Kinderlieder. Ein Festgesehenk für frohe und fromme
Kinder 1 1846 an. Das Lied ist erschienen schon in der Zeitschrift ‘Preußischer
Volksfrennd 1 von C. G. von Puttkammer, Jhrg. 4 (1839), S. 709 = 24. Dezember.
Doch fehlt hier die in der Buchausgabe enthaltene 2. Strophe (Die Kinder stehn mit
hellen Blicken), und auch die 1. Strophe hat abweichenden Wortlaut. Ich setze
sie her:
Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen,
Der Zweig trägt manchen süßen Schatz,
0 welche Gaben, kaum zu nennen,
Bedecken reichlich Platz an Platz.
2 .
Hermann Kletkes Gedicht Siehst du im Abend die Wolken ziehn?
Siehst du die Spitzen der Berge glühn? ist nach Wustmann, Als der Großvater
die Großmutter nahm 4 1905, S. 506 Anm. in der ersten Sammlung Berlin 1852
erschienen. So auch Hoffmann-Prahl. Aber dies ist tatsächlich die 2. Ausgabe.
Die erste erschien schon Breslau 1836: dort steht es S. 110. Puttkammer merkt
im Preußischen Volksfreund (siehe Nr. 1) Nr. 128 vom 15. September 1839 dazu an,
es habe einen solchen Beifall gefunden, daß der Musik-Verein zu Mannheim für die
zwei besten Kompositionen dieses Liedes (Singstimme mit Klavierbegleitung) Preise
aussetzte. Deshalb drucke er es noch einmal ab. Im ganzen seien 213 Kompo¬
sitionen zur Preisbewerbung eingegangen, und außer den beiden preisgekrönten
Kompositionen seien noch fünfzig andere gedruckt worden. [Loewe komponierte
das Lied 1837; ygl. seine Balladen hrg. von M. Kunze 15, 83.]
3.
Der erste Druck des Liedes „Was stell’n sich die Soldaten auf 44 von
F. Brunold, vertont von Wilhelm Heiser op.30 ist bisher nicht ermitteltworden. Der
Musikalienverlag von Schlesinger, der die Vertonung herausbrachte, teilte mir mit, sie
sei 1852 erschienen. Ein ehemaliger Schüler Brunolds, Herr Scharlipp in Berlin N 65,
machte mich auf die Zeitschrift Über Land und Meer 34. Jahrgang, Bd. 67, Nr. 24,
S. 504 (1892) aufmerksam, wo ein Aufsatz zum 50 jährigen Jubiläum des Liedes
steht. Dort wird als Erstdruck der „Preußische Volksfreund 44 von Puttkammer
angegeben. Aber der Jahrgang 1842 auf der Staatsbibi. Berlin [Ztg. 587] enthält das
Gedicht nicht, auch nicht die vorhergehenden oder nachfolgenden. Möglich, daß
einige Seiten fehlen. In seinen ‘Literarischen Erinnerungen 1 1875, Bd. 2, S. 15—17
(2. Aufl. 1881 am selben Orte) erzählt er, Heiser habe das Gedicht in Stralsund
kennen lernen. Ich vermochte das Jahr dieses Aufenthalts nicht festzustellen^
Übrigens ist das Lied auch noch von K. Petrie und von Th. Kahle vertont worden
4.
Johannes Bolte hat oben 35, 36—37 (Nr. 66) den Spott auf Neurode im Eulen¬
gebirge mitgeteilt und Parallelen dazu verzeichnet. Ich darf dazu die National¬
hymne von Tempelhof (Vorort von Berlin) mitteilen, die Löschhorn in der
Zs. f. d. Dtsch. Unterr. 13 (1899), S. 274 schon gedruckt hat (Strophe 1—4):
1. Was hab’n wir denn for’n Schuster
Bei uns in Tempelhof?
Am Dage flickt er Stiebei und Schuh,
Det Nachts klaut er das Leder zu.
Oho, oho, bei uns in Tempelhof.
2. Was hab’n wir denn for’n Tischler
Bei uns in Tempelhof?
Der Mann der is zum Sterben zu dumm,
Statt’s Leim nimmt er Petroleum.
Oho, oho, bei uns in Tempelhof.
3. Was hab’n wir denn for’n Schlächter
Bei uns in Tempelhof?
Der Kerl der is een Hauptgenie,
Macht Kalbskotelettes von Hottehüh.
Oho, oho, bei uns in Tempelhof.
4. Was hab’n wir for’ne Feuerwehr
Bei uns in Tempelhof?
Die Feuerwehr kommt anjerennt
Und fragt: „Wo hat et denn jebrennt?“
Oho, oho, bei uns in Tempelhof.
Kleine Mitteilungen.
111
Ich füge noch folgende Strophen hinzu (Yolksmund vom Wedding):
5. Wat ham wa denn for’n Küsta
Bei uns in Tempelhof'?
Det Sonntags is er Organist,
ln de Woche fährt er Pferdemist.
G. Wat ham wa denn for’n Fleescher
Bei uns in Tempelhof?
Der Fleescher is 'n dover Hund,
Er füllt die Wurscht mit Kaffeejrund.
7. Wat ham wa for ’ne Kirche
Bei uns in Tempelhof?
Det Dach, det is mit Stroh jedeckt,
Die Mäuse spielen drin Versteck.
8. Wat ham wa for ’ne Orjel
Bei uns in Tempelhof?
'Xe Orjel, die is jarnich da,
Da spielt eener Mundharmonika.
Das Lied ist noch heute bekannt und enthält auch einige Strophen, die in dem
auf Xeurode Vorkommen; einige andere entziehen sich wegen des äußerst^ zotigen
Inhalts der Mitteilung. Die Melodie (zu vergleichen Erk-Böhme 3, 309 Nr. 1713)
enthält nach Löschhorn eine geschickte Auswahl aus der modernen Weise „Tarara
Bumdia“ und dem Volkslied von „Herrn Schmidt“ (hierzu Bolte, Mitt. des Ver.
f. d. Gesch. Berlins 1925, 72—74 und oben S. 60). „Die Ettiswciler National¬
hymne“ teilt Ign-Kronen berg in der Schweizerischen Rundschau (Stans, II. von
Matt) 1924, S. 182—183 mit. Dazu Nachtrag ebd. S. 249. Da die Zs. in Deutschland
nur auf der Deutschen Bücherei in Lpz. vorhanden ist, setze ich die kurze Strophe her:
's isch schad’, 's isch schad’.
’s isch schad' um d’ Ettiswiler.
Si hend, sie hend,
Si hend gar großi Müler!
O Garibaldi,
du treue Seele!
chumm zahl-mcr au e Halbi,
de isch-mer wieder wohl!
In den 60ger und 70ger Jahren wurde sie in Münster (Luzern) viel gesungen.
„Treu“ bedeutet in der Mundart dort „freigebig, large“. Sie wird heute auf viele
andere Orte mit der Endung -wil gesungen. Ohne den Zusatz auf Garibaldi ist das
Spottlied heute in Basel bekannt, wo es auf die Reigoldswiler gesungen wird. Sie
(juittieren :
’s isch schad’, ’s isch schad',
’s isch schad’ um d’ Basler Here,
si hei, si hei,
si hei so großi Schnere.
j.
Zu Joh. Bolte, Der Bauer im deutschen Liede (Acta Germanica I, 3. 1890 r
nebst Nachträgen oben 28, 70—7ö) setze ich einen Nachtrag her, der als Kunstlied
im Volksmunde weitergelebt hat:
Originaldiclitung.
Lied eines Bauernmädchens.
Ich bin ein Bauernmädchen
Und liebe meinen Stand
Und bin von meinem Rädchen
Nie nach Berlin gerannt.
Sein Glanz soll mich nicht rühren,
So viel er Reiz auch hat;
Die Unschuld nur verlieren
Kann man in dieser Stadt.
Sich dorten zu vermieten
Eilt manche Dirne hin;
Ja, schön werd’ ich mich hüten,
Verlust ist nicht Gewinn,
Zwar gibt’s dort seidne Kleider;
Doch für den Firlefanz —
Was opfern sie? Ach leider!
0 Unschuld, deinen Kranz.
Und kommt dann eine wieder,
Wie blaß ist ihr Gesicht!
Wie trocken alle Glieder
Von Schwindsucht und der Gicht!
Was kann sie hier erwerben?
Verachtung nur und Spott;
Verlassen wird sie sterben
Von Menschen und von Gott.
K. W. Meyer.
112
Fritz Boehm:
Gemeinnütziges Volksblatt, hg. von der Märkischen Ökonomischen Gesellschaft zu
Potsdam. Mit einer Vorrede begleitet von Friedr. Eberh. von Rochow auf Reckan.
3. Jhrg. (1800), S. 74—75. [Berlin Ou 12668.]
Im Volks munde.
Ich bin ein Bauernmädchen
Aus schlichtem Bauernstand
Und bin in meinem Leben
Nicht nach Berlin gerannt.
Ich werd 1 es nie probieren
ln dieser großen Stadt,
Weil *n Mädchen zum Verlieren
Nur seine Unschuld hat.
Für alle schönen Kleider
Und Flitterfirlefanz
Da Opfer ich die Ehre
Und meinen Unschuldskranz.
Das Folgende ist mir entfallen. Ich hörte es, als ich in Niederfinow, Kr. Nieder¬
barnim, die Dorfschule besuchte von einem Mädchen, einer Klassenkameradin, die
mich wegen meiner Herkunft aus Berlin oft neckte. Die Los-von-Berlin-Bewegung
hatte auch unter den Dorfkindern starke Anhänger.
Berlin. Hermann Kugler.
Ein Bachscher Kantatentext im Yolksmunde.
Der Text zu Johann Sebastian Bachs wohlbekannter ^Kaffee-Kantate" (Nr. 211:
„Schweigt stille, plaudert nicht“. Ausgabe der Bach-Gesellschaft XXIX 141 f.)
stammt, wie die meisten Bachschen Kantatentexte, von dem Leipziger Poetaster
Picander (Christian Friedrich Henrici. geb. 1700; vergl. Spitta, Bach 2, I69f.) Er
findet sich abgedruckt im dritten Teil der ^Ernst-Schertzhafften und Satyrischen
Gedichte“, Leipzig 1732, S. 564 Nr. XIV mit der Überschrift ‘Ueber den Caffe.
Cantata.’ Wir geben ihn unten in der Picanderschen Fassung wieder. Das Schluß-
recitativ und der Schlußchor (von uns eingeklammert) ist vermutlich von Bach selbst
hinzugedichtet, der sich bekanntlich seinen Texten gegenüber häufig gewisse Frei¬
heiten gestattete und im vorliegenden Falle durch die überraschende Sehlußpointe
dem Ganzen erst eigentlich die rechte schelmische Wirkung verliehen hat. Zur
Schlußstrophe mit dem formelhaften Anfang ‘Die Katze läßt das Mausen nicht'
vgl. Friedlaender, Das dt. Lied im 18. Jahrh. 2, 13. Anspielungen auf die in Leipzig,
wo bereits im Jahre 1694 das erste Kaffeehaus eröffnet wurde (s. H. Weiter, Essai
sur Fhistoire du cafe, Paris 1868, p. 105), offenbar besonders stark verbreitete Vor¬
liebe für das neumodische Getränk finden sich in Picanders Gedichten noch öfters-
So enthält der erste Band seiner Gedichte (1722) eine längere „Xouvelle“ über dieses
Thema; vergl. außerdem 2, 264. 265; 3, 271. 392. 475.
[Recitativo:]
Schweigt stille, plaudert nicht,
Und höret, was ietzund geschieht:
Da kömmt Herr Schlendrian
Mit seiner Tochter, Liessgen, her;
Er brummt ja! wie ein Zeidel-Bär,
Hört selber, was sie ihm gethan!
Ana (Schlendrian):
Hat man nicht mit seinen Kindern
Hundert tausend Hudeley.
Was ich immer alle Tage
Meiner Tochter, Liessgen sage,
Gehet ohne Frucht vorbey.
[Recitativo (Schlendrian):]
Du böses Kind, du loses Mädgen,
Ach! wenn erlang ich meinen Zweck,
Tu mir den Coffe weg.
Liessgen:
Herr Vater, seyd doch nicht so scharff,
Wenn ich des Tages nicht dreymahl
Mein Schälgen Coffe trincken darf,
So werd’ ich ja zu meiner Quaal
Wie ein verdorrtes Ziegen-Bräthgen.
Ana (Liessgen):
Ey! wie schmeckt der Coffe süsse,
Lieblicher als tausend Küsse,
Milder als Muscaten-Wein!
Coffe, Coffe muss ich haben;
Und wenn iemand mich will laben,
Ach so schenckt mir Coffe ein.
[Recitativo (Schl.):]
Wenn du mir nicht den Coffe last,
So solst du auf kein Hochzeit-Fest,
Auch nicht spatzieren gehn.
Liessgen:
Ach ja! nur lasset mir den Coffe da!
Schl.: Da hab’ ich nun den kleinen Affen!
Ich will dir keinen Fischbein-Rock
Nach ietzger Weite schaffen.
Kleine Mitteilungen.
113
L Ich kan mich leicht darzu verstehn! Schl: Ich schwere, dass es nicht geschieht.
Schl: Du solst nicht an das Fenster treten L .:
Und keinen sehn vorüber gehn.
L.: Auch dieses; doch seid nur gebethen
Und lasset mir den Coffe stehn!
Schl.: Du solst aucli nicht von meiner Hand
Ein silbern, oder goldnes Band
Auf deine Haube kriegen.
L.: Ja! ja! nur last mir mein Vergnügen.
Schl: Du loses Liessgen du.
So gibst du mir denn alles zu.
Ana (Schl.):
Mädgen die von harten Sinnen.
Sind nicht leichte zu gewinnen.
Doch trifft man den rechten Orth,
0! so kömmt man glücklich fort!
[Ree.:] Nun folge, was dein Vater spricht.
L.: In allem, nur den Coffe nicht.
Schl: Wohlan! so must du dichbequehmen,
Auch niemahls einen Mann zu nehmen.
L.: Ach! ja, Herr Vater einen Mann!
Biss ich den Caffe lassen kan?
Nun! Caffe, bleib nur immer liegen;
Herr Vater hört, ich trincke keinen
nicht!
Schl: So solst du endlich einen kriegen.
Ana (L.): Heute noch,
Lieber Vater, thut es doch.
Ach! ein Mann!
Warlich dieser steht mir an.
Wenn es sich doch balde fügte,
Dass ich endlich vor Caffe,
Eh ich noch zu Bette geh,
Einen wackern Liebsten kriegte.
[Ree.: Nun geht und sucht der alte
Schlendrian,
Wie er vor seine Tochter Liessgen
Bald einen Mann verschaffen kann.
Doch Liessgen streuet heimlich aus,
Kein Freier kommt mir in das Haus,
Er hab es mir denn selbst versprochen
Und rück’ es auch der Ehestiftung ein,
Dass mir erlaubet möge sein,
Den Coffe, wenn ich will, zu kochen!
Chor: Die Katze lässt das Mausen nicht,
Die Jungfern bleiben Coffe-Schwestern.
Die Mutter liebt den Coffe-Brauch,
Die Grossmama trank solchen auch.
Wer will nun auf die Töchter lästern?]
Eine auffallende volkstümliche Variante dieses kunstmäßigen Textes verzeichnet
Frischbier, Preußische Volksreime und Volksspielc (Altpreußische Monatsschrift -J
1802, 34G Nr. 323):
Mädchen, höre diesen Zweck:
Ich sag dir, lass’ den Kaffee weg!
Wirst du’s dir nicht lassen sagen,
Wirst du es noch oft beklagen,
Dass ich dir auf deine Haub’
Keinen Silberband erlaub’.
Was frag’ ich nach dem Silberband,
Bleibt der Kaffee nur im Land!
Kaffee, Kaffee, mein Vergnügen,
Kaffee kann mein Herz besiegen,
• Was frag' ich nach dem Silberband,
Bleibt der Kaffee nur im Land!
Hat der Kaffee noch nicht Ruh’,
Ei, so weiss ich, was ich thu’.
Da du den Kaffee immer liebest
Und die Mutter oft betrübest,
Sollst du haben keinen Mann,
Du versoff ne Kaffeekann’.
Ach Mamachen, einen Mann,
Ich bitte, was ich bitten kann!
Kaffee, Kaffee, weich’ von mir,
Liebes Männchen, komm’ zu mir!
Die Zusammengehörigkeit beider Texte dürfte außer allem Zweifel stehn. Die
Ersetzung des Vaters durch die Mutter geschah offenbar in Anlehnung an das weit¬
verbreitete Motiv in Liedern, wie: „Spinn, spinn, meine liebe Tochter: Ich kauf’
dir a Paar Schuh 4 ' u. dergl. (Erk-Böhme 2, 640 Nr. 838a f.; Frischbier, Hundert
ostpr. Volkslieder (1893) S. 5Sf.). Nur Vermutungen sind darüber zulässig, wie
der Text aus Leipzig nach Ostpreußen gelangt ist, wo ihn Frischbier in dem Dorfe
Dönhoffstädt aufzeichnete, zumal er über Alter und etwaige weitere Verbreitui g leider
keine Angaben gemacht hat Interessant ist jedenfalls, daß gerade diese Kantate
noch zu Bachs Lebzeiten weit über Leipzigs Grenzen hinaus bekannt geworden ist,
worüber die bei Spitta 2, 473 mitgeteilte Ankündigung der Aufführung durch einen
„fremden Musieus* in Frankfurt a. M. im Jahre 1739 Aufschluß gibt. Ist auch hier
Bach als Komponist nicht genannt, so läßt doch der in ihr ausdrücklich genannte
„Schlendrian mit seiner Tochter Liessgen* keinen Zweifel darüber aufkommen, daß
es sich um das Bachsehe Werk handelt. Über andere Pieandersche Dichtungen
im Volksmunde s. John Meier, Kunstlieder S. 12 nr. 75. S. 43 nr. 265.
Berlin-Pankow. Fritz Boehm.
114
Fritz Boehm:
Zur Ptiego der Volkskunde im Universitätsunterriebt.
Angesichts der Bestrebungen, die Volkskunde als Prüfungsfach einzuführen
und volkskundliche Lehrstühle an den Universitäten zu errichten (vergl. den Bericht
über die Stuttgarter Tagung des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde, unten
S. 11C>), ist es vielleicht von Interesse, einige Angaben über die Vertretung unserer
'Wissenschaft an deutschen und außerdentsehen Hochschulen zusammenzustellen.
Als Quelle diente dafür Jahrgang 1924 der ‘Minerva, Handbuch für die gelehrte
Welt’ und der Aschersonsche Universitätskalender für das Wintersemester 1924/25.
Durch eine hauptamtliche, selbständige Professur ist die Volkskunde in Deutsch¬
land nur an der Hamburger Universität vertreten, wo ein ordentlicher Lehrstuhl
für deutsche Altertums- und Volkskunde besteht, in Cöln lehrt ein Honorarprofessor
neben deutscher Sprach- und Kulturgeschichte rheinische Volkskunde. In Bonn
ist eine Abteilung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der
Mundartenforsehung und Volkskunde gewidmet, die unter der Leitung eines Ordinarius
für deutsche und niederländische Philologie steht, in Frankfurt ist ein Privatdozent
für deutsche Philologie und V olkskunde habilitiert. Da gelegentlich auch andere
Universitätslehrer, die für volkskundliche Probleme interessiert sind, Vorlesungen
oder Übungen über Volkskunde oder deren Grenzgebiete abhalten, ist die Zahl
dieser etwas größer als die der oben aufgezählten Dozenten. So wurden im Winter¬
semester 1924/25 an 9 deutschen Universitäten von 14 Dozenten (darunter 7 ordent¬
lichen Professoren) 17 Vorlesungen und Übungen veranstaltet, von denen freilich
mindestens 7 vorwiegend sprachlich-philologische Gegenstände behandelten. Was
die technischen Hochschulen betrifft, so ist u. W. die Volkskunde nur durch die
von Professor Mielke an der Charlottenburger Hochschule versehene Professur
für Siedlungswesen faktisch vertreten.
So wenig diese Zahlen dem heutigen, durch die Richtlinien für den Unterricht
an den höheren Schulen wesentlich verstärkten Bedürfnis entsprechen, so erweisen
sie doch andererseits, daß es an geeigneten Universitätslehrern nicht fehlt und daß
daher die vom Verbände geforderte Erteilung besonderer Lehraufträge wohl durch¬
führbar ist. Ohne Zweifel wäre schon heute die Anzahl der volkskundlichen Vor¬
lesungen an den Universitäten größer, wenn die Volkskunde in den Prüfungsordnungen
für das höhere Lehramt genügend berücksichtigt wäre. Denn es ist eine zwar
bedauerliche, aber alte und nicht wegzuleugnende Erfahrung, daß im allgemeinen
nur solche Vorlesungen eine einigermaßen lohnende Zahl von Zuhörern finden, die
als Vorbereitung auf ein Prüfungsfach dienen. Es bedarf keines besonderen
Beweises für die Tatsache, daß volkskundliche UuiversitätsVorlesungen, zumal
solche allgemeineren Charakters, nicht nur den Studierenden der Philologie
von größtem Nutzen sind. Denn auch der Beruf des Geistlichen, des Arztes und
des Juristen verlangt, wie oft dargestellt, gründliche Kenntnisse vom Glauben, Fühlen
und Denken, von Sitte, Brauch und Überlieferung des Volkes, wenn er dem Vor¬
wurf der Lebensferne und Weltfremdheit entgehen will.
In anderen Ländern Europas ist die Forderung der Einführung der Volkskunde
als Universitätsdisciplin und Prüfungsfach bereits seit längerer Zeit erfüllt:
Die finnische Universität Helsingfors (etwa 3000 Hörer) zählt nicht weniger
als sechs Lehrer für volkskundliche Gebiete, vor allem Volksdichtung, (2 Ordinarien,
2 Extraordinarien, 2 Privatdozenten), Prüfungsfach ist hier die Volkskunde seit dem
Jahre 1905, in Schweden lesen 3 Universitätslehrer (in Lund einer, in Upsala zwei)
über Volkskunde, die dort seit 1913 Prüfungsfach ist, die kleine schwedische Uni¬
versität Äbo in Finnland (etwa 150 Hörer) hat einen Dozenten für nordische Kultur¬
geschichte und Volkskunde, in Oslo ist die Volkskunde durch zwei Universitätslehrer
vertreten. Die estnische Universität Tartu (Dorpat) hat zwei Ordinarien für estnische
Volkskunde und Volksliteratur. Hinter den in diesem Zusammenhänge an erster
Stelle zu nennenden nordischen Ländern verdient die Pflege der Volkskunde an
Universitäten von Ländern slawischer Zunge Erwähnung. Die Regierung der
Tschechoslowakei hat im Jahre 1920 an der deutschen Universität Prag eine ordentliche
Professur für deutsche Volkskunde und Philologie eingerichtet, daneben haben sich
dort zwei Privatdozenten für deutsche Volkskunde und deutsche Heimatforschung
niedergelassen, ein Ordinarius vertritt die tschechische Volkskunde an der Prager
tschechischen Universität, das gleiche gilt für Preßburg und in Bulgarien für Sofia.
Kleine Mitteilungen.
115
Von anderen Ländern seien noch erwähnt Rumänien (Czernowitz und Klausenburg)
Ungarn (3 Dozenten in Budapest) Rußland (3 Dozenten an der Universität II in
Moskau). Von Universitäten im deutschen Sprachgebiet des Auslandes zählt Basel
einen Ordinarius und einen Privatdozenten, Graz einen Piivatdozenten für Volks¬
kunde zu ihrem Lehrkörper. — Ln den europäischen Ländern romanischer Zunge
ist die Volkskunde als solche, wie bekannt, im Universitätsunterricht leider so gut
wie garnicht vertreten.
Berlin-Pankow. Eritz Boehm.
Abgeordneten-Versammlung des Verbandes deutscher Vereine
für Volkskunde in Stuttgart.
Unter dem Vorsitz des Herrn Professor Dr. John Meier (Freiburg) versammel¬
ten sich vom *25. bis 27. September ungefähr 30 Vertreter volkskundlicher Vereine
und verwandter Organisationen in der Hauptstadt Württembergs, deren anmutiges
Bild durch die dort veranstaltete Ausstellung ’Badisebes Land u in diesem Jahr
einen besonderen, volkstümlichen Zug erhalten hatte. \ ertreten waren außer einer
großen Zahl reichsdcutscher Vereine auch die Schweizerische Gesellschaft für Volks¬
kunde durch Herrn Professor Dr. Hoffmann-Krayer und Herrn Dr. Bächtold-
Stäubli und der Historische Verein für Steiermark durch Herrn Dr. Geramb.
Der Bericht, den der Vorsitzende in der Hauptversammlung über die seit der letzten
Tagung im Jahre 1920 (s. o. 30/32, 47) verflossene Zeit gab, entrollte noch einmal
das nur zu bekannte traurige Bild der Nachkriegs-und Inflationszeit, die selbstver¬
ständlich die Finanzen wie die Arbeiten des Verbandes aufs schwerste geschädigt
und gehemmt hat. Immerhin konnte mit Genugtuung festgestellt werden, daß eine
der wichtigsten Aufgaben des Verbandes, die Bearbeitung und Herausgabe der
Bibliographie, dank der freundlichen pekuniären Beihilfe schweizerischer, finnischer
und amerikanischer Freunde und dank der hingebenden Tätigkeit des Herausgebers
und seiner Mitarbeiter auch in den schlimmsten Zeiten bearbeitet wurde. Für die
Zukunft holft der Herausgeber den vorläufig noch weiten Abstand (das 1925 er¬
schienene Heft enthält die Erscheinungen des Jahres 1920) in absehbarer Zeit
einzuholen. Bei der Unentbehrlichkeit der Bibliographie für jeden auf volkskund¬
lichem Gebiete Arbeitenden ist es verwunderlich und sehr bedauerlich, daß, wie
Prof. Meier mitteilte, der buchhändlerische Absatz gering ist. Es sei daher auch
an dieser Stelle noch einmal auf das Werk hingewiesen und darauf
aufmerksam gemacht, daß es Mitglieder unseres Vereins zum ermäßigten
Preise durch den Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. J. Meier, (Basel, Silber¬
bachstraße 13) beziehen können. Bei demselben sind anch noch zahl¬
reiche Nummern der ebenfalls hochwichtigen F F Communications er¬
hältlich (Näheres s. am Schluß dieses Heftes). — Nicht nur angesichts der Stabili¬
sierung der deutschen Währung und der allmählichen Besserung der Gesamtlage, son¬
dern auch einer unverkennbaren Steigerung des Interesses für A olkskunde in weiteren
Kreisen und der wenigstens in Preußen erreichten Einführung unserer Wissenschaft in
den Lehrplan der höheren Schulen darf man mit einigen Hoffnungen in die Zukunft
blicken und sich der Arbeit an den alten und neuen Aufgaben des Verbandes zu¬
wenden. Auch die Gründung der Deutschen Akademie mit ihrer Abteilung für
deutsche Literatur, Sprache und Volkskunde ist in diesem Sinne mit dankbarer
Freude zu begrüßen.
Für die Rechnungsführung der Inflationszeit wurde dem Vorstand Entlastung
erteilt, desgleichen für die des Jahres 1924, die von den Herren Bolte und Sartori
geprüft und richtig befunden war. An die Stelle des aus Freiburg fortgezogenen
Herrn Professor Dr. Goetze ist Herr Studienrat Dr. Schewe in den Geschäftsführen¬
den Ausschuß eingetreten. Die vom Vorstand vorgeschlagene Ermäßigung der
Verbandsbeiträge von 4 °/ 0 der reinen Mitgliedsbeiträge, bezw. 40,— M. auf o °/ 0 ,
bezw. 20,— M. wurde angenommen. Die Anzahl der dem Verband angehörenden
Vereine, Museen usw. beträgt zurzeit 83.
Es folgten die Berichte der einzelnen Ausschüsse des Verbandes. In
die Kommission für Segen- und Beschwörungsformeln sind neu eingetreten die
116
Fritz Boehm:
Herren Studienrat Dr. Ebermann und Pfarrer Dr. Jacobv, in die Volkstrachten-
kommission Herr Länunle. Die Arbeiten in den Ausschüssen hatten unter Geld¬
mangel stark zu leiden, sind aber inzwischen nach Kräften gefördert worden, be¬
sonders in der Volksliedkommission, wo die Gesamtzahl der gesammelten Lieder
zurzeit 112300 beträgt. Die seinerzeit im Insel-Verlage erschienenen 4 Hefte „Alte
und neue Weisen“ sind fast vergriffen und sollen neu aufgelegt werden, von den neuen
landschaftlichen Sammlungen sind die für Schlesien und Baden bereits erschienen,
zahlreiche weitere liegen fertig vor. Der Ausschuß der Deutschen Akademie für
Musik plant mit Beihilfe der volkskundlichen Abteilung die Begründung einer Phono-
grammsammlung von Volksliedern.
Von großem Interesse waren die Mitteilungen des Vorsitzenden über die vom
Verband geplante Herausgabe umfassender Handwörterbücher für Volks¬
kunde (Aberglaube, Volkslied, Sage, Märchen). In Angriff genommen ist zunächst
das Handwörterbuch für Volksaberglauben. Herr Dr. Bächtold, dem die Redaktion
dieses Teiles übertragen worden ist, berichtete ausführlich über die Anlage des
ganzen Werkes und über die bereits weit fortgeschrittenen Vorarbeiten. Eine größere
Anzahl von Mitarbeitern ist bereits gewonnen; weitere Meldungen zur Mitarbeit
nimmt der Herausgeber (Basel, Benkenstr. 65) gern entgegen. Es ist zu hülfen,
daß das Werk in verhältnismäßig kurzer Zeit fertig vorliegen und dem Volkskunde¬
forscher viel zeitraubende Sammelarbeit ersparen wird.
Angesichts der Berücksichtigung der Volkskunde in den Richtlinien für die
Lehrpläne der höheren Schulen Preußens’ (s. o. S. 1 ff.) darf dem 13. Punkte der
Tagesordnung ‘Volkskunde und Schule’ besondere Bedeutung beigemessen werden.
Allgemein war die Überzeugung, daß jetzt, wenn je, alles darangesetzt werden
müsse, der Volkskunde an allen Schulen und Hochschulen aller deutschen Länder
Eingang zu verschaffen. Die darauf bezüglichen Vorschläge des Verbandes lagen
in drei Leitsätzen vor, die nach längerer Aussprache einstimmig angenommen
wurden. Beschlossen wurde ferner die Abfassung einer diese Leitsätze ausführlich
begründenden Denkschrift, die an die Kultusministerien der deutschen Länder und
andere maßgebende Stellen versand werden soll. Die Abfassung wurde den Herren
Meier, Josef Müller, Faber und Boehm übertragen. * 1 2 3 )
Nach einem kurzen Bericht über den Stand der Flurnamen-Sammlung und der
Mitteilung, daß als Tagungsort für das Jahr 1927 Kiel in Aussicht genommen sei,,
schloß der Vorsitzende die Hauptversammlung.
Der Nachmittag brachte einen öffentlichen Vortrag des Herrn Bächtold über
‘Glaube und Aberglaube’, in dem an zahlreichen Beispielen der enge Zusammen¬
hang beider Gebiete aufgezeigt wurde; auch an dieser Stelle wurde der Plan des
Handwörterbuches (s. o.) entwickelt und um Mitarbeit gebeten. Am Abend sprach
Herr Lämmle vor einer zahlreichen Zuhörerschaft über ‘Württembergische Volks¬
trachten’. (Der Vortrag ist abgedruckt in Lämmles hübschem Buch ‘Unser Volks¬
tu m‘, das den Abgeordneten als Festgabe überreicht wurde.) Seine durch treffliche
Lichtbilder illustrierten Ausführungen dienten zugleich als Vorbereitung auf den
am Vormittag des folgenden Sonntags stattfindenden Trachtenfestzug. In 50 Gruppen,
nach Ortschaften getrennt, zogen die Trachtenleute, an 500 Teilnehmer, vom
Schlößchen Rosenstein durch den herrlichen Schloßpark zum Ausstellungsgelände
im Stadtgarten, ein farbenreicher, fröhlicher Anblick, zumal das Wetter günstig war,
während das für den Nachmittag angesetzte ‘Ländliche Fest’ leider verregnete.
*) Von großer Bedeutung ist die inzwischen erfolgte Annahme folgender drei
Anträge der Deutschen Volkspartei im Preußischen Landtag:
‘Der Landtag wolle beschließen, das Staatsministerium zu ersuchen, nach nun¬
mehr erfolgter amtlicher Einführung der Volkskunde in den Lehrplan der preußi¬
schen Schulen Sorge tragen zu wollen, daß eine gründliche Vor- und Weiterbildung
der Lehrer geschaffen werde, daß insbesondere
1. im Stundenplan der pädagogischen Akademien das Lehrfach der Volkskunde
angemessen vertreten ist,
2. in ausreichendem Maße Lehraufträge für Volkskunde an den Universitäten
erteilt werden,
3. die wichtige Sammlung für deutsche Volkskunde in Berlin, das einzige
staatliche Museum dieser Wissenschaft, stärkere Beachtung als bisher findet
und eine angemessene staatliche Unterstützung bereitgestellt wird.’
Kleine Mitteilungen.
117
Neben den offiziellen Veranstaltungen vereinte manche Stunde privater Gesellig¬
keit die Abgeordneten zur Neu- oder Wiederanknüpfung persönlicher Beziehungen,
ein nicht geringer Gewinn für den einzelnen neben den tatsächlichen Ergebnissen
der bedeutungsvollen Tagung. Besonderer Dank für deren üubere Vorbereitung
und Durchführung gebührt dem Württembergischen Landesamt für Denkmalspflege,
vor allem dessen Leiter, Herrn Professor Goeßler, und Herrn August Lämmle,
seinem unermüdlichen Helfer.
Berlin-Pankow. Fritz Bo eh m.
Notizen.
Acta Academiae Aboensis Humaniora IV. Abo Akademi. Äbo 1925. — Von
volkskundlichem Interesse sind in dem stattlichen Bande vor allem die Aufsätze von
J. Sundwall über die italischen Hüttenurnen und von R. Karsten, The Toba Indians
of the Bolivian Gran Chaco; sehr lehrreich auch der temperamentvolle Artikel von
J. Strzygowski, Das Erwachen der Nordforschung in der Kunstgeschichte. — (F. B.)
Walther Aich eie, Zigeunermärchen, unter Mitwirkung von Martin Block und
Johannes Ipsen hsg. Jena, E. Diederichs 1926. XIX, 344 S. — Groß ist der Märchen¬
schatz der wandernden Zigeuner, die in ferner Vorzeit ihre indische Heimat verließen,
um 1100 in Griechenland erschienen und 1417 nach Deutschland kamen, aber zumeist
entlehnt aus den Überlieferungen ihrer Wirtsvölker und oft nach ihren Anschauungen
umgebildet. Der vorliegende interessante Band vereinigt 73 Märchen der Zigeuner¬
stämme Palästinas, der Türkei, Bulgariens, Rumäniens, Rußlands und Englands und
beruht fast durchgängig auf Originaltexten, teilweise bisher ungedruckten. Häufig
kehren dieselben Motive in neuer Zusammensetzung wieder, oft fünf oder sechs in
einer einzigen Erzählung. Ihrer Verbreitung gehen die ausführlichen vergleichenden
Anmerkungen von J. Ipsen (S. 308—341) sorgsam nach. Dazu füge ich noch: Nr. 8.
Personifikation von Tag und Nacht (oben 26, 313. 27, 68). — 19. Glück und Verstand.
Schweigende Prinzessin (Bolte-Polivka 3, 56. 51). — 25. Vision im Jenseits (ebd. 3, 302).—
28. Tausch bringt Gewinn (ebd. 2, 202). — 32. Drei Zitronen (ebd. 2, 125). — 35. Reiten
um die Braut (ebd. 3, 112). — 49. Wette über Frauentreue (R. Köhler 2, 463. Romania
32, 481). Groomes Gypsy folk-tales (1899) sind nirgends zitiert. — (J. B.)
W. Anderson, Läti möjust eesti vanemas ilukirjanduses (Eesti Kirjandus 19,
3S5 — 396. 408—413). — U. d. T. ‘Lettischer Einfluß in der ältesten estnischen Belletri¬
stik’ wird nachgewiesen, daß Fr. W. v. Willmann in seinem estnischen Geschichten¬
buch (Juttud ja Moistatussed. 1782) Stenders oben 34, 95 besprochene lettische Samm¬
lung von 1766 plünderte, indem er 86 Nummern daraus übersetzte. Auch das bei
A. v. Löwis (Finnische und estnische Volksmärchen 1922 nr. 62) aus mündlicher Über¬
lieferung mitgeteilte Märchen ‘Die drei genasführten Freier’ stammt aus Willmanns
Buch. — (J. B.)
A. Äußerer, Das kleine Altenmarkter Spiel vom jüngsten Gericht, nach der
großen Comedy bearbeitet. Wien, Österreichischer Schulbücherverlag 1924. 67 S.
(Deutsche Hausbücherei 124). — Dies 1759 zu Altenmarkt bei Radstadt gespielte
Drama, das M. Jäger 1900 herausgab, ist, wie Reuschel 1906 nachgewiesen hat, eine
geschickte Bearbeitung von Hans Sachsens Tragedia v. J. 1558 in katholischem Sinne.
Spätere Einschiebsel sind leicht am Metrum kenntlich. Professor Äußerer hat das
6685 Verse enthaltende Stück, das einst eine überwältigende Wirkung ausübte, er¬
heblich gekürzt, ‘theologische Unrichtigkeiten’ gebessert, die Handlung dramatischer
gestaltet und den Text modernisiert. Der 1. Teil zeigt, wie die Teufel ein Wirtshaus
einrichten und ein üppiger Jüngling dem Tode anheimfällt und vor Christi Gericht
gestellt wird, wo Marias Fürwort ihn rettet. Im zweiten laden die Erzengel die Toten
alle ins Tal Josaphat, Leib und Seele streiten miteinander, die Elemente und Moses
verklagen die Sünder, die verdammten Menschen und Teufel werden in die Hölle
eingeschlossen, und während die Erde in Flammen aufgeht, ziehen die Auserwählten
mit Christus in den Himmel. — (J. ß.)
Badische Volkslieder mit Bildern und Weisen. Herausgegeben vom Deutschen
Volkslied-Archiv. Bilder von Adolf Jutz. Zweistimmiger Satz von Julius Weis¬
mann. Lautensatz von Konrad Ameln. Karlsruhe, G. Braun 1925. 113 S. 2,50 M.—
Als zweite Frucht der neuaufgenommenen Publikationstätigkeit des Volkslied-Archivs
folgen auf die schlesischen (s. oben S. 76) die badischen Volkslieder, ebenfalls in
zweistimmigem Satz mit Beifügung einer — diesmal nicht immer ganz einfachen —
Gitarrenbegleitung. Die Auswahl bringt neben Altbekanntem auch manch seltneres
Lied, zum größten Teil in hochdeutscher Form. Über die beigefügten Federzeich-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925. 9
118
Notizen.
nungcn werden die meisten der einfachen Benutzer, für die diese Hefte in erster
Linie gedacht sind und die moderner Graphik fernstehen, nicht mit Unrecht den
Kopf schütteln. — (F. B.)
Ford. Benz, Rauhnacht in der Rockenstube. Alte deutsche Mären. Leipzig,
Dieterich 1925. 182 S., geh. 3,50 M., geb. 5,50 M. — In den Jahren 1857 bis 59 erschien
das ausgezeichnete dreibändige Werk des bayrischen Ministerialrats Franz Schön¬
werth ‘Sitten und Sagen der Oberpfalz'. Mit hingebendem Fleiß hat Schönwerth,
was an Bräuchen und sagenhaften Überlieferungen seiner Heimat um die Mitte des
19. Jahrh. noch lebendig war, aufgezeichnet und systematisch geordnet. Im Archiv
des historischen Vereins der Oberpfalz ruhen außerdem, wie Laßleben (Die Oberpfalz
IG, 113. 1922) berichtet, dreißig Bündel handschriftlicher Kollektaneen Schönwerths,
die einer fachmännischen Durchsicht harren. Aus Schönwerths Aufzeichnungen hat
nun Benz eine Auswahl in andrer Gruppierung getroffen, er gibt sie als Unterhaltung
in der Spinnstube während der zwölf Rauchnächte (oder, wie er schreibt, Rauhnächte)
des Jahres 1820 wieder, geordnet nach Themen wie die wilde Jagd, die Trud, der
Bilmesschneider, die Haustiere, die Hexe, der Teufel, Gewitter, Wasser, Tote. Er hat
so eine leichtfaßliche, unterhaltende Einführung in die alten mythologischen Vor¬
stellungen des Landvolkes geliefert. Ob er auch den ungedruckten Nachlaß Schön¬
werths benutzte, sagt er nicht. Aufgefallen ist mir, daß er die Rauchnächte vor
das AVeihnachtsfest verlegt (S. 7) und in dem Abschnitt über den Hoimann, den er
mit dem wilden Jäger gleichsetzt, von Schönwerth 2, 151. 337 ab weicht. — (J. B.)
E. K. Blümml und G. Gugitz, Alt-Wiener Krippenspiele. Wien, Arbeitsgemein¬
schaft für Kultur- und Heimatforschung 1925. 120 S. mit 8 Abb. (Kultur u. Heimat 1). —
Aus der in Italien, Deutschland und anderwärts verbreiteten Sitte, zur Ergötzung
der Kinder die Weihnachtsgeschichte in bunten Holz- oder Tonfiguren darzustellen,
erwuchs in Wien eine besondere Art von ‘Krippenspielen’, die nicht von berufs¬
mäßigen Marionettenspielern, sondern von ansässigen Handwerkern ausging. Die
seit 1748 tätige 'Frau Godel’ (eigentlich Barbara Müllerin) zeigte regelmäßig in der
Adventszeit über dreißig Szenen des Alten und Neuen Testaments mit beweglichen
Figuren, die Groß und Klein entzückten und sogar von den Erzherzoginnen besucht
wurden. Ein Erklärer trug eine schlichte Erzählung dazu vor, da dramatische Ge¬
spräche mit komischen Figuren und aktuellen Extempores durch die strenge Zensur
untersagt waren. Über spätere gleichartige Veranstaltungen tragen die Vf. viel
Material aus der Lokalliteratur und den Archiven Wiens zusammen. Genauer be¬
schrieben wird das bis 1920 aufgeführte Lerchenfelder Krippenspiel, dessen Figuren
von unten geleitet oder auf Rädern durch die Landschaft geschoben wurden. Den
28 biblischen ‘Bildern’ folgten noch die zwölf Monate des Jahres. Bei der Sintflut fiel
wirklicher Regen, das Weinen des im Nil ausgesetzten Mosesknaben markierte eine Trom¬
pete, bei der Zerstörung Jerusalems wurde Kanonendonner imitiert, die Musik war ein
Potpourri aus Mozart, Rossini, Flotow und beliebten Tanz- und Marschweisen. — (J. B.)
Johannes Bolte, Handwerkerleben auf Neuruppiner Bilderbogen. Brandenburgia
34 (1925) 43 f. — Als Ergänzung zu Fraengers Untersuchungen über die Entwicklung
der Neuruppiner Bilderbogen (s. oben S. G2) wird auf eine Anzahl kolorierter Litho¬
graphien (um 1870; Berlin, Märk. Mus.) mit Handwerkerdarstellungen hingewiesen.
Die beigefügten Verse zeigen die typische Form älterer Loblieder auf die einzelnen
Zünfte. — (F. B.)
Borchardt-Wustmann, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volks¬
mund nach Sinn und Ursprung erläutert. 6. Auflage, vollständig neu bearbeitet von
Georg Schoppe. Mit 35 Abbildungen. Leipzig, Brockhaus 1925. XII, 518 S. gebd.
12,50 Mk. — Die von den Wnstmanns — Vater und Sohn — gelieferte Neubearbeitung
des zuerst 1888 erschienenen Buches von Borchardt ist seit dem Jahre 1894 mehr¬
fach, aber mit nur geringeren Änderungen aufgelegt worden. Auch die vorliegende
Neubearbeitung ändert nichts an dem Grundcharakter des Werks, das sich in der
ursprünglichen Anlage viele Freunde erworben hat. Doch hat der Bearbeiter mit
großem Fleiß die überreiche volkskundliche Literatur durchgearbeitet, die in den
letzten drei Jahrzehnten zahlreiche Erklärungsversuche geliefert hat; vor allem
konnte er Seilers Bände über das Lehnsprichwort benutzen, obgleich er ihm in
seinen Herleitungen aus der Antike nicht restlos zuzustimmen scheint. Andrerseits
sind nicht wenige der früheren Deutungen, die sich als unhaltbar erwiesen haben,
getilgt worden. Immerhin ist des Zweifelhaften noch genug stehen geblieben, z. B. S. G4
(Bockshorn) 67 (Bohnenlied) 78 (Bürstenbinder) 131 (Flinte am ’letzten Backen’) 133
(Flöten gehen) 135 (Hollerbaum) 198 (Wunderlicher Heiliger) 199 (Freund Hein) 244
(Ab nach Kassel) 271 (Kraut und Rüben) 35G (Nicht von Pappe) 384 (Bis in die Puppen)
479 (Triller). Die Nachprüfung der Deutungen wird dadurch erschwert, daß die
Quellenangaben und die Verweisungen auf neuere Literatur vielfach unzureichend
sind oder auch ganz fehlen.. Da die Grenzen des Begriffs ‘sprichwörtliche Redens¬
arten’ fließen, so wäre es ein leichtes, ein Desideratenverzeichnis aufzusetzen. Mag
Notizen.
119
man auch hier mit dem Bearbeiter nicht rechten, so wäre ihm doch für spätere Auf¬
lagen ein gerechterer Ausgleich für die provinziell begrenzten Redensarten zu
empfehlen. Vorläufig sind sächsische Sonderredensarten noch sehr bevorzugt, während
andere, z. B. die so überaus zahlreichen und orginellen Berolinismen ziemlich im
Hintergrund stehen. Von kleineren Versehen seien nur einige angemerkt: S. 46:
basta ist in der Redensart nicht Imperativ, sondern 3. Pers. Sing. Ind. Praes., 78:
Scholast st. Scholastiker, 105 1 . Ivoav, S. 69: das Auf richten der Haare bei Angst findet
sich schon bei Homer (II. 21, 359), 24S das Spiel t Strebekatze’ mußte kurz beschrieben
werden. Die Abbildungen (Brueghel, Braut, Murner u. a) stehen mit dem Text nur
in losem Zusammenhang, bringen z. T. sogar Redensarten, die nicht erklärt werden;
sie könnten zur Not fehlen, da sie sich ja an den bloßen Wortlaut halten und zur Er¬
klärung meist nichts beitragen. Trotz dieser Ausstellungen soll der Wert des be¬
lehrenden und anregenden Buches durchaus anerkannt werden, das besonders geeignet
ist, den Blick für das Leben unserer Muttersprache zu schärfen. — (F. B.)
W. Boette, Religiöse Volkskunde. (Reclams Universal-Bibliothek Nr. G555/5G.)
Leipzig, Ph. Reclam jun. o. J. 1(36 S. geh. 0,80 M. geh. 1,20 M. — Das kleine Buch
kann und will auch nicht eine Aufzählung der etwa heute noch lebendigen religiösen
Anschauungen und Bräuche des Volkes geben, sondern vielmehr das Wichtigste
hiervon aus der religiösen Prädisposition des Dorfmenschen heraus erklären, der ja
in erster Linie Objekt der Volkskunde ist und in dessen Seelenleben der Verfasser
bei seiner Tätigkeit als Landpfarrer liebe- und verständnisvoll eingedrungen ist, wie
seine trefflichen Skizzen „Aus einer vergessenen Ecke** und seine Volksliedersamm¬
lung erwiesen haben. Vor der Gefahr oberflächlichen Räsonnements schützt ihn
neben dieser aus dem Leben gezogenen Kenntnis eine solide fachliche und philo¬
sophische Grundlage. So ist ihm ein Werk geglückt, an dem man seine Freude
haben kann und das man in der Hand aller Geistlichen und Lehrer sehen möchte.
Er zeigt, wie fast das gesamte Brauchtum des Volkes religiös begründet ist, teils
durch primitiv-heidnische Vorstellungen, vor allem aber auch durch den überragen¬
den Einfluß christlicher Ideen. Daß nun auch die weitverbreitete Reclamsche Uni-
versal-Bibliothek einen der Volkskunde gewidmeten Band enthält, und zwar einen so
vorzüglichen, begrüßen wir mit besonderer Freude. — (F. B.)
Brage, Ärsskrift 15—18 1920-1923. Helsingfors 1925. 110 S. — Diese Fort¬
setzung der oben 34, 154 angezeigten Jahrbücher des schwedischen volkskundlichen
Vereins Brage enthält Berichte über seine Forschungsarbeiten, Gesangfeste und Ver¬
anstaltungen während der Jahre 1920 — 23, sowie Aufsätze von Greta Dahlström
Volklieder aus Xboland, S. 62—80), Yngvar Heikel (Volkstrachten in den Kirch¬
spielen Lappfjärd und Tjöck S. 81—102) und Stefan Einarsson (Isländische Bau¬
weise auf dem Lande, S. 103-110). — (J. B.)
R. Brandstetter, Wir Menschen der indonesischen Erde, 4: Die indonesischen
Termini der schönen Künste und der künstlerisch verklärten Lebensführung. Luzern,
E. Hagy 1925. 32 S. — Die Etymologie der malaiischen Ausdrücke für ästhetische
Begriffe zeigt vielfach gleiches Verfahren wie bei den Indogermanen. Schreiben ist
ursprünglich Ritzen, spotten = singen, Ornament - Blume, gesittetes Benehmen
= Melodie, schön = rein, glatt. — (J. B.)
Brock haus, Handbuch des Wissens. „Der Kleine Brockhaus“. Leipzig, Brock¬
haus o. J. 10 Lieferungen zu je 1,90 M. — Was andere europäische Länder im „Petit
Larousse“ und ähnlichen Handwörterbüchern für erste Hilfe längst besitzen, soll dies
einbändige Werk des bewährten Verlages für Deutschland bieten. Auf etwa 800
dreispaltigen Textseiten werden über 40000 Stichwörter aufgeführt. Tausende von
kleinen Textabbildungen und fast 100 bunte Tafeln und Karten unterstützen die
natürlich auf das allernötigstc beschränkten Erklärungen. Auch in volkskundlichen
Dingen wird der Benutzer meist eine Antwort auf seine Fragen finden, wenn auch
manches, z. B. Aberglaube, Haus- und Dorfformen, fehlt und anderes (z. B. Märchen"
nicht ganz auf der Höhe steht. — V F. B.)
F. A. Brockhaus, Den Freunden des Verlags F. A. Brockhaus. 5. Folge 1925/6
Leipzig. 144 S. — Der hübsche Almanach des auch um die Volkskunde verdienten
Verlages enthält neben Auszügen aus Verlagswerken und einem Katalog als ein¬
leitenden Aufsatz die lebendige Schilderung eines Besuchs, den Hans Brockhaus im
Oktober 1922 bei Georg Schweinfurth machte. Ein wohlgelungenes Bildnis dieses
am 19. 9. 25 verstorbenen großen Gelehrten und liebenswürdigen Menschen, der auch
unserer Wissenschaft so nahe stand, ist an den Anfang des Buches gesetzt. — (F. B.)
Karl Brunner, Ostdeutsche Volkskunde. Mit 69 Abbildungen auf 32 Tafeln.
(Deutsche Stämme, Deutsche Lande, hsg. von F. von der Leyen.) Leipzig, Quelle
& Meyer, 1925. XI, 279 S., geb. 7 M.— Dieser neue Band der bekannten Sammlung
volkskundlicher Monographien umfaßt nicht, wie man nach dem Titel vermuten
könnte, das gesamte ostelbische Gebiet, sondern nur Brandenburg, W r est- und Ost-
9*
120
Notizen.
preußen und Posen; für Pommerns und Schlesiens Volkskunde sind wegen des be¬
sonderen Charakters dieser Provinzen auch besondere Darstellungen geplant. Auch
die slavisehen und litauischen Bevölkerungselemente sind absichtlich nur da be¬
rücksichtigt, wo sie sich von dem deutschen nicht grundsätzlich unterscheiden. Trotz
dieser Einschränkung blieb das zu behandelnde Gebiet groß und vielseitig genug,
um den Verfasser vor eine außerordentlich schwierige Aufgabe zu stellen. Gestützt
auf eine gründliche Kenntnis der seit Kuhn und Temme besonders für Brandenburg
und Preußen immer reichlicher fließenden Literatunjuellen, auf seine eigenen, auf
vielen Reisen angestcllten Forschungen und auf die Schätze der von ihm verwalteten
Berliner Sammlung für Volkskunde hat sie der Verfasser mit schönstem Erfolge ge¬
löst und ein Werk geschaffen, das sich den anderen Bänden der Sammlung würdig
anreiht und nicht zuletzt von den zahlreichen Berliner Freunden der Volkskunde
mit großem Dank entgegengenommen werden dürfte. Die gesamte Darstellung schließt
sich nach Möglichkeit dem bisweilen komplizierten geschichtlichen Verlauf der Kolo¬
nisierung an, deren Hauptepochen im ersten Kapitel im einzelnen geschildert werden.
Mit besonderer Liebe und vollendeter Sachkenntnis wird sodann die äußere Volks¬
kunde behandelt; Sprache, Lied, Märchen, Sagen, Gebräuche im Verlauf des Menschen¬
lebens und des Festjahres, Volksglaube, Zauberei und Volksmedizin folgen in der
üblichen Anordnung. Eine Fülle gut belegter Einzelheiten ist in diesen Kapiteln zu¬
sammengetragen, die schlichte Sprache der Darstellung atmet eine warme Liebe des
Verfassers zur Heimat und ein feines Verständnis für die Eigenart der so bunten
Bevölkerungsteile des behandelten Gebietes. Die Tafeln bringen vielfach noch unver¬
öffentlichtes Material von großem Werte und Interesse. — (F. B.)
Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 2. Aufl. Leipzig,
J. A. Barth 1925. IV, 84 S. 8,20 M. (Beiheft 17 zur Zs. f. angewandte Psychologie). —
Die zuerst 1917 erschienene Untersuchung beantwortet die Frage, was in den Per¬
sonen, dem Milieu, der Handlung und der Darstellung der Grimmschen Märchen die
denkende und ansehauende Phantasie der Kinder 'vom 7. bis 12., in gebildeten Ständen
vom 4. bis 8. Lebensjahre) anzieht. Da nicht bloß psychologische Beobachtungen,
sondern auch die Märehenforschung berücksichtigt wird, erhalten wir mehrfach Bei¬
träge zur Charakteristik des Volksmärchens. Auf S. 46 wird z. B. eine neue Grup¬
pierung der Motive in Wundertaten, Heldentaten, Brautwerbungen, Intelligenzleistun¬
gen, normbedingte und Affekthandlungen versucht, S. 59 die Kunstmittel der
Wiederholung, der Ankündigung von Gefahren, der Veranschaulichung und Konti¬
nuierlichkeit alles Geschehens, der Steigerung usw. besprochen. Daß die Brüder
Grimm bereits eine gewisse Stilisierung Vornahmen, wird nur einmal gelegentlich
erwähnt. — (J. B.)
Werner von Bülow, Märchendeutungen durch Runen. Die Geheimsprache der
deutschen Märchen, ein Beitrag zur Entwickelungsgesehiehte der deutschen Religion.
Hellerau bei Dresden, Hakenkreuz-Verlag 1925. 107 S. 4° mit Zeichnungen. Gebd.
3,50 M. — Nachdem uns vor elf Jahren Stauff, ein Verehrer der ‘Runen Weisheit’
Guidos v. List, erstaunliche Deutungen der Grimmschen Märchen (oben 26, 220) be¬
schert hat, kündet hier ein ebenso begeisterter Jünger des Meisters den Sinn von 16
nach den Zeichen des Runenalphabets geordneten Märchen, in denen ungeahnte
geistige Erkenntnisse unserer Vorfahren schlummern. Die Geschichte des ‘Frosch-
königs’ stellt das Herabsinken der Menschheit aus dem goldenen Zeitalter bis in
unser Eisenalter dar, die ‘Gänsemagd’ versinnbildlicht den Leidensweg der mensch¬
lichen Seele, der ‘Jude im Dorn’ den Gegensatz zwischen wahrer und sinnlicher Liebe,
‘Aschenputtel’ die Einführung der eine Vergeistigung der Jenseitsvorstellungen be¬
deutenden Feuerbestattung. ‘Rotkäppchen’ und das ‘Lumpengesindel’ das Eindringen
des römischen Rechts in Deutschland usw. Ihre heutige Gestalt sollen diese Märchen
zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert gewonnen haben; ihr tieferer Sinn liegt in
unscheinbaren ‘KennWorten’ verborgen, die sieh auf das Runen-Fufjark zurückführen
lassen. So ist in der Gänsemagd die Gans ein Bild des Alls, Kürtehen {KRT,
ereator, hropter) der Schöpfer; die böse Magd (MG, Magie) „wird in eine mit Nägeln
(NG. genus, ink) durehspitzte Tonne (Leiblichkeit' eingeschlossen, um von zwei weißen
Rossen (tu witt Ros, tuen nach rechtem Wissen, wissend das Rechte tuen) Gaß
auf, Gaß ab (GS, dem göttlichen Strahl bald näher kommend, bald sieh von ihm
entfernend) zu Tode geschleift zu werden.“ Die Zähne der Frau Holle bedeuten ihr
gerechtes Urteil, denn zehn ist die Zahl des Gerichts. ‘Fitehersvogel’ ist ein Deck¬
name für Blut; es ist das, was im Innern (J), im Verborgenen (T) wirkt (F), die Lebens¬
form oder die Leiblichkeit (eher = Ker, Gefäß . Der giftige Apfel, der Sneewittchen
aus dem Munde fällt, ist mit Abfall ebenso sprachlich verwandt, wie das lateinische
malum sowohl Apfel wie Übel bedeutet. Linse (bei Aschenputtel) heißt Seelen-
Licht-Natur (L runisch = Licht, N Wasser, S Sonne). Diese Beispiele genügen wohl,
um den gänzlichen Unwert des Buches darzutun, das von wirklicher Märchen¬
forschung ebenso wenig weiß wie von sprachlichen Gesetzen. — (J. B.)
Xotizen.
121
Reidar Th. Christiansen, Xorsk folkeminne, en veiledning for samlere og inter-
esserte. Oslo 1925. 125 8. (Xorsk Folkeminnelag 12). ~ Diese treffliche ‘Anleitung’
zur Sammlung der norwegischen Volksüberlieferungen, welche einen kürzeren, 1917
erschienenen Entwurf weiter ausführt, beschränkt sich nicht auf eine systematisch«*
Übersicht des Gebietes, sondern enthält in der Form von knapp gehaltenen Fußnoten
zugleich eine Fülle von stofflichen Mitteilungen über: A. Hochzeit, Geburt, Tod;
B. Alltagsleben und Arbeit; C. Festtage; D. Magie und Volksmedizin; E. Sagen;
F. Himmelserscheinungen, Pflanzen und Tiere; G. Märchen und Lieder. Über das
in der gedruckten Literatur und in der ‘Xorsk Folkeminnesamling’ zu Oslo enthaltene
Material orientiert ein nach den Distrikten des Landes geordneter Schlußabschnitt
In der Einleitung erläutert der Vf. die Bedeutung der Volksüberlieferungen für die
Geschichte der eigenen Kultur und Religion und zeigt, daß zwar die Balladen und
alten Märchen der lebendigen Tradition immer entschwinden, daß aber für die Auf¬
zeichnung der Schwänke, neueren Lieder, Rätsel, Kinderpoesie noch manches zu tun
bleibt. - (J. B.)
Carl Clemen, Religionsgeschichtliche Bibliographie. Jahrgang IX—X (1922/23).
Leipzig und Berlin, Teubner 1925. Gl S., 8°, geh. 2.40 M. — Für weite Gebiete der
volkskundlichen Arbeit ist dies Hilfsmittel als Ergänzung der volkskundlichen Biblio¬
graphie von hohem Werte. Möge es dort wie hier bald gelingen, den Anschluß an
die jüngsten Erscheinungen immer mehr zu verengern. Als Ergänzung zur römischen
Religion 1922 wäre nachzutragen oben 22, 147 f. (Lares grundules). — (F. B.)
A. de Cock, Spreekwoorden, zegswijzen en uitdrukkingen op volksgeloof be-
rustend, folkloristisch toegelicht. 11. Antwerpen, De Sikkel. Deventer, Kluwer Gent,
Hoste 1922. 3 Bl., 116 S. 8°. — Der erste Band des nützlichen Werkes über die
niederländischen Sprichwörter, in denen sich Reste alten Volksglaubens bergen, wurde
oben 30, 84 angezeigt. Der zweite Band ist leider ein Torso geblieben, weil der
Tod dem fleißigen Verfasser die Feder aus der Hand nahm. Er führt in den Nummern
250—42S die auf Krankheit und Tod, Mineralien, Chemie und Himmelskörper bezüg¬
lichen Ausdrücke und Wendungen vor, während die Abteilungen Saat, Ernte, Wetter,
•einzelne Tage und Zahlen unerledigt blieben. Da in den sorgsamen Belegen und
Literaturverweisen auch die deutsche Forschung berücksichtigt ist, finden wir hier
Aufschluß beispielsweise über Abringeln, Zahnwurm, Hundshaar, Harnbeschauen, ge¬
brochenes Herz, Zungenlösen, Wurmschneiden, Veitstanz, Krötenstein, Donnerkeil,
Elixir und viele Pflanzennamen. — (J. B.)
Cornelis Cr ul, Een schoone ende gheneuchlijcke historia of cluchte van Heynken
de Luyere, warachtelyck gheschiet, seer verheuchlyck om lesen. Thantwerpen 1582
(hsg. von L. Bae keim ans). Antwerpen, De Sikkel (1924). 40 S. — Der Held dieses
in siebenzeiligen Strophen abgefaßten Gedichts ist ein Antwerpener \ olksdichter,
der in der Gesellschaft von fahrenden Musikanten und Sängern ein feuchtfröhliches
Dasein führte. In der Art Eulenspiegels oder Francois Villons ^wenn die diesem
zugeschriebenen ‘Repeues franches’ Zutrauen verdienen) prellt Heynken die Wirtin
um die Zeche, indem er ihren Hausknecht zum Küster führt, der Zahlung für ihn
leisten werde, den Küster aber um ein Asyl für den angeblichen Totschläger bittet.
Ein andermal läßt er sich im Kloster, dem er drei neue Glasfenster verheißt, speisen.
Endlich schwindelt er einem Pater, dem er sich als Malergehilfe vorstellt, ein Ge¬
richt Stockfisch für seine hungrigen Gesellen ab. Der Herausgeber hat eine Xotiz
über den Rederijker Crul hinzugefügt, den Text aber unverändert abgedruckt. — (J. B.)
Deutsch-Xordisches Jahrbuch für Kulturaustausch und Volkskunde 1925,
hsg. von Walter Georgi. Jena, Diederichs 1925. 170 S. kart. 3 M. — Auch dieser
Jahrgang enthält, wie seine Vorgänger, leider keinen eigentlich volkskundlichen
Aufsatz, trotz des angegebenen Untertitels und trotz der gerade im Jahre der Andersen-
Feiern auf der Hand liegenden Aktualität. — (F. B.)
Helene Dihle, Männerkleidung des 16. Jahrh. nach dem Buch Weinsberg.
(Zs. f. histor. Waffen- und Kostümkunde 1925, 177—184, mit Abbildungen). — Eine
technisch genaue Rekonstruktion nach der Selbstbiographie des Kölners Hermann
von Weinsberg, um 157S: Hemd, Wams und Strumpfhose, Samarie (Kittel) und Schaube
(Rock), Mantel. — (J. B.)
Helene Dihle, Deutschtum und Mode (Zs. f. Deutschkunde 1925, 179—191). —
Ein interessanter, quellenmäßiger Überblick über den Kampf wider die Aus¬
schreitungen der Mode vom 13. bis ins 19. Jahrhundert. — (J. B.)
Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie. 2. Auflage. Stoicheia, hsg.
v. F. Boll, Heft 7). Leipzig und Berlin, Teubner 1925. V, 195 S., geh. SM., gebd. 10 M. —
Die Xeuauflage des oben 34, 45 angezeigten höchst verdienstvollen Werkes bringt den
Text unverändert, die Xachträge außerordentlich stark vermehrt, besonders durch Er¬
gänzungen, die der inzwischen verstorbene Boll und Eisler beigesteuert haben. Zu S. 151
(Lospolyeder) vgl. noch Deubners Vermutung Arch. f. Relw. 20 (1920), 157. — (F. B.)
122
Notizen.
Du Kois-Reymoml, Der Bezwinger des Teufels, Dschung-Kuei.Potsdam, Kiepen¬
heuer 1D2‘>. 280 S. 5 M. — Während bekannte chines. Novellentexte oder Stücke aus der
Volksliteratur, wie Lias chai chih i und Chin ku ch'i kuan, immer wieder neue
Uebersetzer finden, ist es mit Freude zu begrüßen, daß der Verfasser uns hier zum
ersten Mal mit einem noch unübertragenen Werk bekannt macht; das Buch vom
Dschung-Kuei bildet mit neun anderen Erzählungen der chines. Volksliteratur die
bekannte Sammlung der TO Meisterwerke’ oder Shih-tsai-tze, die eine beliebte Unter¬
haltungslektüre darstellen und der volkskundlichen Forschung durch die lebendige
Schilderung der chines. Welt wertvolle Aufschlüsse geben können. Die Übersetzung
ist mit großer Liebe angefertigt und erhält durch einen inhaltsreichen Anhang eine
wertvolle Ergänzung. Zu den dort aufgeführten literarischen Bemerkungen wäre noch
von Do res Werk, dort auf S. 252 zitiert, der 10. Bd S. 852—59 heranzuziehen, wo sich
eine übersichtliche Zusammenstellung der Dschung-Kuei Sage befindet. Über den
Verfasser habe ich noch nichts näheres gefunden; zu seinem Dichternamen Tschiao-
Yün-schan jen möchte ich bemerken, daß ich ihn nicht, wie der Übersetzer es aller¬
dings mit Vorbehalt getan hat, mit „Der Mann vom Köhlerwolkenberge“ wieder¬
geben würde, sondern von den oben genannten vier chinesischen Worten je zwei zu¬
sammenfassen würde und übersetzen möchte: der Bergmensch (Eremit) aus Tscliiao-
Yün“; es bleibt natürlich dahingestellt, ob Tscbiao-Yün ein Berg-, Orts- oder sonstiger
Eigenname ist. Doch müssen wir fast immer in solchen Fällen wie hier seban und
jen als feste Verbindung betrachten. Vgl. darüber Hirths ausführliche Bemerkungen
in der Wiener Zeitschr. f. Kunde des Morgenlandes 11 (1897), S. 12G ff. — (W. Fuchs.)
Karl d’Ester, Rheinsagen dem deutschen Volk, der deutschen Jugend gewidmet.
Buchschmuck von K. Mühlmeister, 3. Aufl., Stuttgart, Union Deutsche Verlags-Gesell¬
schaft (1925). 307 S., geb. 9 M. — Von anderen Sagensammlungen aus dem Itheinlande
unterscheidet sich die vorliegende dadurch, daß sie auf eine Reihe bekannter Stoffe
verzichtet, die bereits in J. Reupers in gleichem Verlage erschienenen Deutschen
Sagenschatz aufgenommen sind, und daß sie die Phantasie der jugendlichen Leser
durch recht gelungene farbige Bilder und Zeichnungen anregt. Die Anordnung folgt
naturgemäß dem Laufe des Rheins vom Bodensee bis Düsseldorf ins Bergische Land
und hängt eine Reihe lustiger Schwänke als Schluß an. Die Darstellung, deren Quellen
der Herausgeber nur knapp andeutet, wechselt zwischen Poesie und Prosa und bietet
auch in der letzteren verschiedene Stilarten; neben schlichter Erzählung und mund¬
artlichen Stücken novellistische Ausmalungen von Helene v. Malsen, 0. Brües, D. H.
Sarnetzki und Leo Sternberg, unter denen der letzgenannte freilich etwas aus dem
Rahmen des Ganzen herausfällt. Daß hie und da mündliche Mitteilungen und neuere
Zeitschriften- und Zeitungsartikel berücksichtigt wurden, sei ausdrücklich hervor-
gehoben. — (J. B.)
Eesti Rahva Muuseumi Aastaraamat 1. Tartu (Dorpat) 1925. 4 Bl., 160 S.
— Das 1909 begründete Estnische Nationalmuseum ist in den letzten Jahren zu
stattlichem Umfange herangewachsen; es enthält über 27000 volkskundliche Gegen¬
stände. über 36000 Bände, ungerechnet die Zeitschriften und kleinere Drucksachen.
Diese Sammlungen will das illustrierte Jahrbuch, dessen erster Band uns vorliegt,,
für die estnische Volkskunde verwerten. Die einzelnen Aufsätze werden durch aus¬
führliche Referate in deutscher Sprache (S. 145 160) auch den Ausländern zugänglich,
gemacht: M. J. Eisen, Der Hirt (S. 12 Abbildung des oben 20, 317 besprochenen
Klingelstocks). A. M. Tallgren, Die vorgeschichtlichen Gegenstände im National¬
museum. L. Kettunen, Hochzeitsgebräuche der Wepsen. J. Manninen, Die Ge¬
bäude der Setukesen I. F. Leinbock, Die Huf- und Korbmützen. H. Moora und
W. Anderson, Der Münzfund von Kohtla. Der Depotfund von Pilistvere. G. Wil¬
berg, Fischfang in älterer Zeit. J. Manninen, Die Volkstracht der Kreewinen.
Die volkskundlichen Sammlungen im Museum. — (J. B.)
H. Eichblatt, Sagen, Volksglaube und Bräuche aus Demmin und Umgegend,,
gesammelt und lisg. Demmin, W. Gesellius 1925. 38 S. mit drei Bildertafeln, geb.
2,70 M. — Der Heimatkunde und Heimatliebe sollen die 51 hier aus mündlicher
Überlieferung und gedruckten Werken geschöpften Sagen und die angereihten 31
Nummern vorpommerschen Volksglaubens und Brauchs dienen, deren Quellen im
Anhang sorgsam verzeichnet werden. Die Unterirdischen heißen in Nr. 33 Heiducken,
über die Entstehung eines Kobolds aus einem Sparei (Nr. 58) vgl. oben 28,41. — (J. B.)
M. J. Eisen, Estnische Mythologie. Vom Verfasser revidierte und mit Anmer¬
kungen versehene Übertragung aus dem Estnischen von Dr. Eduard Erkes. Leipzig,
Harrassowitz 1925. 223 S. Geh. 6 Mk., gebd 8 Mk. — Professor Eisens ‘Eesti mtito-
loogia’ ist 1919 erschienen und liegt nunmehr dankenswerter Weise in deutscher
Übersetzung vor. Kein Forscher war mehr dazu berufen, dieses Werk zu schreiben,
denn Eisen hat Zeit seines Lebens sich der Erforschung des estnischen Volkstums,
hingegeben und das gewaltige handschriftliche Material von über 50000 Seiten selbst
und mit Hilfe seiner im ganzen Lande verstreut lebenden Mitarbeiter gesammelt..
Notizen.
123
Nun bietet er uns eine reife Frucht seines Wirkens. — Eisen gibt eine Darstellung
seines Materials inbezug auf estnische Glaubenstiberlieferungen und verarbeitet auch
die überaus spärlichen älteren gedruckten Quellen, Chroniken, Berichte und dgl.
Das gewonnene Bild ist — alles in allem genommen — einfach und bodenständig;
unkompliziert im Glaubensinhalt und wenig durchschossen mit fremdem Lehngnt.
Es ist guter Eigemvuehs, nah verwandt dem Finnischen, wesentlich beeinflußt erst
durchs Christentum. Deutsche und russische nachbarliche Einwirkungen sind außer¬
ordentlich unbedeutend. — Die Darlegung behandelt: den Zauber, atmosphärische
Erscheinungen, den Werwolf, die Totenwelt, Dämonen des Hauses und in der Natur,
das Schatzwesen, die Unterwelt, Heroen und Götter und das Ritual. Estnische (und
z. T. finnische) Sonderbildungen gegenüber den deutschen Vorstellungen betreffen
u. a.: das Nordlicht, den dunklen, Tod ankündigenden ,Marras 5 und andere Wesen
des Totenreiches, das ‘M e tsik ? -Bild als Schützer der Herden, Teko’ als den Getreide¬
hütenden, dann die dunklen Götter oder einstigen Häuptlinge, wie Vüinämöinen,
Ilmarine, Liimmeküne und die besonders charakteristischen Heroen männlichen
und weiblichen Geschlechts, Kalevipoeg und seine Sippe. Eisen sagt mit vollem
Recht, daß viel Dichtung in den estnischen Glaubensvorstellungen steckt: es ist
oft bewußt-poetische Ausmalung darin, manches Traumgeschautc, Idealisierung und
Belebung der nordisch-strengen Welt. Obwohl Eisen es sonst vermeidet, auf gene¬
tische Zusammenhänge einzugehen, stellt er am Schluß seines Werkes doch die ein¬
leuchtende Folge auf: Älterer Totenkult, Dämonen in der Natur, Kultus der Heroen
und endlich der Götter. In christlich-katholischer Zeit noch blühte der Totenkult
unter dem Einfluß der Verehrung der Heiligen und Märtyrer. Als Wünsche für eine
bald zu erhoffende zweite Auflage seien angemerkt: Verdeutschung estnischer Buch¬
titel, eingehendere Mitteilungen über das wertvolle handschriftliche Material selbst
und ausführlichere Begründung der Altersscheidung und genetischer Zusammenhänge.
(August v. Löwis of Menar.)
S. Eitrem, Lina Laukar. Festskrift til Bibliothekar A. Kjaer, Oslo 1924. S.-A.
10 S. — Die groteske Geschichte des Flateyiarbök (1390) vom Völsi, dem zur Zeit
König Olafs des Heiligen von einer heidnisch gebliebenen Bauernfamilie im nörd¬
lichen Norwegen unter allerlei Zeremonien behandelten Pferdepenis, hat A. Heusler
oben 13, 25 ff. nach Form und Inhalt ausführlich, dann M. Olsen (Flat. II 331 f.) in
Verbindung mit einer Runeninschrift ‘linalaukara’ (Leinen und Lauch, in der Völ-
sizeremonie eine bedeutsame Rolle spielend) besprochen. Eitrem sieht im Gegensatz
zu Heusler (S. 35^ mit den meisten heutigen Erklärern in der Anekdote den Rest
eines Phalluskultes und bringt wertvolle Parallelen aus dem ihm besonders ver¬
trauten Kreise der Antike, besonders der Zanberliteratur. Die aphrodisische Be¬
deutung des Lauchs steht fest; ob man in der Tat der Leinewand, in die der Völsi
gewickelt wird, eine aktive, heiligende und stärkende Kraft anstatt einer nur kon¬
servierenden zuschreiben darf, scheint mir doch zweifelhaft. Zu den Nachträgen
$. 10 (Hund frißt Phallus) könnte man neben dem_ dort angeführten Passus aus dem
Papyrus Leidensis vor allem auf Odyssee XVIII S5 (Echetos) verweisen. — (F. B.)
S. Eitrem, Papyri Osloenses. Fase. I, Magical Papyri, published by Det Norske
Videnskaps-Akademi i Oslo. With 13 plates. Oslo, Dybwad 1925. 51 S. — Die aus
dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammende, auf vorzüglichen Papyrus geschriebene und im
ganzen gut erhaltene Rolle aus dem Fayum enthält neben Zaubersprüchen ver¬
schiedenen Zweckes (gegen Gift, gegen Zorn und dergl.) sieben uycoycu', d. h. Liebes¬
zauber-Rezepte; der gesamte Papyrus ist auf den vorzüglichen beigegebenen Tafeln
faksimiliert, sodaß es möglich ist, nicht nur die Texte selbst, sondern auch die dar¬
unter gesetzten magischen Bilder, Darstellungen der Dämonen mit ihren Opfern u.a.,
genau zu studieren, was den Wert der Veröffentlichung außerordentlich erhöht, zu¬
mal die Texte auch in anderen Zauberpapyri vorkommende Praktiken enthalten, wie
mit Hilfe des Hopfnerschen Buches (s. o. 34, 121) leicht festgestellt werden kann.
Der ausführliche, auf die Übersetzung der Stücke folgende Kommentar Eitrems dient
nicht nur dem unmittelbaren Zweck der Texterklärung, sondern stellt eine vorzüg¬
liche sprachliche und inhaltliche Einführung in die auch für die allgemeine Volks¬
kunde so überaus wichtige Gattung der antiken Zauberbücher dar. Zu S. 74 (omi¬
nöse Bedeutung des Eselgeschreis, Hundegebell apotropäisch sei verwiesen auf
Georgeakis-Pineau, Folkl. de Lesb. S. 302; Huart, L’Etnographie N. S. 1,18; oben 10,408.
Bei dem auf Tafel 1 abgebildeten Dämon w T äre noch darauf hinzmveisen, daß er, wie
das auch sonst auf ähnlichen Darstellungen vorkommt, auf der Brust ein mensch¬
liches Gesicht trägt; nicht sicher scheint mir, daß der Dämon auf Tafel 4 in der
linken Hand ein menschliches Haupt trägt, es könnte sich auch um eine freilich
stark verkürzte ganze Figur handeln. — (F. B.)
Elsaß-Lothringisches Jahrbuch, hsg. vom Wissenschaft). Institut der Elsaß-
Lothringer im Reich, 4. Band. Mit 14 Tafeln und 2 Abb. im Text. Berlin und
Leipzig, de Gruyter & Co. 1925. 212 S. 4°, geh. 8 Mk., gebd. 10 Mk. — Von den Auf-
124
Notizen.
Sätzen des vorliegenden Rundes diber die früheren s. oben 34, 155) ist die Unter¬
suchung von E. Wendling über die Entstehungsgeschichte von Murners ‘Mühle von
Schwindelsheim’ sowie Abschnitt VIII der Bibliographie hier zu nennen, der eine An¬
zahl volkskundlicher Erscheinungen des Jahres 19*23 aufführt. Daß bei den wissen¬
schaftlichen Unternehmungen des Instituts die Volkskunde nicht vergessen ist, zeigt
der Tätigkeitsbericht 1923/24. — (F. R.)
Victor Engelhardt, Die geistige Kultur Indiens und Ostasiens. Erster Teil der
Geschichte der geistigen Kultur. Reclam, Leipzig 1923. 2G0 8. 1,50 M. (U.-R. No. G422
bis 6424.) — Das kleine Werk mit dem etwas anspruchsvollen Titel hält durchaus, was
dieser verspricht. In klarer Weise hat der Verfasser mit verständnisvoller Ein¬
fühlung in die fernliegende Materie fast das gesamte weite Gebiet der indischen und
sino-japanischen geistigen Kultur dargestellt. Das beigegebene Literaturverzeichnis
bietet dem Laien einen geeigneten Wegweiser zur selbständigen Weiterarbeit; doch
gibt die dort angeführte sinologische Literatur zum größeren Teil nur sekundäre
Quellen an und läßt die englischen und französischen Werke primärer Natur ganz
außer Acht. Sogar Forscher wie de Groot und Legge sind nicht namhaft gemacht,
während Chavannes nur nach einem Zitat von Deussen genannt wird. Ferner ver¬
mißt man O. Frankes Kufuzianisches Dogma, Richthofens China, Hirth, Granet u. a.
mehr. Retreffs der Frage der Einführung des Ruddhismus in China sind Masperos
und Pelliots Untersuchungen unberücksichtigt geblieben, die Ming-tis Traum als
reine Legende erweisen; auch sollte der alte Anachronismus, nach dem der Ruddhis¬
mus in China in der Form des Mahäyäna-Buddhismus eingeführt wäre, endlich bald
verschwinden. Die Kleinigkeiten tun dem Werk als solchem durchaus keinen Ab¬
bruch, und die geistvolle und sichere Stoffbehandlung werden dem inhaltsreichen
Bändchen den wohlverdienten Erfolg sichern. — (W. Fuchs.)
Festschrift für Michael Haberlandt. Mit 7 Bildtafeln, 2 Karten, 8 Text-
bildern und 9 Planskizzen. Wien, Verlag des Vereines für Volkskunde 1925. 1 IG S.
— Aus Anlaß des dreißigjährigen Bestehens der „Zeitschrift für österreichische Volks¬
kunde“ und als Fest- und Dankesgabe für seinen langjährigen und unermüdlichen
Vorsitzenden und Herausgeber seines Organs läßt der Wiener Verein diesen reich¬
haltigen Sammelband erscheinen, dessen Aufsätze gleichzeitig in Heft 3—G des 30.
und Heft 1 des 31. Jahrgangs der Zeitschrift herauskommen. Er enthält nach einem
freundschaftlich-warmen Grußwort Rudolf Meringers an den alten Freund und
Forschungsgenossen und einem Vorwort des Herausgebers (A. Haberlandt), das über
das Zustandekommen des Heftes berichtet, folgende Aufsätze: L. R adermach er,
Der ‘Lehrer’ des Herondas (s. u.), N. Zegga, Die Münze als Schmuck, E. Schnee¬
weiß, Primitive Fischerhütten am Ochridasee, M. Sch midi, Beiträge zur Kenntnis
der Trachten von Südwest-Bulgarien, II. Wopfner, Über eine alte Form des alpinen
Hausbaues, V. Geramb, Die geographische Verbreitung und Dichte der ostalpinen
Rauchstuben, E. Oberhummer, Volkskundliches aus Schweden, J. Leisching, Das
Salzburger Volkskunde-Museum, E. Fries, Zwei alte österreichische Gesellschafts¬
spiele, J. Strzygowski, Zur Rolle der Volkskunde in der Forschung über bildende
Kunst, R. Schömer, ‘Geanmaul und Maulauf, A. Haberlandt, Die Bauernhaus¬
formen im deutschen Volksgebiet. Ein Bildnis des Meisters ist dem ganzen voran¬
gesetzt. — (F. R.)
Hans Find eisen, Sagen, Märchen und Schwänke von der Insel Hiddensee.
Stettin, Saunier 1925. VII, 7G S. 2.20 Mk. — Unser Mitarbeiter, der sich um die Volks¬
kunde der kleinen Ostseeinsel schon in mehreren kleineren Arbeiten verdient ge¬
macht hat, stellt hier 53 Texte zusammen, die er bis auf ein Stück aus Saxo Gram-
maticus aus dem Volksmund unmittelbar aufgezeichnet, aber — aus äußeren Gründen
— ins Hochdeutsche übertragen hat. Auf Ortssagen folgen Schwänke (darunter
mehrere auf Friedrich II. bezügliche), Tiergeschichten und Märchen, ln den meisten
Fällen handelt es sich um auch anderwärts belegte Stücke, wofür in den Anmerkungen
Nachweise gegeben werden. Die Sorgfalt, die F. auf diese und auf das Sachregister
verwendet hat, heben das kleine Buch weit über das Niveau anderer lokaler Sammlun¬
gen. Originelle Federzeichnungen von W. Guggenheim schmücken den Band, dem
ein zweiter, Lieder, Rätsel u. dgl. umfassend, demnächst folgen soll. — (F. B.)
Max Förster, Die altenglischen Traumlunare (Englische Studien 60, 58—93). —
Für uns ist das Ergebnis wichtig, daß alle noch heilt in Europa lebendigen Arten
der Traumdeutung auf antike Vorbilder zurückgehen, sowohl die Stechorakel als die
alphabetischen Listen (nach dem aus dem Griechischen übersetzten ‘Somniale
Danielis’, Archiv f. n. Spr. 127,53) und die nach den 2S Mondphasen geordneten
Traumbücher. Ob bei dieser dritten Gruppe babylonischer Einfluß zugrunde liegt,
muß noch untersucht werden; zu vergleichen wären auch einige mittelalterliche Los¬
bücher (Wickram, Werke 4,298). — (J. B.)
Notizen.
125
Kuno Franc ke, Haiulbook of the Germanic Museum. 5. revised edition. Cam¬
bridge, Mass., Harvard University 1925. IX, 58 8 mit Tafeln. — Das 1901» erüffnete
Germanische Museum der Harvard University, das 1921 in einem stattlichen, nach
Bestelmeyers Plänen ausgeführten Neubau untergebracht wurde, umfaßt, eine me¬
thodisch und mit feinem Kunstverständnis ausgewählte Sammlung von Abgüssen be¬
zeichnender Werke der deutschen Plastik von den ältesten Zeiten bis auf die Gegen¬
wart. Es ist ein bewundernswertes Seitenstück zu dem Buche seines Begründers
‘Die Kulturwerte der deutschen Literatur'. Sein Führer durch die Sammlung unter¬
scheidet sich von anderen Museumskatalogen durch fortlaufende Hinweise auf die Fach¬
literatur, die den Besuchern in der Museumsbibliothek zur Verfügung stehen. — (J. B.)
Goswin Frenkeu, Wunder und Taten der Heiligen. München, F. Bruckmann 1925.
XXXI, 234 S. 16 Taf. geb. 9 Mk. (Bücher des Mittelalters hsg. von F. v. d. Leyen). —
Diese aus reifer Überlegung entsprungene Lese mittelalterlicher Heiligengesehichten
nimmt nicht die Erbauung gläubiger Leser zum Ziele, sondern die Förderung literar¬
und kulturgeschichtlicher Erkenntnis. F. betrachtet die Legende als eine Art der
Sage, die sich um eine religiöse Persönlichkeit rankt und sie mit Elementen des
Märchens und des Göttermythos schmückt. Sie zeigt uns Martin von Tours oder
Franz von Assisi nicht, wie sie waren, sondern wie sie der Nachwelt, und zwar nicht
bloß einzelnen phantasiebegabten Dichtern, sondern dem ganzen mittelalterlichen
Volke erschienen. Nachdem bereits viele tüchtige Gelehrte, wie Usener, Delehaye,
Günter, Toldo u. a. Licht über die in den Legenden waltende geistliche Fabulierkunst
verbreitet haben, versucht F. in der Einleitung die Grundzüge ihrer Entwick¬
lungsgeschichte zu entwerfen, die im Orient mit den apokryphen Evangelien und
Apostelgeschichten und den Geschichten einzelner Märtyrer beginnt und in Rom,
später in Gallien, Spanien, England und Irland Nachfolge fand. Die Wunderkraft
der Märtyrer, von der Papst Damasus zu Ende des 4. Jahrh. noch nicht viel zu be¬
richten wußte, ward durch neuerfundene Beispiele gesteigert; dann treten Mönche
und Einsiedler als Helden der Legenden auf; der Reliquienkult vermehrte das all¬
gemeine Interesse an solchen; Cluniacenser, Cistercienser, Dominikaner wetteiferten
in der Verherrlichung der Jungfrau Maria, und auch unter den im 13. Jahrh. von
den Volkspredigern eingeflochtenen ’Exempla’ spielen die Legenden keine geringe
Rolle. Für all diese Gruppen führt F. auf S. I—179 lateinische, italienische und
deutsche Beispiele in Prosa und Versen, oft nur charakteristische Bruchstücke vor
und erläutert in sachkundigen Anmerkungen und ausführlichen Literaturangaben,
die nicht weniger als 52 Seiten umfassen, Quellen und Verwandtschaft der Motive.
Mehrfach fügt er dem Text auch umfängliche Parallelen aus dem Talmud, indischen
Erzählungen, und antiken Autoren (Vergil, Lucian, Pausanias) an, die wohl besser
ihren Platz in den Anmerkungen gefunden hätten. Den Schluß macht die paro-
dische Legende des heiligen Niemand. Daß der Verlag für eine würdige, ja elegante
Ausstattung des verdienstvollen Buches gesorgt hat, sei ausdrücklich hervorgehoben;
doch sind die trefflichen Reproduktionen schöner mittelalterlicher Miniaturen ohne
Unteischrift geblieben und willkürlich im Text verstreut. — (J. B.)
Wilhelm Gemoll, Das Apophthegma. Literarhistorische Studien. Wien, Hölder-
Pichler-Tempsky A.-G. 1924. VIII, 178 S. geh. 5 M. geb. 6 M. — Nach sprachlicher
Definition des Begriffes Apophthegma („kurze, ernste oder witzige, treffende Streit¬
rede“) und verwandter Ausdrücke gibt der Verfasser Proben dieser Literaturgattung
und behandelt sodann ihre Verbreitung auf mündlichem Wege und in den zahllosen
Sammlungen vom Altertum bis zur Neuzeit. Dieser erste Teil des Buches bietet eine
nützliche Übersicht, gewürzt durch reichliche Beispiele der Gattung. Dann aber
schlägt der Verfasser Wege ein, auf denen man ihm nicht folgen kann. Ausgehend
von den „Motiven der Handlung“ lässt er nämlich aus dem Apophthegma zahlreiche
Formen der epischen und didaktischen Poesie, Fabel, Epigramm, Ballade, Diatribe,
Novelle, Roman, ja auch die Anfänge der Geschichtsschreibung hervorgehen. Mangel
an Kritik und eine immer wieder auf Seitenwege abschweifende Darstellung würden
diesen Teil des im ganzen verfehlten Werkes ungenießbar machen, wenn man nicht
mehrfach auf gute Einzelbemerkungen stiesse und durch immer neue Proben von
Anekdoten auf der mühevollen Wanderung einigermassen erfrischt würde. — (F. B.)
Fr. Giese, Türkische Märchen. Jena, E. Diederichs 1925. 307 S. Pappbd. 4. M.,
Halbleder 7 M. (F. v. d. Leyen u. P. Zaunert, Märchen der Weltliteratur). — Ein treff¬
licher Kenner, der 1907 in Kleinasien türkische Märchen sammelte, gibt hier Proben
von Volksmärchen und Kunstmärchen. Zu den ersteren gehören die 1923 bereits
von Th. Menzel übertragenen 14 Stücke des Billur kjöschk (oben 34, 169), andere
aus zwei ähnlichen neueren Volksbüchern und (Nr. 15—19) aus eigenen Aufzeichnungen.
Als Kunstmärchen (Nr. 22—66) erscheinen Erzählungen der auf indische und arabische
Vorbilder zurüekgehenden Literaturwerke Tutiname (deutsch von G. Rosen 1858),
Humajunname (Souby Bey 1913), und Vierzig Veziere (Behrnauer 1852). Leider be¬
schränkt sieh G. auf ganz allgemeine Bemerkungen über die Quellen. Ist es denn
120
Notizen.
aber von einem Buche, das doch auch der gelehrten Forschung dienen will, zu viel ge¬
fordert. daß durch knappe, aber genaue Hinweise auf die Fundstellen und die stoff¬
geschichtlichen Handbücher, vor allem Chauvins Bibliographie arabe, die Arbeit des
Benutzers erleichtert wird? Geht doch auch die von Gicse aus dem Volksmunde
aufgezeichnete Geschichte Dschihanschas (Nr. 16 direkt auf die 1001 Nacht (Chauvin
7, 31) zurück. Ferner notiere ich: Nr. 15 (der gestiefelte Kater. Boltc-Polfvka 1, 333);
17 Dietrich von Glczze, Der Borte. R. Köhler 2, 171); 18 (die goldharige Jungfrau.
Bolte-P. 3, 30); 20 (Eustachius. Oben 28, 154;; 21 (Doktor Allwissend. Bolte-P. 2, 407),
22-40 (Rosen 1, 30 usw. Benfev, Kl. Sehr. 3. 70 usw.); 41—63 (Chauvin 2, 115. 86. 87.
88. 166. 8S. 117. 38 00. 01. 118. 03. 120. 90. 07. 116. 10O. 12*2. 123. 124. 128); 64-66
(Chauvin 8, 123. 130. 7, 75). — (J. B.)
M. J. bin Gor io n BerdyczcwskD, Messias-Legenden, gesammelt. Tübingen,
A. Fischer 1026. 63 S., kl. 8". geb. 2,80 Alk.. — Die hier aus Talmud und Midrasch zu¬
sammengestellten Legenden schildern die wunderbare Geburt des Messias in Bethle¬
hem, sein Leiden und den frühen Tod, auch sein vorweltliches Dasein. Für die Zu¬
sammenhänge mit den christlichen Vorstellungen verweist die Übersetzerin und Her¬
ausgeberin Rahel Ramberg auf A. Wünsche, Die Leiden des Messias (1870) und
Dalman, Der leidende Messias (1S88). Angehängt sind Märtyrerlegenden von den
sieben Brüdern und den Knaben Nahaman und Gadiel. — (J. B.)
Joseph Görres, Die deutschen Volksbücher. Mit einem Nachwort hg. von Lutz
Mackensen. Berlin, H. Stubenrauch 1025. XVI, 352 S. 6 Al. — Es handelt sich
wieder um eine bibliophile Ausgabe des um unsere Wissenschaft so verdienten Ver¬
lages. Diese ungekürzt nach der Originalausgabe von 1807 erneuerte Schrift ist eins
der wichtigsten Denkmäler der nationalromantischen Bewegung in Deutschland und
eine wichtige Quelle für die Geschichte der Bewertung erzählender Volksliteratur.
Das 40 Seiten lange gediegene Nachwort des jungen Aleisters unterrichtet erschöpfend
über Entstehung und Aufnahme des Buches. Eine eingehende Darstellung über die
Volksbuchforschung aber konnte hier umso eher unterbleiben, als er ihr in einer
demnächst erscheinenden Schrift über die Volksbücher einen besonderen Abschnitt
widmen wird. — (Hermann Kügler.)
G. Gräber, Kärntner Volksschauspiele, 1: Weihnachtsspiel. 2: Das Kärntner
Paradeisspiel. Kärntner Jedermann. 3: Das Kärntner Spiel vom Leiden und Sterben
Christi. Wien, Österreichischer Schulbücherverlag 1922-23. 52, 65, 134 S. 7800, 7800,
13S00 Kr. (Deutsche Hausbücherei 68, 73, 82). — Aus den Kärntner Volksdramen,
die bis heut von bäuerlichen Spielern lebendig erhalten werden, greift G. vier be¬
sonders beliebte heraus. Das AVeihnachtspiel, für das ihm 8 Handschriften zur Verfügung
standen, reicht von der Verkündigung bis zum Tode des Herodes. Das Paradeisspiel,
verschieden von dem in der Carinthia 1S94 gedruckten, enthält außer der Erschaffung
Adams und dem Sündenfall auch den Prozeß wider Adam, in dem nach Luzifers
Anklage Gerechtigkeit und Barmherzigkeit mit einander streiten; es stammt von
einem gebildeten Verfasser des 17. Jahrh. her, der sich nicht an Hans Sachsens
„Schöpfung“ anschloß. Dem 18. Jahrh. gehört der Prozeß um den sterbenden Menschen
an, den Satan und der Schutzengel vor dem Erzengel Alichael führen, bis Alaria den
bußfertigen Sünder rettet. Das umfangreiche Passionsspiel, bei dem 12 Hss. zu Rat
gezogen wurden, hat manches mit dem Augsburger Drama des 15. Jahrh. gemeinsam,
das Hartmann 1880 als einen Vorläufer der Oberammergauer Passion nachwies, (z. B.
das Aufzählen der 30 Silberlinge für Judas’ Verrat auf S. 3S) und mag in seiner ersten
Gestalt noch vor 1600 in Kärnten aufgeführt worden sein. Dann aber ist der Text
häufig umgearbeitet worden, ein Schäferspiel vom guten Hirten im Geschmack der
sentimentalen Jesuitendichtung des 17. Jahrh. ist vorangestellt, andere Stellen, wie
die Schmähreden der Juden oder das im Kanzleistil abgefaßte Todesurteil Jesu und
die dienstlichen Aleldungen der Offiziere wirken grob oder steif. Eingestreut sind
geistliche Lieder, die als Arien wohl für den Gesang bestimmt waren, und das
Aletrum zeigt neben den alten vierhebigen Reimpaaren auch zwei- und dreihebige
Verse mit überschlagenden Reimen und Alexandriner. — (J. B.)
G. Gräber, Der Kärntner Totentanz. Komödia von dem grimmigen Tode. Im
Anhänge: Lieder vom Tod und den letzten Dingen. Wien, Österreichischer Schul¬
bücherverlag 1024. 82 S. (Deutsche Hausbücherei 129). — Die beiden aus der AIoos-
burger Gegend stammenden Spiele führen den Dialog der mittelalterlichen Toten¬
tänze in würdiger und wirksamer AVeise weiter aus und rahmen die einzelnen Szenen
durch Liedstrophen ein: die 12 Alelodien des ersten Stückes sind mitgeteilt. Im zweiten
Stücke tritt Hanswurst als Gehilfe des Arztes auf. Angehängt sind 11 verwandte
Liedertexte. — (J. B.)
O. v. Greyerz, Die Alundartdichtung der deutschen Schweiz geschichtlich dar¬
gestellt. Leipzig, Haessel 1924. 117 S. (Die Schweiz im deutschen Geistesleben 33). —
AVer schweizerisches Denken und Fühlen aus Schriftwerken herauslesen will, wird
Notizen.
127
neben dem älteren Volksliede die im IS. Jahrh. anhebende mundartliche Dichtung
zu Kate ziehen müssen. Zum ersten Male erhalten wir hier eine zusammen fassende
Darstellung derselben. Einleuchtend charakterisiert G. ihre Unterschiede von der
schriftdeutschen Literatur und führt die einzelnen Gattungen (Lyrik, Idylle, Kinder¬
poesie, Verserzahlung, seit 1835 auch Prosaerzählung, endlich Drama) und Perioden
übersichtlich vor. Ihre Vertreter sind durchweg gebildete Städter, deren Namen
großenteils auch außerhalb der Schweiz berühmt wurden, wie Usteri, Stutz, Schild,
Ä. Frey, Haller, v. Tavel, Lienert, Gfeller. — (J. B.)
Wilhelm Gundel, Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der
Neuzeit. Bonn und Leipzig, Schröder 19*22. VII, 353 S. gebd. 6 Mk. — In einer
fleißigen und umfassenden Arbeit geht der Verf. auf das jetzt ja sehr zeitgemäße
Gebiet des Sternglaubens ein und behandelt die verschiedenen Deutungen und Be¬
ziehungen der astralen Kräfte, wie sie die menschliche Gläubigkeit seit uralten Zeiten
angenommen und bis in unsere Zeiten mit großer Kraft und Zähigkeit festgehalten
hat. Gerade jetzt sind Anzeigen und Reklamen auf diesem Gebiet wieder ständige
Erscheinungen selbst großer und hauptstädtischer Zeitungen. G., Mitarbeiter der großen
Pauly-Wissowa-Kroll’schen Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft
und ein Schüler des schon dahingerafften Franz Boll — behandelt das schwierige
Gebiet nach den verschiedensten Ausgestaltungen bis in die allerletzte Zeit und be¬
rücksichtigt dabei auch ausgiebig die Volkskunde. Dabei kommt aber grade die deutsche
Volkskunde sehr schlecht weg, wie denn schon auf S. 2 „der große Bär“ unter den volks¬
tümlichen Sternbildern erscheint. Der große Wagen mit seinen vielen Sagen ist aber
doch für unser deutsches Gebiet ungleich bedeutungsvoller. Leider ist der Verf. scharr
gegen den Panbabylonismus eingestellt und übersieht so ganz den anderen Forschern
sicheren Zusammenhang des Sternhimmels mit dem landwirtschaftlichen Jahre, das
doch irgendwo und irgendwie in Vorderasien in Zusammenhang mit dem Vorwiegen
des Getreidebaus und der Verwendung von Pflug und Rind aus einer älteren I orm
des An bans entstanden ist. Wenn ich dieses Zusammenwachsen unserer Landwirt¬
schaft nach Vorderasien lege, so geschieht es in Verbindung mit Schweinfurth, der
sich gegen Ägypten aussprach, das ihm doch sicher nahe genug stand. \ on diesem
Gesichtspunkt aus und namentlich im Zusammenhang mit den geographischen Unter¬
lagen für die Jahreseinteilung, die auch für das Zweistromland und sicher gegen
Ägypten sprechen, ließe sich die ganze Untersuchung gerade für uns noch nach
vielen Seiten mit gutem Erfolge ausbauen und vertiefen. — (Eduard Hahn.)
Julie Heierli, Die Volkstrachten der Schweiz, 2. Band: Die Volkstrachten der
Ostschweiz. Thurgau, St. Gallen, Glarus. Appenzell. Mit 13 farbigen Tafeln und Ul
Schwarz-Abbildungen und Schnittmusterbogen. Erlenbach-Zürich, München und
Leipzig, Eugen Rentsch 1924. 10G und 64 S. 4°. — Daß von den fast ganz geschwundenen
Schweizer Trachten noch ein so vielgestaltiges Bild zu geben war, ist dem bewunderns¬
werten Fleiß und der vorbildlichen Gründlichkeit zu danken, mit denen Julie Heierli,
wie im ersten Bande, (s. oben 33/34 S. 162) ihre Aufgaben als Chronistin und
Forscherin erfüllt hat. Dem Verlage aber gebührt für die vornehm-künstlerische
Ausstattung des Werkes erneuter Dank. Es fällt auf, daß sich schon früh alleroiten
städtisch-französische Modeeinflüsse geltend machen, und dies ist wohl der Giund,
der die Verfasserin zu dem kategorischen Satze veranlaßt: „die Volks- und Bauern¬
kleidung fußt immer auf veralteten Stadtmoden, also auf veralteten Allerweltsmoden.
Vermeintliche bodenständige Eigenarten finden oft irgendwo in der Ferne ihre
Analogien.“ „Immer“ ist etwas zu viel gesagt Auch in der Schweiz ist noch jenes
Rock- und Miedergewand nachweisbar, dessen Vorläufer bis auf Moorfunde aus vor¬
geschichtlicher Zeit zurückgehen, und die Analogien in der Ferne weisen zuweilen
bodenständige Zusammenhänge nach, die zwar nicht in der Erdkrume, aber im
Blut wurzeln. Ein Beispiel: die Abbildungen 25, 26 zeigen eigentümliche Hache
Lederkappen der Sennen. Nach Fritz Spindlers Elsässischem Trachtenbuch ^winden
genau ebensolche früher von den Sennen der Hochvogesen getragen. In W iirttem-
berg aber zeichnet sich der Betzinger, dessen interessante Eigenart schon manchen
Volksforscher zu den gewagtesten Hypothesen bewogen hat, unter der gesamten
deutschen bäuerlichen Landsmannschaft durch seine einzigartige Kopfbedeckung aus,
die er Schmalzkappe nennt und die der der schweizerischen und elsässischen Sennen
vollkommen gleicht, nur daß sie jetzt meistens ohne Bordüre getragen wird. Da die
stark hervortretenden Besonderheiten der Betzinger von der Forschung endgültig als
rassiges Erhalten rein alemannischer Art erkannt worden sind, so ist die Folgerung
wohl nicht allzu kühn, wenn wir diesem Trachtenstücke, das sonst nirgends anzu¬
treffen ist, ein sehr hohes, auf stammesartliclie Zusammenhänge zurückzuführendes
Alter zubilligen. In der Fülle der Übergangs- und Allerweltsmoden, welche die Volks-
trachtenforschung mit einem sehr großen Ballast beschweren, sind solche Funde
Lichtblicke für den Forschenden. Besonders vielgestaltig ist die Überschau weiblicher
Kopfbedeckungen, und man muß den Ostschweizerinnen zuerkennen, daß sie viele,
128
Notizen.
im 17., iS. und 19. Jahrhundert allgemein verbreitete Kopfzierden mit anerkennens¬
werter Eigenart ausgebildet haben. Was uns Deutsche aber wiederum besonders
fesselt, ist der Nachweis von Zusammenhängen mit heimischen Trachtenstücken, so
den in Ravern und Schwaben einst weit verbreiteten Rad- und Reginahauben im
Thurgau und im Appenzeller Land. Auch begrüßen wir in der Stofeikappe die
schwäbische Haube, wie sie, vor allem in den Neckargegenden, als Grundform unter
den Rädern aus Chenille oder Goldspitze steht. Sie der braunschweigischen zu
vergleichen geht nicht an, da diese von völlig anderer Struktur war. Wohl aber
gleicht ihr die elsässische Nebelkappe in der Schnittform. — Die Arbeit von Frau
Heierli stützt sich auf ein umfangreiches Quellenmatcrial, das sie bereits in den
lSSOer Jahren zu sammeln begann. Aufzeichnungen in Mandaten der Obrigkeiten,
Notizen von Chronisten und Forschern, Familienbilder, Museumsstücke sowie münd¬
liche Überlieferungen ergänzten einander und boten die Möglichkeit zu Schlußfolge¬
rungen. Wenn wir den Grundsatz gelten lassen, daß Trachten und Moden der Aus¬
druck von Epochen und Kulturen der Völker in der Kleidung sind, dann stellt dieses
Werk ein bedeutsames Stück Schweizer Kulturgeschichte dar. — (Rose Julien.)
A. Hcintze, Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geographisch, sprach¬
lich. 6 verbesserte und vermehrte Auflage, hsg. von Paul Cascorbi, Halle, Waisen¬
haus 1925. VIII, 396 S., gebd. 15 Mk. — Das große Interesse für Familienforschung,
das sich für unsere dem Familienleben nicht eben günstige Zeit heute allenthalben
heobachten läßt, erklärt die Schnelligkeit, mit der die letzten Auflagen dieses Huches
einander gefolgt sind, das seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1S82 die beste
volkstümliche Darstellung der Namenkunde darstellte. Der Herausgeber, der die
Neuauflagen seit 1908 besorgt, hat sich immer bemüht, die Ergebnisse der modernen
Namenwissenschaft zu berücksichtigen, die ja z. T. von Förstemanns Theorie wesent¬
lich verschiedene Wege eingeschlagen hat. Besonders die vorliegende, an Umfang
beträchtlich gewachsene Neuauflage ist in der Ableitung der Familiennamen von
altdeutschen Personennamen sparsamer und vorsichtiger geworden, als die früheren;
stellenweise wäre vielleicht eine noch größere Zurückhaltung am Platze gewesen Die
vielen für Namenkunde Interessierten werden dem Herausgeber und dem Verleger,
der das Buch in ein vorzügliches, äußeres Gewand gekleidet hat, dankbar sein dürfen,
nicht zuletzt die Lehrer, denen ja die Unterrichtsreform die Behandlung der Namen
zur Pflicht gemacht hat. — (F. B.)
P. Heitz und F. Ritter, Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volks¬
bücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur.
Straßburg, J. H. E. Heitz 1924. XVIII, 219 S. 15 M. — Mit aufrichtigem Dank begrüßen
wir ein Unternehmen, das als ein längst ersehntes Hilfsmittel dem Studium unserer
alten Volksliteratur die Wege bahnt. Längst hat Heitz, der glückliche Besitzer einer
reichen Fülle alter Straßburger Holzstöcke, der Buchdrucker-, Kunst- und Literatur¬
geschichte des 15. und IG Jahrh. fruchtbringende Tätigkeit zugewandt; hier bietet
er ein Handbuch, das als eine wertvolle Ergänzung zu Goedekes Grundriß die Drucke
der älteren deutschen Volksbücher und die Forschungen darüber bis zur Gegenwart
überschauen läßt. Anders als Görres in seinem Büchlein v. J. 1806 schränkt er den
Begriff des Volksbuches auf die Bearbeitungen mittelalterlicher Roman- und Novellen¬
stoffe sowie die Schwanksammlungen ein und schließt die nach 1600 entstandenen
Geschichten wie die ‘Genovefa’ und den ‘Herzog von Luxemburg’ aus, wenn er auch
den ‘Ewigen Juden’ und den ‘Gehörnten Siegfried’ aufnimmt. Ebenso bleiben die
Tierfabeln und Reisebeschreibungen (abgesehen von ‘Mandeville’ und ‘Lucidarius’)
fort. Eine gewisse Inkonsequenz könnte man auch darin erblicken, daß neben
Wolckensterns ‘Ismenius’ der ‘Lucius’ Wyles fehlt, und daß von Wickrams Romanen
zwar der ‘Galmy’ und ‘Gabriotto’, aber nicht der ‘Goldfaden’ und ‘Knabenspiegel’ ver¬
zeichnet wird. Auch Boccaccios Decameron scheint mir nicht genügend berück¬
sichtigt; ich würde sowohl Arigos ‘Centonovella’ (Montanus ed. Bolte S. XIII) wie die
darauf beruhenden Erzählungen ‘Cimon’ (Montanus S. 235; vgl. Heitz S. 74 ’History’j
und ‘Thedaldus und Ermilina’ (Montanus S. 183) aufnehmen und zu ‘Andreützo’, ’Vier
Kaufleuten’ und ‘Thorelle’ auf Decameron 2, 5. 2, 9. 10, 9 verweisen. Und da sich
die Verfasser, wie das Beispiel des ‘Grafen im Pflug’, des ‘Peter Leu’, des Siegfrieds¬
liedes und des ‘Thedel von Walmoden’ zeigt, nicht auf Prosawerke beschränken,
möchte ich auch für ‘Hertzog Heynrichs genannt Lewen History’ (Straßburg, Chr.
Müller 1561. Goedeke 2, 474. ln Breslau) plaidieren. Mit diesen Bemerkungen
möchte ich jedoch keineswegs das Verdienst der Bearbeiter verkleinern, die in jahre¬
langer Mühe die einzelnen Drucke nach Seitenzahl, Holzschnitten und Aufbewahrungs¬
ort registriert und mit sorgsamen Nachweisen der Literatur darüber versehen haben.
Ebenso sollen die folgenden Nachträge, die auf einzelne Druckversehen nicht ein-
gehen, nur ein Ausdruck des Dankes sein. — S. XVI: Hayn-Gotendorf, Bibliotheca
Germanorum erotica. — S. 10. Über die Bearbeitungen der Volksbücher in Meister¬
liedern vgl. Bolte, Archiv f. n. Sprachen 127, 299f. — 12Brissoneto, 1568 Frank-
Notizen.
129
furt (Bremen); o. J. Frankfurt, W. Han (Frankfurt a. M.); 1682 Nürnberg (Berlin. Bolte-
Polivka, Märehenanmerkungen 2, 23). — 14 Buch der Weisheit. Chauvin, Biblio¬
graphie arabe 2,61. Ausgabe von Holland, Stuttg. 1860. — 18 Camillo und Kmilie
Leipzig 1850. Bandel-Belleforest, Hist, tragiques 7, 113a (1595). Harsdörffer, Mord-
^eschiehten 1G56 S. 439. — 18 Christoffel. Von V. Schumann; vgl. S. 133. —
19. dauert, 1619 Erfurt (nicht niederdeutsch, ln Hamburg). 1652 Erfurt. — 24 Herzog
Ernst. 1558 Frankfurt, W. Hanen Erben (Berlin). — 37 Euriolus und Lucretia.
o. J. Frankfurt, \V. Han (Breslau). — 46 Fier abras, 1603 Collen, Nettessem (München
XJniv.), — 62 Graf in dem Pflug, nr. 207 ist abgedruckt oben 26, 33, vgl. Bolte-
Polfvka 3, 521. Die nd. Prosafassung nr. 208 abgedruckt im Nd. Jahrbuch 42, 60. —
73 Herpin. Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 1920 S. 106 (aueli zu vergleichen
zu S. 75 Hug Schapler und 93 Loher und Maller). Bolte-Polivka 3, 508. — 76 Ismenius.
Hauffen, J. Fischart 1, 171. 2, 402. — 92 Vier Kaufleute. Neu bearbeitet:
Ehrenkrone züchtiger Eheliebe. Magdeburg,J. Franck 1611 (Berlin), o. J. 1664. 1686
(Berlin). — 122 Sieben weise Meister, o. J. Leipzig, N. Nerlich (Bremen). 1618
(Leipzig Stadtb.). Chauvin, Bibi, arabe 8. — 136 Octavian, Frankfurt 1752. o. O.
1755. 1804.— 137 Olivier und Artus. Frölicher, Diss. Zürich 1889. Büchtold, Lite¬
ratur der Schweiz 1892 S. 438. — 146 Rollwagenbüchlein; über zwei weitere Aus¬
gaben J. Wickram, Werke 8, 342. — 159 Schiltwaeht. Ein zweiter Teil wird 1571
und 1574 erwähnt: Pallmann, Feyerabend 1881 S. 165. 171. — 160 Schimpf und
Ernst; vgl. die Bibliographie bei Pauli cd. Bolte 2, 141. — 178 Sigismunda;
vgl. Montanus S. XXVII. - 202 Wegkürzer, nr. 709 in Ulm vorhanden; s. Wickram,
Werke 3,393. Nr. 714 in Stuttgart defekt. — 209 Wigalois, 15S0 Augsburg, Manger
(Berlin). — 213 Wiekrams Erzählung nr. 75 (zuerst 1556, nicht 1577) beruht auf Deca-
meron 5,4 und nicht auf der Sage von Eginhart und Emma. — 216 Giletta, 1520
(in Zwickau). — Natürlich ergibt der in Berlin vorhandene Gesamtkatalog der preu¬
ßischen Bibliotheken noch manche weitere Notiz; die vormals in Celle befindlichen
Drucke sind jetzt in Berlin zu finden. — (J. B.)
K. Helm, Germanenforschung? (Hessische Blätter f. Volkskunde 23, 57—66). —
Eine verdiente Abfertigung zweier Werke, die trotz ihrer jeder Wissenschaft^ hohn-
spreehenden Methode immernoch gläubige Leser finden: Ernst Fuhr mann, Versuch
einer Geschichte der Germanen (Gotha 1923—24) und Franz v. Wendrin, Die Ent¬
deckung des Paradieses (Braunschweig 1924). — (J. B.)
E. Herzog, Despre un basm bucovinean. (Junimea literarä 14, 145—155. 192o)
— Über ein rumänisches Seitenstüek zu dem Grimmsehen Märchen ‘Die drei Hand¬
werksbursehen’ (Nr. 120). — (J. B.)
A. Heusler, Von germanischer und deutscher Art (Zeitschrift für Deutschkunde
1925, 746—770). — Den besten Einblick in die Gesittung der Germanen in vor-
römiseher Zeit gewährt die Heldendichtung, in der das Sippenbewußtsein, die Blut¬
rache und die heldische Sinnesart der Frau hervortreten, während bei anderen Völkern
geschlechtliche Liebe und Vaterland bestimmende Mächte sind. Die deutsche Art
dagegen ist ein zusammengesetztes Wesen und beruht gutenteils auf der Beimischung
südlicher Säfte. — (J. B.)
Heinrich Hintermann, Unter Indianern und Riesenschlangen. Mit 95 Abb.
Zürich und Leipzig, Grethlein & Co. 1926. 330 S. gebd. 16 Mk. — Von seiner
Forschungsreise ins Gebiet der Quellflüsse des Xingii 1924/5 gibt der Züricher Forseher
eine anschauliche Schilderung, die auch viele für die vergleichende \ olkskunde
interessante Züge aus dem Leben der Indianer Zentralbrasiliens enthält z. B. Zeichen¬
sprache S. 229, Haartracht und -zauber (235ff.) Bildzauber (241), Landbau mit Grabstock
und Hacke (246;, elliptische Hausformen (249), lnfibulation (276), Knieen bei der Ge¬
burt (281), Männerkindbett (282). Ein zweiter Teil der Reisebesehreibung (von der
Westküste Südamerikas über den Chimborazo zu den Quellen des Amazonas und diesen
abwärts) soll i. J. 1926 erscheinen. Das Buch ist vom Verlage prächtig ausgestattet,
nur vermißt man eine größere Karte. — (F. B.)
Wilhelm Horn, Der altenglisehe Zauberspruch gegen den Hexenschuß. (S.-A.
aus ‘Probleme der englischen Sprache und Kultur’, Festschrift für Joh. Hoops = Germ.
Bibi. II, 20 S. 88—104.) Heidelberg, Winter 1925. — Der zuerst von J. Grimm und
in neuerer Zeit wiederholt behandelte Segen wird auf seinen Aufbau (zur Konta¬
mination vgl. oben 1923/24 S. 67 f.) und auf seine Einzelmotive hin untersucht; reiches
Stellenmaterial über Bannungsorte, apotropäische Kraft der Metalle u. a. m. — (F. B.)
Heinz Hungerland, Die Sage von der Ankumer Totenmette im Lichte der
Volkskunde und die Weihnachten als indogermanisches Allerseelenfest. Osnabrück
1924. (Mitt. des V. f. Gesch. von Osnabrück 46, 387-413). — Eine westfälische Variante
der bekannten Totenmettensage, welche zwei Tage vor dem \\ eihnachtsfest spielt,
gibt den Anlaß, das Ritual des vorchristlichen Seelenfestes zur Mittwinterzeit zu re¬
konstruieren. Jul wird als Gerauntes, Zauber, Gebet gedeutet, das Bohnenlied soll
den Bohnenkönig ain Dreikönigsabend als einen Totengeist vertrieben haben. — (J. B.)
130
Notizen.
Heinz Hungerland, Die verschollene Osnabrücker Mäusesage im Lichte der ver¬
gleichenden volkskundlichen Forschung (Mitt. des V. f. Gesell, von Osnabrück 46,
:»ö4 — 3SG). — H. stellt die Zeugnisse für die an Hatto I. und II. anknüpfende Kölner
Mäusesage nach Feist (Zs. f. d. dt. Lnterr. 9; dar und weist deren spätere Übertragung
auf den Osnabrücker Bischof Gottfried von Arnsberg (1321—49) nach. — (J. B.)
Heinz Hungerland, Über Spuren altgermanischen Götterdienstes in und um
Osnabrück. Sprachen- und völkervergleichende Forschungen zur Vor- und Früh¬
geschichte Altniedersachsens, vornehmlich der Stadt Osnabrück. ‘Osnabrück 1924.
(Mitt. des V. f. Gesch. von Osnabrück 46, 151—375.) — Mit ausgedehnter Kenntnis der
vergleichenden volkskundlichen Forschungen entwirft der Vf. ein ‘beseeltes Bild 1 des
Kultlebens des alten Sachsenvolkes, wobei es natürlich nicht ohne kühne Hypothesen
abgeht. Die Vermutung eines Chronisten des 16. Jahrhunderts, daß Osnabrück
(Ossenbriigge) seinen Namen von einer Ochsenhaut erhalten habe, womit die Stadt
umzogen war, bezieht er auf die Umhegung eines heiligen Haines (Threcwiti) mit
einem Fellriemen, wenngleich in ähnlichen Fällen nur von Fäden oder Ketten die
Rede ist, und obwohl er selber das Wort als Brücke bei den Götterpfählen (anord.
äss, altsächs. ös) deutet. Andre Lokalbezeichnungen (Pcrnickel, Bucksturm) und Aus¬
drücke (Joljäger, Tyrjagd) führt er auf die Verehrung Donars, Wodans und anderer
Gottheiten zurück. Anschaulich schildert er den Ursprung des Schnatganges, der
Oster-, Pfingst-, Johannistagsbräuche, die Baumverehrung, die Götterbilder und die
Irminsäulen und manches andre. — (J. B.)
Georg Jacob, Geschichte des Schattentheaters im Morgen- und Abendland.
2. völlig umgearbeitete Auflage mit bibliographischem Anhang. Hannover, H. Lafaire
1925. XI, 2S4 S. mit 5 farbigen und 6 schwarzen Tafeln sowie zahlreichen Textab¬
bildungen. 18 51k. — Das Buch bietet in der Tat eine völlige Umarbeitung der ersten,
1907 erschienenen und oben 17, 354 besprochenen Auflage; es enthält eine erneute
kritische Untersuchung aller Nachrichten über das Schattenspiel, erläutert durch eine
große Zahl guter Bilder, und eine ehedem getrennt ausgegebene Bibliographie. Das
wichtigste Ergebnis ist, daß man das orientalische Schattenspiel, bei dem Figuren aus bun¬
tem transparentem Leder oder Horn hinter einem beleuchteten Vorhänge durch Stäbchen
von unten her bewegt werden, durchaus zu scheiden hat von den europäischen
Marionettenkomödien, deren Ursprung ins griechische Altertum zurückreicht. Unsicher
bleibt freilich Ort und Zeit der Entstehung, da Jacob die ältesten aus Indien ange¬
führten Zeugnisse anzweifelt. Erst seit dem 11. Jahrhundert sind sichere Nach¬
richten aus China, Indien und Java vorhanden. Aus dem Osten drang das Schatten¬
spiel zu den Persern und Arabern; drei Spieltexte von dem 1311 verstorbenen ägyp¬
tischen Arzt Ibn Dänijäl, dessen Name auf jüdische Abkunft schließen läßt, schildern
in Reimprosa mit Liedeinlagen die Enttäuschung eines Bräutigams, das Treiben
fahrenden Volkes und einen von zwei Freunden veranstalteten Hahnen-, Widder- und
Stierkampf. Zahlreiche türkische Texte aus späterer Zeit, in denen KaragÖz (= Zigeuner)
als lustige Person die Hauptrolle spielt, sind neuerdings bekannt gemacht worden,
obwohl die mündliche Improvisation stets vieles ändert. In Europa dringt das
Schattenspiel seit dem 17. Jahrh. vor, zuerst durch italienische Darsteller in Deutsch¬
land, wo sieh zu Beginn des 19. Jahrh. die Romantiker seiner annahmen, dann auch
bei den Franzosen. 1907 versuchte Alexander von Bernus in Schwabing bei München
das Schattenspiel neu zu beleben. Statt der bunten Figuren werden vielfach schwarze,
zuweilen mit ausgeschnittenen Innenlinien benutzt. Jacob führt daher auch unsre
Silhouettenkunst auf persisches Vorbild zurück, wie wir ja die Spielkarten, Schach,
Dame und Puff gleichfalls aus dem Morgenlande empfangen haben. Wenn er aber
S. 207 den Papierdrachen eine orientalische Erfindung nennt, so hat er meinen Nach¬
weis seines Vorkommens auf altgriechischen Vasenbildern (oben 17, 355 3 ) nicht be¬
achtet. — (J. B.)
J. Jegerlehner, Walliser Sagen ausgewählt und eingeleitet. Leipzig, Haessel
1922. 119 S. (Die Schweiz im deutschen Geistesleben 10 . — Der hochverdiente
Sagensammler schildert anschaulich das durch das Vordringen der Eisenbahn, der
Fremdenindustrie und Zeitungslektüre veranlaßte Aussterben der*Sage im Wallis,
führt einige seiner Gewährsmänner vor und gibt einen Überblick über die Stoff¬
kreise. Die Texte, die er seinen eignen Büchern und dem älteren Werk von Tscheinen
und Ruppen entnimmt, enthalten aber nicht nur Sagen, sondern auch Novellen
(Ruodlieb, Griseldis) und Märchen (Grimm Nr. 29. 125. 2l9. 96. 71. 105). — (J. B.)
Hugo Jessat, Des Freiherrn von Münchhausen Reisen und Abenteuer. Nach
der deutschen Übersetzung Gottfried August Bürgers neu bearbeitet. Mit Scheren¬
schnitten von Ada Steiner. Breslau, Hirt 1925. 76 S., geb. 1 51. — In der Samm¬
lung „Aus 5Iärchen, Sage und Dichtung“ durften die Geschichten des berühmten
Aufschneiders nicht fehlen. Die vorliegende Auswahl empfiehlt sich durch eine
taktvolle 51odernisierung der Sprache und hübschen Silhouettenschmuck. — (F. B.)
Notizen.
131
Vasyl Jlmec, Kobza ta kobzaii. Z bibliograficnym dodatkom Z. Ivuzeli i z IG ob-
razkamy. (Die Kobsa und die Kobsaren. Mit einem bibliogr. Anhang von Z. K. und
IG Abb., ukrainisch). Berlin 1923, 112 S. (‘Bibliothek des Ukrainsko Slovo’, Nr. 34.
— Ein übersichtliches, populär gehaltenes Büchlein über das ukrainische nationale
Musikinstrument ‘kobza’ und ‘bandura’ und über die Banduraspieler. Der Verfasser,
zurzeit Leiter einer besonderen Bandurakapelle in Prag und ein guter Kenner seines
Faches, gibt hier vor allem eine Charakteristik der meistenteils blinden Bandura¬
spieler und ihrer Lieder und bringt neue Daten über das Leben und Treiben einer
ganzen Reihe von Banduristcn. Neu ist auch eine Variante des historischen Volks¬
liedes über Morozenko und ein Bild von Veresaj. Im Anhang (S. 100-111) ein Ver¬
zeichnis der wichtigsten Literatur, zusammengestellt vom Herausgeber des Buches.
— (Z. Kuziela.)
E. Jungwirth, Alte Lieder aus dem Innviertel mit ihren Singweisen gesammelt,
mit Lautenbaß nach dem Satze von A. Falk. Wien, Österreich. Bundesverlag 1925,
74 S. 3,50 Sch. (Österr. Volkslied-Unternehmen, Kleine Quellenausgabe, besorgt von
C. Rotter, Bd. 1) — Das vor 20 Jahren von J. Pommer angeregte österreichische
Volksliedunternehmen, das ein reiches handschriftliches Material zusammengebracht
hat, beginnt seine Veröffentlichungen mit einer ‘Kleinen Quellenausgabe’ in land¬
schaftlicher Anordnung, der Bearbeitungen für praktischen Gebrauch mit Instrumental¬
begleitung oder im Chorsatz und schließlich eine große wissenschaftliche Ausgabe
folgen sollen. Das vorliegende erste Heft enthält 18 meist auch anderweitig über¬
lieferte Balladen, Soldaten- und Liebeslieder aus Oberösterreich mit genauer Angabe
der Sänger und der Jahreszahl. Die Schreibung der Mundart ist möglichst einfach
gestaltet, für die Lautenbegleitung ist der Melodie ein Buchstabenbaß beigegeben;
über Verbreitung, Ursprung und Wert der Dichtung geben die ziemlich ausführlichen
Anmerkungen Auskunft, denen hübsche Sehlußvignetten folgen. Der kundige Her¬
ausgeber hat somit alles getan, um dem Volke seine alten Lieder wieder lieb zu
machen und zur Ergänzung der einzelnen Gruppen anzuregen. Wir wünschen ihm
besten Erfolg. — (J. B.)
Joseph Klapper, Schlesische Volkskunde auf kulturgeschichtlicher Grundlage.
(Schlesisches Volkstum. Quellen und Arbeiten der Schlesischen Gesellschaft für
Volkskunde, hsg. von Th. Siebs, Bd. 1.) Breslau, Ferdinand Hirt 1925. 348 S., gebd.
14 M. — ‘Volkskunde will nicht zur Pflege von Überlieferungen führen, die ihren
Daseinswert verloren haben, aber sie will die bewußte Freude an dem erworbenen
Besitze, an dem noch heute Wertvollen, Lebensfördernden pflegen und die Ver¬
pflichtung wachrufen, die Volksgüter zu schützen und in gesundem, maßvollem Wandel
den Bedürfnissen des gesamten Volkes entsprechend umzuformen. Volkskunde als
bewußte Bildungsarbeit muß geschichtlich begründet werden.’ (Vorwort.) Wohl ver¬
steht es sich von selbst, daß kein volkskundliches Werk den Weg historischer Forschung
verlassen darf, ohne in Gefahr zu geraten, den Anspruch auf wissenschaftliche Wertung
zu verlieren. Immerhin aber dürfte unter den zahlreichen in letzter Zeit erschienenen
landschaftlichen Monographien keine den organischen Zusammenhang zwischen Volks¬
kunde und Geschichtswissenschaft so konsequent wahren, wie das vorliegende Werk
des um Schlesiens Volkskunde seit lange verdienten Forschers. Daß es nicht in erster
Linie Schlesiens wechselvolle und bunte Kultur-, Bcvölkerungs- und Territorial¬
verhältnisse waren, die ihn diesen Weg einschlagen ließen, sondern grundsätzliche
Stellung, beweisen die angeführten Sätze des Vorwortes. Erstaunlich ist es, welche
Fülle von genau datierten Einzeltatsachen, wörtlichen Zitaten u. dergl. dieser nicht
eben dickleibige Band enthält, und bewundernswert die Kunst, wie über allen diesen
Details die leitenden Gedanken nie aus dem Auge gelassen werden. Um — was auf
beschränktem Raum allein möglich — ein paar Beispiele hervorzuheben: Bei der
Besprechung des Seelen- und Dämonenglaubens wird nicht nur der heutige _ darauf
zurückgehende Aberglaube angeführt, sondern der Versuch gemacht, die z. T. einander
widersprechenden Elemente religionsgeschichtlich zu sondern und herzuleiten, aus
den Hauptmotiven des Volksliedes wird ein Spiegelbild der politischen, sozialen und
kulturellen Geschichte des Landes entworfen, aus den Bezeichnungen der mittel¬
alterlichen Glossarien für Küchen- und Hausgeräte werden Schlüsse auf den Zustand
der Volkskultur der deutschen Siedler gezogen und andererseits Maßstäbe für die
richtige Einschätzung der gegenwärtigen Volkskultur gewonnen. Eine mehr oder
weniger ausgesprochene Auseinandersetzung mit Naumanns Theorie kann heute kein
Buch dieser Art umgehen, und so finden wir denn auch hier, z. B. bei Besprechung
der Tracht, besonders auch bei der Volksmedizin sehr beachtenswerte Ausführungen,
die erweisen, wie fruchtbar und klärend Naumanns Methode ist, wenn sie mit genauer
Kenntnis der Einzeltatsachen angewendet wird. Die ‘Mitteilungen der Schlesischen
Gesellschaft für Volkskunde’ (neben den Handschriften der Staats- und Universitäts-
Bibliothek in Breslau) haben dem Verfasser nicht nur einen großen Teil seines
Materials geliefert, es ist der in ihnen geltende tüchtige Geist strenger Wissen-
Notizen.
132
Schädlichkeit, der seinem Werke den Stempel aufgedriickt hat, und daß diese nicht
tötet, sondern erst recht lebendig macht, beweist jede Seite. Die allgemeinen Be¬
trachtungen, an denen das Buch bei aller Fülle der Einzelheiten so reich ist, heben
es über seine landschaftliche Sonderbedeutung heraus und machen es geradezu zu
einer praktischen Einführung in unsere Wissenschaft. Zumal die Lehrer, an'die jetzt
nicht geringe Anforderungen auf den volkskundlichen Wissensgebieten gestellt werden,
sollten zu diesem Buche greifen, um Methode und Ergebnisse dieser Wissenschaft
kennen zu lernen. — (F. B.)
Joseph Klapper. Rübezahl und sein Reich. Mit Scherenschnitten von M. L.Kämpfe.
Breslau, Hirt 19*25. 102 S. gebd. 1 M. — Ohne gelehrtes Beiwerk erzählt das Buch
alles, was an volkstümlichen Sagen und Schwänken von der noch heute umstrittenen
Person des schlesischen Berggeistes umging, bevor sich unter der Überfülle der Ge¬
schichten, die ihr durch bewußte und unbewußte Fälscher angehängt wurden, ihre
charakteristischen Züge verwischten. Auch ihre heute vielfach angenommene Herkunft
aus dem Harz (Goslarer Silberbergwerke) wird in dem einleitenden Kapitel geschildert.
Unter den vielen Rübezahl-Büchern macht diese Sammlung des um Schlesiens Volks¬
kunde so hochverdienten Forschers (s. o.) einen besonders vorzüglichen Eindruck. —
(F. B.)
O. Knoop, Volkssagen und Erzählungen aus der Stadt und dem Landkreis Stolp
gesammelt und hsg. Stolp (Pom.), O. Eulitz 1925. VIII, 90 S. — 1885 gab Knoop
‘Volkssagen, Gebräuche und Märchen aus dem östlichen Hinterpommern’ heraus; jetzt
nach 40 Jahren hat er sich entschlossen, den vergriffenen dicken Band in eine Reihe
von Kreissagensammlungen aufzulösen, die auf wissenschaftlicher Grundlage aufge¬
baut zu wirkungsvollen Heimatbüchern werden sollen. Dieser fruchtbare Gedanke
ist hier trefflich verwirklicht: aus den 90 Sagen des alten Buches sind 192 geworden,
darunter manche auch für den Forscher wertvolle. Im Vorwort rechnet K. nebenbei
mit den Gelehrten ab, die in offenbar echt deutschen Sagen kaschubisches Volksgut
sahen und in Hinterpommern ein großes slawisches ‘Slowinzenland’ feststellen
wollten. — (J. B.)
0. Knoop, Sagen und Erzählungen aus dem Kreise Naugard, unter Mitwirkung
von Rektor H. Gosch in Daher gesammelt und hsg. Stargard i. P., O. Plath 1925.
98 S. — Seinen reichhaltigen pommerschen Sagensammlungen fügt der bewährte
Forscher hier eine neue hinzu, deren 140 Nummern großenteils bisher ungedruckt
waren und Sagendichtungen aus der jüngsten Zeit darstellen. Zu nr. 83 (Bär und Teufel)
vgl. oben 33, 33; zu 108 (Weibertreue) Montanus, Schwankbücher S. 615; zu 137 (Narr
Klaus Hintze) Wesselski, Gonnella 1920 S. 135; zu 138 (Petri Weltregierung) H. Sachs,
Fabeln 1, nr. 170 und 159. 4, nr. 395 und 322; zu 139 (Teufel und böse Frau) oben 16,
242. 448 2 ; zu 140 (Königstochter und Schildwache) Bolte-Polivka 3, 534. — (J. B.)
O. Knoop, Volkssagen, Erzählungen und Schwänke aus dem Kreise Lauenburg
gesammelt und hsg. Köslin, C. G. Hendeß 1925. 4 Bl., 104 S. — Die 164 Nummern des
Buches waren teilweise früher von Knoop, teilweise von Archut, A. Brunk und U. Jahn
veröffentlicht. Bemerkenswert ist die Sage nr. 31 von der als ,Schwarze Jägerin’ fort¬
lebenden dänischen Königin Margarete aus dem 13. Jahrh. Spottverse auf die einzelnen
Ortschaften in nr. 141 — 152. — (J. B.)
Gerhard Krügel, Märkisches Sagenbuch. Mit Zeichnungen von Ernst Kleinow.
Bin.-Schöneberg, Oestergaard 1925. 240 S. — Das Buch bildet den ersten Band einer
von der Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege in Berlin herausgegebenen Sammlung
Deutsche Sagenbücher. Es erzählt über: Die alten Götter, Die Hulden, Die armen
Seelen, Menschenlose, Von allerlei Leuten, dummen und gescheiten. Es kann nicht
vom Standpunkte volkskundlicher Wissenschaft bewertet werden, weil es nicht den
Anforderungen entspricht, die wir an Sagensammlungen stellen müssen. Es enthält
novellenhaft ausgesponnene Sagenkerne, allerdings mit oft dichterischer Darstellungs¬
gabe. Deswegen sei es hier dennoch empfohlen. Hohes Lob verdienen die Aus¬
stattung und die Abbildungen. — (Hermann Kügler.)
M. Lambertz, Vom goldenen Horn. Griechische Märchen aus dem Mittelalter,
nach dem Urtext verdeutscht. Leipzig u. Wien, Wiener graphische Werkstätte 1922.
207 S. (Irgendwo und Irgendwann Bd. 9). — Das zierliche Buch bietet eine Ergänzung
zu den vorhandenen Verdeutschungen neugriechischer Märchen. Wir erhalten darin,
nachdem die Einleitung von den Spuren der Volksmärchen im griechischen Altertum
berichtet hat, eine Prosaübertragung von fünf Gedichten des byzantinischen Mittel¬
alters. Den Anfang macht der um 1300 vom Prinzen Andronikos verfaßte Versroman
‘Kallimachos und Chrysorrhoe’, der bekannte Märchenmotive breit, aber nicht immer
geschickt verwertet, so daß sich der Übersetzer zu verschiedenen Kürzungen und Zu¬
taten veranlaßt sah. Dann folgen die mit gelehrten Personifikationen ausgestattete
‘Reise des Unglücklichen zum Schicksal’ (vgl. R. Köhler, Aufsätze 1894 S. 116), die
Weisheitsproben des alten Leon, der im Könige einen Bäckersohn erkennt (J. Wetzel,
Notizen.
133
Die Söhne Giaffers 1895 S. 202), die Tierbeichte von Esel, Wolf und Fuchs (Pauli,
Schimpf und Ernst c. 350) und der Prozeß wider die Weintraube, der auch zu den
Slawen und Türken gedrungen ist (R. Köhler, Kl. Schriften 2, 675 . Angehängt sind
noch zwei Volkslieder, die gleichfalls Märchenstoffe behandeln: das Bauopfer an der
Artabrücke (R. Köhler, Aufsätze S. 43) und der gespenstische Reiter, der die Schwester
(nicht die Braut; heimholt (E. Schmidt, Charakteristiken- 1, 232). Sorgfältige An¬
merkungen geben über die Vorlagen und Motive Auskunft. — i J. B v
M. Lambertz, Zwischen Drin und Vojusa. Märchen aus Albanien, hsg. und
übersetzt Wien, Wiener Graphische Werkstätte 1922. 177 S. (Irgendwo und irgend¬
wann, Bd. 10.) — Unter den mir bisher zu Gesicht gekommenen Bändchen der
Sammlung ist das vorliegende wohl das wissenschaftlich bedeutendste. Lambertz
ist ein gründlicher Kenner des albanischen Volkstums, der 1922 auch in den Schriften
der Balkankommission eine Reihe albanischer Texte mit ausgiebigen Erläuterungen
veröffentlicht hat. Hier gibt er 24 Märchen, die zum Teil bereits in jener größeren
Publikation stehen, nebst einer Einleitung und gelehrten Anmerkungen. Vier davon
sind jedoch aus Liedern übersetzt, so Nr. 23 'Liebe läßt sich nicht verbergen’ (oben
12, 155) und 24 ‘Schwester Giftmischerin’, auch aus rumänischen, serbischen und
böhmischen Balladen bekannt. Zur Kennzeichnung der übrigen Stoffe mögen einige
Parallelen nachgetragen werden: S. 9 ‘Der prophezeite Schwiegersohn’ (Bolte-Polivka
1, 2S7), Nr. 2 ‘Lügenwette’ (ebd. 2, 50S), Nr. 3 ‘Zwölf heilige Zahlen’ (ebd. 3, 15), Nr. 11
‘Der Salepverkäufer’ (Chauvin, Bibi, arabe 6, 176), Nr. 2U ‘Die faule Spinnerin’ (wie
Basile, Pentamerone 4, 4. Bolte-Polivka 1, 112), Nr. 22 ‘Esel wird Vezir’ (Bolte-Polivka
1, 59), Nr. S und 21 sind Streiche des Nasreddin Hodscha. — (J. B.
M. B. Landstad, Folkeviser fra Telemarken, utgit av K. Liestol. Oslo,
H. Aschehoug & Co. 1925. XV, 168 S. — 1853 erschien die große norwegische Volks¬
liedersammlung des 1S02 geborenen Pfarrers Landstad, die weiteren Kreisen zum
ersten Male den Reichtum des im Volke fortgepflanzten Schatzes alter Dichtung
offenbarte. Liestol macht uns hier den bisher verloren geglaubten ersten Entwurf
Landstads zugänglich, der 29 Nummern umfaßt. Er stammt aus den Jahren 1845—46,
ist also später entstanden, als R. Berge in seiner Biographie L.s 1920 S. 26 annahm,
und dadurch interessant, daß er die ersten, unkorrigierten Niederschriften enthält,
in denen auch die telemarkische Mundart noch in schwankender, tastender Weise
wiedergegeben wird. Dieser gelten die beigegebenen Anmerkungen. — (J. B.)
G. Lange, Alte deutsche Balladen, herausgegeben. München, C. H. Beck 1924.
89 S. — Eine umfassende kritische Ausgabe unsrer Volksballaden, wie sie die Dänen,
Schweden und Engländer bereits besitzen, stellt eine dringende Aufgabe für die
deutsche Forschung dar. Das vorliegende schmucke Büchlein dagegen will durchaus
unphilologisch die 28 wertvollsten Stücke, vom alten Hildebrandslied angefangen, in
der ausdrucksvollsten Gestalt und in verständlicher Sprache für einen großen Leser¬
kreis wiedergeben. Im einzelnen kann man Einwendungen erheben. Während das
Hildebrandslied nicht ungeschickt ergänzt ist, fehlt eine solche, durch die dänische
Überlieferung ermöglichte Ergänzung bei den ‘Fünf Söhnen’ S. 76; und die von Arnim
nach Nikolaus Dummann gereimte Ballade von der Herzogin von Orlamiinde S. 58
paßt recht wenig unter die übrigen weitaus wertvolleren Dichtungen. — (J. B.)
Ramon A. Laval, Cuentos populäres en Chile, reeogidos de la tradiciön oral.
Santiago de Chile, Imprenta Cervantes 1923. 305 S. — Die sehr verdienstliche Samm¬
lung enthält in ihrem ersten Teile 40 aus dem chilenischen Volksmunde aufgezeichnete
Märchen mit genauer Angabe des Erzählers und des Datums; ein Stück (nr. 28) wird
auch in mundartlicher Fassung mitgeteilt, ein erklärendes Verzeichnis der Chile-
nismen folgt S. 294. Die Motive sind durchweg europäisch, wie in den Anmerkungen
durch Anführung spanischer, portugiesischer und französischer Seitenstücke dargetan
wird; bisweilen sehen wir zwei ursprünglich verschiedene Stoffe kombiniert, z. B.
nr. 9, 17, 19, 21, 31. Die Darstellung zeigt oft überraschende Ausführlichkeit (nr. 16
nimmt 23 Seiten ein) und Freude an lebendigen Wechselreden, dazu formelhafte Ein¬
gänge (S. 17, 142) und Schlüsse (S. 165). Eigentümlich religiöse Färbung trägt ein
Schluß, in dem sich die hilfreiche Schlange oder das Adlerweibchen (S. 25—51) als
Schutzengel offenbart. Ich verzeichne kurz die Titel mit einigen Verweisungen:
I. Der Soldat und seine Gefährten (Bolte-Polivka, Märehenanmerkungen 2, 90). —
2. Der verzauberte Fisch (ebd. 2, 254). — 3. Delgadina und die Schlange (ebd. 2, 278.
283). — 4. 5. Häufungsmärchen (ebd. 2, 104. 106). — 6. Der verzauberte Kanarienvogel
(ebd. 2, 263). — 7. Der König mit Hörnern (Pauli, Schimpf und Ernst c. 397 ed. Bolte).
— 8 Leib ohne Seele (Bolte-Polivka 2, 305; 3, 437). — 9. Das verzauberte Lamm
(ebd. 1, 89. 175). — 10. Sieben geblendete Frauen (ebd. 2, 383). — 11. Däumling (ebd.
1, 392). — 12. Die drei Lehren (Seiler, Ruodlieb 1SS2 S. 58. 67. Oben 6, 169 zu Gonzen¬
bach Sl. Zum zweiten Abenteuer vgl. Pauli c. 223). — 13. Der wahrsagende Papagei
(Bolte-Polivka 2, 383). — 14. Halbhühnchen (ebd. 1, 258). — 15. 16. Mit drei Hieben
wird ein Schiff gebaut (ebd. 3, 271). — 17. Der Baum mit den drei Goldäpfeln
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925.
134
Notizen.
(ebd. 1, 514; 2, 301V — 18. Die beiden Fischersöhne (ebd. 1, 530). — 10. Der geäffte
Löwe (Dähnhardt, Natursagen 4, 26: Teerpuppe; Bolte-P. 2, 18; 3, 192: Befreiung durch
Tausch). — 21. Zwei Diebe (ebd. 3, 393 1 , 402) — 22. Der starke Juan (ebd. 3, 304:
TrubertV — 23». Die verzauberte Kröte (ebd. 2, 35). — 24. Gallarfn und der Riese (ebd.
1, 124 1 ; 3, 34). — 25. Mit Sonntag sinds sieben (ebd. 3, 328). — 20. Der verzauberte
Papagei (vgl. zum Eingang Basile, Pcntamerone 1, 3; zur Aufsuchung der Jungfrau
R. Köhler, Kl. Schriften 1. 444; 2, 413 1 ). — 27. Teufel und Bauer (Bolte-Polivka 3, 360).
2S. Löwe und Mensch (ebd. 2, 98). 20. Die drei Handwerksburschen (ebd. 2, 565). —
30. Drei lispelnde Schwestern (ebd. 3, 237). — 31. Der einbeinige Kapaun (ebd. 2, 131;
Pauli c. 57V — 37. Lügenwettstreit. — Im zweiten Teile (S. 231-274) gibt L. 43 kürzere
Sagen, Hexen- und Schatzgeschichten, unter denen uns an letzter Stelle (S. 267) die
verbreitete Legende von der Deutung der Zahlen 1—12 (oben 11,394) begegnet. — (J. B.)
Ramon A. Laval, Leven das y cucntos populäres recogidos en Carahue (Chile)
de la tradieiön oral. Santiago de Chile, Imprenta universitaria 1920. 264 S. (Revista
de folklore cliileno, tomo 8). — Der verspätet zur Anzeige kommende Band schließt
sich als 2. Teil an das 1916 zu Madrid (V. Suarez) erschienene Werk Lavals ‘Contri-
bucion al folklore de Carahue’ (Supersticiones, poesia populär, fraseologfa etc.) an
und bringt außer einer Sage und zwei Legenden 26 chilenische Märchen, die durch
ihre ausführliche Darstellung und Verwandtschaft mit europäischen Stoffen unser
Interesse fesseln. Der Sammler, ein Begründer der Gesellschaft für chilenische Volks¬
kunde, hat bereits die Veröffentlichungen der französischen Märchenforscher zui
Vergleichung herangezogeu und auf die Hauptmotive und die wiederkehrenden Ein-
leitungs- und Schlußformeln hingewiesen. Nr. 1 ‘Die drei Lilien’ und 2 ‘der grüne
Vogel’ entsprechen dem ‘goldenen Vogel’ bei Grimm (Bolte-Polivka, Anmerkungen
1, 506). — 3. ‘Der Spieler und die Teufelstochter Bolte-P. 2, 521. — 4. ‘Das Lilien¬
schloß’ ebd. 1,456. — 5. ‘Die treulose Schwester’ ebd. 1,456. — 6. ‘Brüderchen und
Schwesterchen’ ebd. 1,88. — 7. ‘Sendung ins Jenseits’ ebd. 3, 302 4 . — 8. ‘Die sieben
Brüder’ ebd. 2, 90. 3, 49. — 9. ‘Der Prinz als Vogel’ ebd. 2, 263. — 10. ‘Die getrennten
und wiedervereinten Verlobten'. — 11. 'Die drei Zitronen’ ebd. 2, 125. — 12. ‘Bären¬
sohn’ ebd. 2, 305. — 13. ‘Die Puppe’ (Basile, Pentamerone 5, 1). — 14. ‘Hänsel und
Gretel’ Bolte-P. 1, 117. — 15. 16. ‘Tischchen, Goldesel, Knüppel’ ebd. 1, 354.
17. ‘Das gestohlene Schwein’ ebd. 3, 393 V — 18. ‘Schlange lösen’ ebd. 2, 420 — 19. ‘Da
erwachte ich’ oben 15, 60. — 21. ‘Verkehrte Begrüßungen’ Bolte-P. 3, 147. — 22. ‘Zeiehen-
dialog’ Pauli, Schimpf und Ernst c. 32. — 25. ‘Die rätselliebende Fürstin’ Bolte-P.
1, 193. — (J. B.)
Robert Lehmann-Nitsche, Aus ethnologischen Sternbilderstudien. 1. Die
Iugula. Philologus LXXXI (1925), 202-—207. — Bei Varro de 1.1. VII 50 ist anstelle des
zweiten ‘inter’ zu lesen ‘infra’; die Bezeichnung ‘iugula’ geht nicht, wie Gundel an-
nimmt, auf das gesamte Orionsternbild, sondern nur auf den mittleren und unteren
Teil, die drei Gürtelsterne bilden zusammen mit dem hellen Rigel ein T-förmiges
Doppeljoch, wie es noch heute an Argentinien in Gebrauch ist. Der Verfasser der
interessanten, wenn auch nicht zweifellosen kleinen Studie, ein geschätzter Mitarbeiter
unserer Zeitschrift, ist besonders in Anerkennung seiner volkskundlichen Forschungen
in Südamei*ika, über die er an dieser Stelle wiederholt berichtet hat, kürzlich zum
Ehrendoktor der Hambui’ger philosophischen Fakultät ernannt worden. — (F. B.)
R. Lehmann-Nitsche, Astronomia populär gallega. Buenos Aires, Coni 1924.
26 S. (= Humanidades 8, 371 —394). — Sammelt die in Volksliedern und in der Volks¬
sprache Galiziens niedergelegten Anschauungen über die Gestirne und Sternbilder
und zeigt ihren doppelten Ursprung aus heidnischen und christlichen Vorstellungen.
Aus letzteren stammen z. B. die drei Marien (Oriongürtel), die Augen der h. Lucia,
der Jakobsstab. — (J. B.)
R. Lehmann-Nitsche, Mitologia sudamericana 7; La astronomia de los Mocovf.
8: La asti'onomfa de los Chiriguanos. 9: La constelaciön de la osa mayor y su con-
cepto como Huracän o dios de la tormenta en la esfera del mar caraibe. 10: La astro¬
nomia de los Tobas, segunda parte. — 11: La astronomia de los Vilelas. (Revista
del museo de La Plata 28, 66—233. Buenos Aires 1924/25). — Unser Wort ‘Orkan’,
das durch die Spanier im 16 Jahrh. nach Europa kam, bezeichnete bei den Karaiben
einen einbeinigen Gott der Stürme Hurakän, den man in dem Sternbild des großen
Bären oder Wagens am Himmel erblickte. Nach der mexikanischen Göttersage wurde
dem hier Tezcatlipoca genannten Gotte ein Bein durch ein Wasserungeheuer ent¬
rissen. Vgl. von dems. Verfasser: Das Sternbild des Orkans (Iberica, Z. f. spanische
und portug. Auslandskunde 3, 41—44). — (J. B.)
Martha Lenschau, Grimmelshausens Sprichwörter und Redensarten. Frank¬
furt a. M., M. Diesterweg 1924. 155 S., 6,60 M. (Deutsche Forschungen hsg. von F. Panzer
und J. Petersen 10). — Es sind nur 150 Sprichwörter, die uns die Vf. aus Grimmels¬
hausens Schriften vorlegt nebst 21 aus den ihm untergeschobenen Werken gezogenen;
aber sie sind nicht bloß nach sachlichen Kategorien übersichtlich geordnet, sondern
Notizen.
135
auch mit löblicher Ausführlichkeit auf ihre Herkunft und Verbreitung hin unter¬
sucht. Größer ist die Zahl der volkstümlichen Redensarten, die auf S. 99 —136 ver¬
zeichnet und zumeist auch bei Schriftstellern der voraufgehenden Reformationszeit
nachgewiesen werden. Die Einleitung geht auf die Frage ein, was Sprichwort und
Redensart für den Künstler Grimmelshausen bedeuteten, und zeigt verständig, daß
dieser in seinen Hauptschriften sie zu einer realistischen Darstellung der Volks¬
sprache verwandte, während er in seinen idealistisch-historischen Romanen darauf
verzichtete. Seine Quelle war wohl nur die lebende Umgangssprache, wenn er auch
die Sammlungen Petris, Henischs, Lehmanns gekannt haben mag. — Zu Nachträgen
bietet eine derartige Arbeit natürlich manche Gelegenheit, so möchte ich beispiels¬
weise nennen: S. 76 Zu Klingenberg am Maine (Erk-Böhme, Liederhort nr. 1137),
105 Cornelius (R. Köhler, Kl. Sehr. 3, 621), 106 Feige weisen (oben 19, 81 l . M. Andree-
Eysn, Volkskundliches 1910 S. US), 109 Goldschmieds Junge (Zs. f. Wortforschung
11,302), 112 Hälmlein ziehen (oben 33,92), 120 Leimstange (R. Köhler 3,626. Bilder¬
bogen b. Dieterichs, Dt. Leben 1,193; von Fischart?), 123 Nobiskrug (in abysso). — (J. B.)
Fr. Linder, Aus den Hohen Tauern. Tiroler Volkssagen. Innsbruck, Tyrolia
1925. 332 S. 16° mit Bildern von H. Grimm. — Das Büchlein gleicht in der
schmucken Ausstattung den Tiroler Legenden von H. Raff (s. u.), entfernt sich aber
weit von ihrer schlichten Wiedergabe der Volksüberlieferungen; der novellistische
Aufputz der 2S Geschichten und der gefühlvollen Dialoge in ‘gebildeter’ Sprache wirken
als geschmacklose Entstellung. — (J. B.)
Waldemar Liungman, En traditionsstudie över sagau om prinsessan i jordkulan
(Aarnes 870). Del 1-2. Göteborg, Elanders boktryckeri 1925. VIII, 115 u. 173 S. 19 Taf.
gr. 8°. — Dem schönen Grimmschen Märchen von der Jungfrau Maleen oder der
Königstochter in der Erdhöhle ist die vorliegende ungewöhnlich umfangreiche Göte-
borger Doktordissertation gewidmet. Der Verfasser verfügt über ein reiches Material:
33 dänische, 20 norwegische, 43 schwedische großenteils ungedruckte Fassungen, dazu
andre aus Finnland, Island und Holstein, die er mit großer Sorgfalt und Gründlichkeit
im zweiten Teile einzeln analysiert und durch eine Reihe von Landkarten auch in
ihrem geographischen Verhältnis veranschaulicht. Sämtliche Verseinlagen sind wörtlich
wiedergegeben. Die Untersuchung sucht nach einer Vergleichung der Motive und des
Aufbaus mit andern Märchen aus dem Inhalt, den Namen und den gereimten Partien
der Varianten die Urform, deren Heimat und Wandenvege festzustellen. Das Ergebnis
ist, daß das Märchen sich vom westlichen Jütland aus nach Island, Holstein, Norwegen,
Schweden und über Schweden nach Finnland verbreitete. Am Limfjord erzählte man,
vielleicht schon um 1300, von einer Königstochter ‘Sonnenstrahl’, die ihr Vater samt
ihren älteren Schwestern in einem unterirdischen Gemach einschloß, als der von ihm
abgewiesene Freier ihn mit Krieg überzog. Aber der König fiel im Kampfe, die
Schwestern starben den Hungertod, und nur der Heldin, die sich vom Fleisch der
Ratten nährte, gelang es, sich aus dem Hügel herauszugraben. Unter dem Namen
Asa diente sie als Magd am Hofe des neuen Königs, ihres einstigen Freiers. Auf
Verlangen von dessen neuer Braut, die ihre Schwangerschaft verbergen wollte, ver¬
trat sie deren Stelle bei der Trauung. Aus ihren heimlichen Wehklagen erriet der
König den Trug, verstieß die falsche Braut und erhob Sonnenstrahl zu seiner Gattin.
Zu dieser rekonstruierten Urfassung traten später neue Züge: ein Gewebe, das nur
die rechte Braut vollenden kann, ein Wolf, dem sie ihren Hund opfert, ein Köhler¬
paar usw. Alte Bräuche sind in den Brautgeschenken (Handschuh, RingV, dem Ritt
des Hochzeitspaares und andern Einzelheiten aufbewahrt. — (J. B.)
Waldemar Liungman, Tvä folkminnes-undersökningar: Brud icke mü och Liten
Äsa gäsapiga samt Kung lngewalls dotter (L)gF 274, Aarnes 871 och 533). Göteborg.
Elanders boktryckeri 1925. VIII, 73 S. (Folkloristika Studier och samlingar utg. av
redaktionen för Folkminnen och folktankar). - L. untersucht eine Reihe von Balladen
und Märchen aus dem Kreise der einst von Arfert (oben 7, 215) behandelten ‘unter¬
geschobenen Braut’, ln der schottischen Ballade ‘Gil Brenton’’ erfährt eine Braut,
die früher von einem Unbekannten entehrt worden ist, daß dies ihr jetziger Bräutigam
war. Dazu tritt in der dänischen Ballade ‘Brud icke mö’ ein auch aus einem nor¬
wegischen Märchen bekanntes Motiv: die Furcht vor einem wahrsagenden Gegenstand
am Bett veranlaßt die Braut, ihre Dienerin unterzuschieben. Eine andre Unterschiebung
findet in dem Grimmschen Märchen ‘Die Gänsemagd' statt: die Braut, der ihre
Mutter ein wahrsagendes Tuch und ein redendes Roß mitgegeben hat, wird auf der
Fahrt zum Königshof von ihrer Dienerin gezwungen, die Kleider mit ihr zu tauschen
und Schweigen zu geloben. Die verschiedenen Fassungen und ihr Verwandschafts¬
verhältnis erfahren hier eine umsichtige und klare Beleuchtung. — (J. B.)
F. Lorentz, Geschichte der Kaschuben. Berlin, R. Hobbing 1926. 172 S. mit einer
Karte von Pomereilen. 7 Mk. — Das Land des etwa 150 000 Seelen zählenden
kaschubischen Volkes umschließt die Meeresküste zwischen Danzig und Hinterpommern
und bildet den nördlichen Teil des sogen. Polnischen Korridors. Die Sprache ist, wie
10*
136
Notizen.
Lorentz als gründlicher Kenner erweist, kein polnischer Dialekt, sondern gehört zu
dem Pomoranischen, obgleich südliche Bezirke stark polonisiert wurden. Die Geschichte
des Völkchens, die sich in vier Perioden gliedert (bis 130S, unter dem Deutschen
Orden bis 1166, unter Polen bis 177*2, unter Preußen bis 11)20) zeigt einen lebhaften
Kampf gegen polnische Unterdrückungsversuche. Aber im Streite der katholischen
und evangelischen Kirche blieben die Kascliuben auf der Seite der ersteren und zogen
sogar Deutsche zu sich hinüber (S. 120. 122); in neuster Zeit weckte der Kulturkampf
und der Befehl zur Ablieferung der Glocken Unzufriedenheit, so daß die einrückenden
Polen anfangs mit Begeisterung begrüßt wurden. Sorgfältig hat sich der Vf. um die Dar¬
legung der inneren Zustände in den verschiedenen Jahrhunderten bemüht. — (J. B.)
E. Lorenzen, Plattdeutsche Märchen aus Westfalen, aus alten Quellenschriften
zusammengestellt. Bielefeld, Velliagen u. Klasing 1923. 75 S. (Sonnborn Bd. 4b —
Die ‘alten Quellenschriftsteller, aus denen L. diese 35 Dialekterzählungen entlehnt,,
sind die Brüder Grimm, Woeste und Firmenich. Mehrere Nummern kann man
eigentlich nicht als Märchen bezeichnen, Nr. 5 k De Nachtigall un de Blinncrsehlange’
ist eine bloße Übersetzung aus dem Französischen (Bolte-Polivka, Anmerkungen 1, 58).
Dagegen sind wertvolle Stücke wie Kuhn, Sagen aus Westfalen 2, 223. 224. 261 über¬
gangen. Den. aus dem Paderborner Lande stammenden Grimmschen Märchen 91. 113.
126. 143 ist ein ‘dem dortigen Dialekte genau angepaßtes Wortkleid’ gegeben, während
die Münsterländer Märchen Gr. 68. 82. 96.136.137 und ebenso Gr. 138 und 205 ungeändcrt
blieben. Man darf also an dies Büchlein keine gelehrten Ansprüche stellen. (J. B.)
W. Liipkes, Ostfriesisehe Volkskunde. Mit 15G Abb. 2. durehgesehene und
erweiterte Auflage. Emden, W. Schwalbe (1925). 400 S. geh. 10 M., geb. 12 M. —
Die Neuauflage des seit mehreren Jahren vergriffenen Buches ist in der Hauptsache
ein Neudruck der ersten, im Jahre 1908 erschienenen (s. o. 18, 344). Neben Abände¬
rungen und Verbesserungen von Einzelheiten sind neu dazugekommen: ein Überblick
über neuere ostfriesisehe Literatur mit besonderer Berücksichtigung der Heimat- und
Volksdichtung, ein Sammelaufsatz über Volks- und Heimatkundliches aus dem
Harlingerlande und ein zumeist aus kleineren Aufsätzen von Auswanderern zusammen¬
gestellter Artikel über die Ostfriesen in Amerika. Bei aller Anerkennung der in
diesen Aufsätzen zutage tretenden Liebe zur Heimatseliolle kann nicht verschwiegen
werden, daß sie dem Gesamteindruck des schon in der ersten Auflage lose gefügten
Buches nicht zuträglich sind. Neben die straff disponierten, historisch vertieften und
knapp schildernden landschaftlichen Volkskunden, die uns die jüngste Zeit beschert
hat, darf das Buch daher nicht gestellt werden Doch will wohl auch der Verfasser
in erster Linie ein volkstümliches Lese- und Bilderbuch bieten, und der darauf ver¬
wendete Fleiß ist ebenso zu loben wie die warme Begeisterung und Liebe des Ver¬
fassers zum engsten wie zum weitesten Vaterland. Bedauerlich bleibt aber in jedem
Falle, daß auch in der Neuauflage der Text mit den zum großen Teil erneuerten
Abbildungen nur ganz lose zusammenhängt, ja sie zum Teil völlig unberücksichtigt
läßt, so daß mancher volkskundlich wichtige Gegenstand unerklärt bleibt; auch ver¬
mißt man schmerzlich Angaben über Herkunft und Alter der abgebildeten Stücke*
umsomehr, als sie interessante Beiträge zur Frage vom Zusammenhang dörflicher
und städtischer Kultur liefern könnten. — (F. B.)
Erich Maschke, Saehsen-Märehen aus Siebenbürgen, mit Bildern von Günther
Grassmann. Potsdam, Der weiße Kitter Verlag L. Voggenreuter 1925. 11S S. — Die
28 Märchen sind aus Haltrichs Deutschen Volksmärchen aus Siebenbürgen entlehnt
und sollen als ein Band der ‘Grenzlandbüeherei’ Teilnahme für die Stammesbrüder
im fernen Südosten wecken. — (J. B.)
G. A. Mega, IJaoadooets jreQi dodsrsiwv (Laographia 7, 465—520. 1923). — Griechi¬
scher Volksaberglaube über Krankheiten und Zaubermittel, erläutert durch reiche
vergleichende Hinweise.
G. A. Mega, ’Qpox?.aTooxoxia (Laographia 9, 3—51. 1925). — Aus einer Hs. des
13. Jahrh. teilt M. eine Anweisung zur Weissagung aus dem Schulterblatt eines Schafes
mit, die angeblich von den Türken herrührt, aber auf eine ältere griechische Quelle*
die auch Michael Psellos im 11. Jahrh. benutzte, zurückgeht. Fr vergleicht mit
diesem einst bei den Mongolen wie hei den Engländern verbreiteten Glauben aus¬
führlich die noch jetzt in Griechenland übliche Deutung des Schulterblattes. — (J. B.)
John Meier, Das Guggisberger Lied, ein Vortrag. Basel, Helbing & Liehten-
hahn 1926. 52 S. — Scharfsinnig untersucht M. die Entstehung des ergreifenden
Schweizer Liebesliedes Erk-Böhme nr. 420, das erst im Laufe langer Zeiten aus ver¬
schiedenartigen Bestandteilen zu einem harmonisch wirkenden Ganzen zusammen¬
gewachsen ist. Die ursprüngliche vierzeilige Strophe: ‘Es ist ein einziger Menseh
auf Erden, daß ich mag bei ihm sein; und mag er mir nicht werden, vor Kummer
stirb ich gleich’ ist im Laufe des 18. Jahrh. durch Echoruf und neckende Kehrzeile
aufgesehwellt, dann zerlegt und durch Wanderstrophen vermehrt worden. Die weiche
Notizen.
137
Mollmelodie aber gehörte ursprünglich einem andern Liede an; sic erscheint ohne
den Refrain auch in einem lettischen Liede (Ich stand auf hohem Berge' und mag
durch die 1710 in Preußisch-Litauen angesiedelten Schweizer nach Livland gebracht
sein. — (J. B.)
Gustav Friedrich Meyer, Mannshand haben. Spaßige Volksvertelln in Schles-
wiger Platt. Hamborg, Quickborn-Verlag (1925). 61 S. 0,75 M. — Vierzehn trefflich
erzählte Volksschwänke. S. 5. Mannshand haben (R. Köhler, Kl. Schriften 3, 40).
10. De Bur nn sin Brut (Montanus, Schwankbücher S. 628. Frey, Gartenges. S. 216).
14. De Sloetel in de Spinnrocken (Bolte-Polivka 3, 236). 16. Dreemal gude Bat oben
6, 171 zu Gonzenbach 81). 22 Peter bi de Heek (Die sehiefinüulige Familie) 32. Dumm
Hans kann doch betcr lögen (Bolte-Polivka 2, 506). 36. Funduin (ebd. 1,201). 40. Ben
slog dree (ebd. 1, 190). 46. Pott, hol fast iebd. 2, 42). 50. En Pott voll Geld (ebd. 1,
527). 52. De dumme Frunsliid ^ebd. 2, 448). — (J. B.)
Gustav Fried. Meyer, Plattdeutsche Volksmärchen und Schwänke, gesammelt
und erzählt. Neumünster, K. Waehholtz 1925. 312 S., gr.S\ — Angeregt durch die
prächtigen ostholsteinischen Märchen von W. Wisser hat M. seit 1914 in anderen
Gegenden von Schleswig-Holstein nach Volkscrzählungen Umschau gehalten und
1150 Stücke zusammengebracht von 196 männlichen und 28 weiblichen Erzählern, zu¬
meist höheren Alters. Nach verschiedenen kleineren Bändchen veröffentlicht er hier
eine umfänglichere, 227 Märchen und Schwänke umfassende Auslese, die sowohl als
Volksbuch wie für die Märchenforscher warme Empfehlung verdient. Stil und Sprache
zeigen durchweg die anschauliche und behagliche Erzählweise und den kräftigen
Humor des niederdeutschen Volkes, nur die ‘Mooorhexe’ in nr. 115 klingt mir allzu
kunstmäßig. Interessant ist, daß der ‘Eisenhans’ (16) und ‘Sesam tu dich auf (120)
als Icherzählungen erscheinen und daß ‘Katt und Kater 5 (53) aus zwei ganz ver¬
schiedenen Märchen zusammengesetzt ist. Einige Derbheiten hat M gemildert. Die
verschiedenen Landschaftsdialekte sind auf eine einheitliche Form gebracht und ein
Wörterverzeichnis angehängt. Kurze Anmerkungen am Schluß geben Auskunft über
die Heimat der einzelnen Stücke und über verwandte Märchentypen. Wenn ich dazu
ein paar Nachträge liefere, so soll dies nur ein Dank für das Vergnügen sein, das
ich beim Durchlesen empfand. So wäre auf die oft zitierten Anmerkungen von Bolte-
Polivka noch in folgenden Fällen hinzuweisen: nr. 3 Die zwei Buckligen (B. 3,326).
8 und 24 Der kluge Junge (2,359 2 ). 19 Fundum (1,201). 21 Lügen (2,507). 29 Mühl¬
stein am Faden (1,366). 30 Zorn wette (2,293). 34 Zaubermühle (2,439). 41 Apfel des
Lebens (1,504). 43 Drachentöter mit Hunden (1,54S). 45, 132, 134, 155 (2,5). 64 Fisch¬
fang des Dachses (2,113). 69 Rätsel (1,196). 72 Hirtenbiiblein (3,214). 73 Das Süßeste
(3,233). 77 Wind einfangen (3,16 1 ). 96 und 112 Essen mit Bibelsprüchen (2,361). 108
und 193Beter geäfft (3,123). 116 Riese überlistet(3,333). 119Drachentöter (1,550). 122Speck-
regen (1,527). 128 Leber des Gehängten (3,478). 133 Laubrieset (3,200). 135 Schwan¬
jungfrau (3,40S). 141 Fuchs und Hahn (2,207). 157 Der gestrichene Scheffel (3,14.364).
180 Mäuse fangen (3,260). In anderen Fällen bieten meine Anmerkungen zu Paulis
Schimpf und Ernst Vergleichsmaterial; zu nr. 40. 51. 90f. 93. 136. 160. 162. 197 vgl.
Pauli nr. 142. 82. 719. 843. 745. 155. 72. 160. Auch Stoffe aus andern Volksbüchern
wie Eulenspiegel, Schildbürger, Wickram, Montanus, Frey finden wir in Meyers
Sammlung wieder, doch würde es zu weit führen, darauf einzugehen. — (J. B.)
Moltke Moe, Samlede skrifter utgitt ved Knut Liestol, vol. 1. Oslo, Aschehoug
& Co. 1925. 4 Bl., 302 S., 4°. (Instituttet for sammenlignende kulturforskning,
Serie B, 1). — Die kleineren Schriften des ausgezeichneten norwegischen Forschers,
der 1913 als Professor der Volkskunde zu Kristiania im Alter von 54 Jahren verstarb,
zu sammeln, war längst ein Wunsch seiner Schüler, zu denen sich auch so ange¬
sehene ausländische Gelehrte wie Axel Olrik und Kaarle Krolm rechneten. Was
uns Prof. Liestol im vorliegenden Bande bietet, sind Moes Aufsätze aus den Jahren
1S79—1902, chronologisch geordnet, mit den späteren Zusätzen seiner Handexemplare
und mit einem ausführlichen Resume in englischer Sprache vermehrt. Im Vorder¬
gründe steht Moes Beschäftigung mit den Volksüberlieferungen seiner Heimat. Er
berichtet S. 1 über eine 1878 nach Telemark unternommene Reise und die von ihm
dort aufgezeichneten Balladen, Sagen und Märchen; er registriert 1S80 (S. 83) die bis¬
her erschienene norwegische Literatur zur Volkskunde und gibt Anweisung zu weiterer
Sammelarbeit (übersetzt von Liebrecht, Germania 25, 388); er gibt (S. 90) eine schöne
Würdigung von L. Daaes ‘Bygdesagn 5 und zeigt (S. 1S9) an zwei norwegischen Märchen
von den dankbaren Tieren und der widerspenstigen Frau die Wanderung und Wand¬
lung der Märchenstoffe. Zu ähnlichen Problemen und Vergleichen führt ihn die
Besprechung von Gerings ‘Islendzk aeventyri’ (S. 100), B. Schmidts ‘Griechischen
Märchen’ (S. 23) und das Vorwort zu den ‘Lappischen Märchen und Sagen’ Qvigstads
und Sandbergs (S. 133). Scharfsinnig spürt er dem historischen Untergründe einer
Ballade von der Werbung eines nordischen Prinzen um eine englische Königstochter
nach und fixiert ihre Entstehung in die Jahre 1296—1299 (S. 173). Auf eine direkte
13S
Notizen.
Anfrage hin sucht er den Anteil der Frauen an der Volksdichtung zu bestimmen:
sie sind nicht nur Bewahrerinnen des Alten, sondern auch im Liebeslied, Wiegen¬
lied, Spielreimen produktiv (S. 1G9). Er wagt das Verhältnis zwischen norwegischer
Volks- und Kunstdichtung ab (S. 260). Ausführlich nimmt er teil an dem Kampfe
zwischen Schriftsprache und Mundart in den Aufsätzen: ‘Unsere höhere Schule und
die Volkssprache’ (S. 113), ‘Rechtschreibung und Volksbildung’ (S. 219) und im Vorwort
zu Rolfsens Lesebuch (S. 154). — (J. B.)
E. Moor, Deutsche Spielmannsstoffe in Ungarn. (Ungarische Jahrbücher 5,
252 — 283.) — Dietrich und Kriemhild bei den ungarischen Chronisten; die Toklisage
in der Reimehronik Ilosvais (1574) verwandt mit dem Märchen vom starken Hans
und dem Klosterleben llsans. — (J. B.)
Anna Nußbaum, Vom Lande Arvon bis zur Gascogne. Märchen aus Frank¬
reich, ins Deutsche übertragen. Wien, Graph. Werkstätte 1922. 89 S. (Irgendwo
und Irgendwann, Bd. 7). — Das mit farbigen Illustrationen von Leskoschek geschmückte
Büchlein verfolgt keine wissenschaftlichen Zwecke; es enthält sechs hübsche Märchen
aus den Sammlungen von Blade, Fleury, Luzel, Sebillot und Carnoy, zu denen ich
auf Tcgethoff, Zs. f. Deutschkunde 38, 243 und Bolte-Polfvka, Anmerkungen 3, 382.
3, 22. 2, 12. 2, 22 h 2, 70 verweise. — (J. B.)
Friedrich Normann, Mythen der Sterne. Herausgegeben, eingeleitet und mit
Anmerkungen versehen. Mit 17 Abb. im Text, 12 Tafeln und einer Weltkarte. Gotha,
L. Klotz 1925. VIII, 522 S. — Das schöne, bei aller Gediegenheit bescheidene Buch
hat sich die große Aufgabe gestellt, möglichst die hauptsächlichsten Gestirnmythen
aller Völker und Zeiten zusammenzustellen, und so folgen hier auf eine kurze, allgemeine
Einleitung und auf die Entstehung der Sterne als Gesamtheit weiter der Tierkreis,
der nördliche und südliche Himmel und dann die Planeten, die Sternschnuppen und
die Sternstraße, wie ich lieber statt der für uns ja recht bedeutungslosen ‘Milch¬
straße’ sage, für die auch die unbedeutende Entstehungssage nicht gegeben wird.
Auf die 144 Mythen, die aus allen Weltgegenden mit Sorgfalt und Einsicht zusammen-
getragen sind, folgen nicht weniger als 97 Seiten Anmerkungen, und auf der Karte
ist die Verteilung der Mythen über die ganze Welt in sehr dankenswerter Weise an¬
gegeben, ebenso, wie die Abbildungen und Tafeln eine wünschenswerte Zugabe dar¬
stellen. In Abb. 19 hätte Gundel (s. o. S. 127) entdecken können, daß der große Wagen
auch anderswo im Gebiet des Getreidebaus eine große Bedeutung hat; denn hier
thront nach älterer chinesischer Auffassung der Himmelsherr selbst iu ihm, und sein
geflügelter Bote ist sehr deutlich unser ‘Reiterlein’ oder der ‘Dümk’, der Däumling,
wie wir Niederdeutschen den auch uns wichtigen kleinen Stern benennen. Das mit
außerordentlichem Fleiß und Sorgfalt gearbeitete Buch, das die beste Aufnahme in
weitesten Kreisen verdient und dessen Ausstattung in jeder Weise zu loben ist, könnte
vielleicht in einer weiteren Auflage, die wir sehr wünschen, noch durch ein Sach-
und Namensverzeichnis vermehrt werden, das bei den außerordentlich weitreichenden
Beziehungen dem wissenschaftlichen Arbeiter gute Dienste leisten würde. —
(Eduard Hahn.)
Hans Overbeck, Malaiische Erzählungen: romantische Prosa, lustige Geschichten,
Geschichten vom Zwerghirsch, aus dem Malaiischen übertragen. Jena, E. Diederichs
1925. VI, 27G S. (Insulinde 2). — Nicht aus dem malaiischen Archipel, sondern aus
der Halbinsel Malakka stammen die von R. 0. Winstedt und A. J. Sturroek aus dem
Munde berufsmäßiger Erzähler (Tröster im Leiden, Penglipur Lara genannt) ge¬
schöpften und in den Malay Literature Series veröffentlichten, hier verdeutschten
Romane und Schwänke. Die zumeist nur im Auszug wiedergegebenen Heldenromane
sind ungeheuer weitschweifig in der Schilderung höfischen Zeremoniells und der
Nebendinge und gefallen sich in phantastischen Übertreibungen. Zwölf Monate bringt
der Held im Mutterleibe zu, sieben Tage und Nächte kämpft er mit dem Gegner,
mehrere Frauen heiratet er, darunter womöglich eine Prinzessin aus dem Götter¬
himmel, woraus sich dann Konflikte, Zweikämpfe zwischen den Gemahlinnen oder
Tierverwandlungen der Ungetreuen ergeben. Neben einzelnen Motiven (dem schwim¬
menden Haar, dem Raub des Schwanhemdes, dem Papagei als Brautwerber, der
Orakelblume) interessieren uns die häufigen Verseinlagen. Vertrauter aber klingen
die lustigen Geschichten von Dummköpfen, vom Doktor Allwissend vS. 211) und
Biirle (S. 220) und die Fabeln vom listigen Zwerghirsch. Hier finden wir die be¬
kannten Motive von der undankbaren Schlange (S. 224. Bolte-Polivka 2,420), vom
Packen des Baumstammes statt des Fußes (S. 237. Ebd. 2,117), von der Teerpuppe
(S. 246. Dähnhardt, Natursagen 4,26), Ad absurdum führen (S. 250. Bolte-P. 2,371),
Klang für Geruch (S. 253. Pauli, Schimpf u. Ernst c. 48). Weitere Bände des Unter¬
nehmens sollen in die malaiische Geschichte und Kunstdicbtung einführen. — (J. B.)
Gerhard Peters, Das Rastatter Schloß. (Heimatblätter ‘Vom Bodensee zum Main’
27, hsg. vom Landesverein Badische Heimat.) Karlsruhe, C. F. Müller 1925. 84 S. 2 Mk.
Notizen.
139
K. Plenzat, Der Ostpreußenspiegel. Mundartdichtung in Vers und Prosa. Königs¬
berg i. Pr. und Allenstein, Verband f. dt. Jugendherbergen 1925. 129 S. — Die an¬
sprechende Lese von Volksliedern, Schwänken, Sprüchen, Sprichwörtern und Rätseln
in niederpreußischer und oberpreußischer Mundart, nach wohldurchdachter Anordnung
gruppiert und durchflochten mit Dichtungen vom bewährten Herausgeber, Frau
E. v. Olfers-Batocki, A. Hintz u. a., soll die charakteristischen Eigenschaften des ost-
preußischen Stammes darlegcn und zugleich das Vorurteil gegen den Volksdialekt,
der soviele Schätze enthält, bekämpfen. — (J. B.)
Franz Pocci, Kasperlstücke für das Handpuppentheater; mit einem Anhänge
‘Vom Handpuppentheater’ von A. Laßmann. Wien, Österreichischer Schulbücher-
verlao- 1923. 105 S. (Deutsche Hausbücherei 71). — Aus den zahlreichen Puppen¬
komödien Poccis hat L. die acht Stücke herausgesucht, die für die Handpuppen¬
bühne verwendbar sind: ‘Kasperl unter den Y\ ilden’ usw. Im Nachwort teilt er einiges
über Geschichte und Charakter dieser Kasperlkomödien und die Herstellung der
Figuren mit. — (J. B.)
W Porzi", Die wichtigsten Erzählungen des Mahäbhärata. 1. Liebesgeschichten.
2. Das*Schlangenopfer. Leipzig, H. Haessel 1923-19*24. IGO + 156 S. (Indische Er¬
zähler Bd. 12. 15). — In dem riesenhaften altindischen Epos von den Schicksalen des
Bhärata-Geschleehtes, das als ein Lehrbuch für Könige an alten Sagen die Regeln
des Rechts, der Politik und der Religion erläutern will, haben die Anschauungen
verschiedener Zeitalter ihren Niederschlag gefunden, wenn es auch noch nicht ge¬
lungen ist, die Zeitfolge der einzelnen Schichten festzustellen. Hier bietet uns P. im
ersten Bändchen eine zuverlässige Prosaverdeutschung der drei berühmtesten Liebes¬
geschichten von Dewajäni, der durch Kalfdasas Drama berühmten Schakuntalä und
von Ardschunas Verbannung. Das im zweiten Bändchen ausgehobene Astikaparvan
erzählt, wie Astika, der Sohn des Asketen Dscharatkäru und einer Schlangenprinzessm
das Schlangengeschlecht vom Fluche des Feuertodes erlöst, auch wie der Vogel Garuda
den Somatrank raubt. Für die Feststellung des Textes sind außer dem Calcuttaer
Druck auch Handschriften benutzt. Ein Anhang orientiert über die verschiedenen
Fassungen der Sagen, ein sorgfältiges Register über die Namen und kulturgeschicht¬
lichen Verhältnisse. — (J. B.)
J. Pöttinger, Niederösterreichische Volkssagen, mit einem Geleitworte von
M. Vancsa. Wien, Österreich. Bundesverlag [1924]. 369 S. — Mit großem Fleiß hat
der Verf., unterstützt durch den Landesarchivdirektor Dr. Vancsa, aus zahlreichen
Schriften! Lokalblättern, Kalendern und aus dem Volksmunde 179 Sagen zusammen-
"ebracht und nach den vier Landesvierteln Niederösterreichs geordnet. Hat er dabei
vor allem ein Buch für Schule und Haus im Auge gehabt, so wird der wissenschaft¬
liche Benutzer doch manches daran aussetzen. In der Aufnahme ist nicht immer
kritisch verfahren worden (z. B. Nr. 95 Opfer an Loki), und die Anmerkungen, . die
eifrig Gestalten der eddischen Mythologie als mythische Grundlagen nachzuweisen
suchen, lassen es bei den Quellenzitaten an Genauigkeit in bezug auf Jahres- und
Seitenzahlen fehlen. Aus Paul Herrmann, dem Verfasser einer nordischen und einer
deutschen Mythologie, ist Hermann Paul geworden. Doch findet sich natürlich auch
viel Interessantes, wie der bergentrückte Tannhäuser (nr. G5), die heilige Kümmernis
(90) die Ladung zur himmlischen Hochzeit (43. R. Köhler, Kl. Schriften 2, 225. Zu
den wunderbaren Dingen im Jenseits, Bolte-Polivka 3, 302 4 ), das Märchen vom Schmied
und Tod (10G. Grimm 82), St. Peter auf der Hochzeit (42. H. Sachs, Fabeln 5, 2<o)
usw. — (J. B.)
J. Qvigstad, Lappische Märchen- und Sagen Varianten. Helsinki 1925. 62 S.
(FF Communications 60). — Das sehr erwünschte Register ordnet die ziemlich be¬
trächtliche Zahl der bei den Lappen Rußlands, Finnlands, Schwedens und Norwegens
verbreiteten gedruckten Märchen und Schwänke und die noch größere Menge des
hsl. Materials nach Aarnes System. Angehängt sind G3 Ursprungssagen und 108
andere Sagen (über Tote, dämonische \Y esen, Zauberer, den Stallo, Kriegsüberliefc-
rungen u. a.). — (J. B.)
Ludwig Radermacher, Der ‘Lehrer’ des Herondas. Oesterr. Zeitschrift für
Volkskunde 30, 33—39. — Volkskundliche Erklärungsversuche mehrerer Stellen des
bekannten Mimus. Vers 49 xab]div\ coore /nyd’ obovra y.ivfjoai = ‘Es ist so wahr, daß
es auch nicht einen Zahn ins Wackeln bringt. Freilich ist die hier vorausgesetzte
Strafe für eine Lüge sonst nicht belegt. Die vielerörterte Stelle v. 59 ff. erklärt R.
als einen Euphemismus für ‘den Hintern entblössen’ (Entblössung der pudenda bei
Mondfinsternissen); auch diese Erklärung ist etwas weit hergeholt und ohne rechte
Überzeugungskraft. — (F. B.)
Helene Raff, Tiroler Legenden. Innsbruck, Tyrolia 1924. 239 S. 1G° mit Bildern
von H. Grimm. — Welch starkes religiöses Gefühl in den Tiroler Volksüberliefe-
rungen lebt, kann jeder bezeugen, der die Sammlungen von Zingerle, Alpenburg,
140
Notizen.
Heyl, Marie Rehsener \in dieser Zeitschrift) u. a. durchmustert. Es war daher ein
glücklicher Gedanke unsrer verehrten Mitarbeiterin, einen Strauß von 70 Geschichten
von Heiligen, armen Seelen, Teufelswerken und Gottesgerichten aus jenen Werken
und eigenen Aufzeichnungen zusammenzustellen. Sie hat in Auswahl und Erzähler¬
ton feine Empfindung für das Volksmäßigc bewährt und in den Anmerkungen auch
andre tirolische Varianten verzeichnet. Daß die gleichen Stoffe auch anderwärts be¬
gegnen, mögen einige Notizen beweisen: S. 8 (Augustin und das Knäblcin am Meere.
Oben IG, 90. 21, 336). S. 37 (Christusbild gespeist. Bolte-Polivka, Anmerkungen 3,
474); 63 (Mutter des h. Petrus. Ebd. 3, 538); 90 (S. Kümmernis. Ebd. 3, 241); IGO
(Ernteteilung. Ebd. 3, 3G0); 20S v Evas häßliche Kinder. Ebd. 3, 321). — S. 1G1 (Helf
Gott! Pauli, Schimpf und Ernst c. 90); 200 (Vaterunser abgewogen. Ebd. 337 und
465\ — S. 170 (Eid mit Erde in den Schuhen. Archiv f. neuere Spr. 127, 281). —
S. ISS (Die freiwillig Kinderlose Oben 14, 114). — Geschmackvolle Zeichnungen
zieren das hübsche Büchlein. — V J. B.)
Rheinland-Heft der Zeitschrift für Deutschkunde (39, 417—512). Leipzig,
Teubner 1925. — Enthält: M. Siebourg, Zum Geleit. — R. A. Keller, Der Rhein
erinnert sich. — P. Kutter, Die rheinische Landschaft in der älteren Kunst. —
F. Fremers dorf. Die deutsche Vor- und Frühgeschichte im Rheinland.— A. Noll,
Geschichte und Deutsch als Grundlagen wissenschaftlicher Heimatforschung. —
Jos. Müller, Das Rheinische Wörterbuch, seine Geschichte und seine Aufgabe. —
J. Graß, Die rheinische Akzentuierung. — C. Nießen, Das rheinische Puppenspiel.
— C. Kn aut. Das Deutschkundliche Institut in Düsseldorf. — Schriften zur Jahr¬
tausendfeier. Rheinische Geschichtsliteratur.
H. F. Rosenfeld, Nibelungensage und Nibelungenlied in der Forschung der
letzten Jahre (Neuphilologische Mitteilungen 2G, 145—178. Helsingfors 1925). — Eine
lehrreiche kritische Übersicht über die seit 1918 erschienenen Arbeiten, die das Ver¬
hältnis der Heldensage zum Märchen und zur Geschichte und die sagengeschichtlichen
Vorstufen des Nibelungenliedes betreffen. — (J. B.)
Stepan Rudnyckyj, Ohljad nacionaFnoi terytorii Ukrai'ny. (Das ukrainische
Nationalterritorium, ukrainisch). Berlin 1923. 143 S. („Bibliothek des Ukrainske Slovo u ,
Nr. 3S). — Die vorliegende Arbeit des Professors an der Freien Ukrainischen Universität
in Prag, St. Rudnyckyj, ist ein kurzer, aber sehr inhaltsreicher Ausschnitt aus seiner
großen, deutsch geschriebenen Arbeit ‘Die L^kraine und die Großmächte’, die leider
bis jetzt noch nicht im Druck erschienen ist. Der Verfasser behandelt das ukrainische
ethnographische Nationalterritorium und beschäftigt sich eingehender mit den
ukrainischen Grenzgebieten (z. B. Galizien, Bukowina, Karpathengebiet, Cholmland,
Podlachien, Polessje, Bessarabien, Slobodska Ukrai'na, Dongebiet, Kubanj, Kolonien
usw.), wobei besonderes Gewicht auf die ethnographische Zusammensetzung der
Bevölkerung und die Statistik gerichtet wird. Das Buch eignet sich besonders zum
Handgebrauch. — (Z. Kuziela.)
H. W. Rutgers, Märchen und Sage. Bemerkungen über ihr gegenseitiges Ver¬
hältnis mit besonderer Rücksicht auf die Sigfridsagen. Groningen, J. B. Wolters
1923. IV, 91 S. kl. 4 °. 2,90 Fl. — Die Anschauungen über das Verhältnis von Mythus,
Märchen und Sage haben seit dem Auftreten der Brüder Grimm mehrfach gewechselt.
Für Wundt und Panzer bildet das Märchen den Anfang der Entwicklung, was der
letztere für die Sagen von Gudrun, Sigfrid und Beowulf darzutun versuchte. Ihm
tritt Rutgers, ein Schüler des Groninger Professors Sijmons, in seiner gründlichen und
umsichtigen Dissertation entgegen. Er gibt in einem Einleitungskapitel einen Über¬
blick über die bisherigen Forschungen und betont im Einklang mit Heusler, daß die
deutsche Heldensage zwar viele märchenhafte Elemente enthalte, daß sich aber der
Geist der alten epischen Lieder, die heroische Gestalten der Völkerwanderungszeit
feiern, von dem bloßen Unterhaltungsstil des Märchens durchaus unterscheide. Auch
ziehe Panzer ohne feste Methode entfernte junge Märchenfassungen zur Rekonstruktion
des Urmärchens heran. Sodann untersucht R. das Verhältnis von Sigfrids Braut¬
werbung zu dem russischen Märchen vom Brautwerber und zu dem Märchen vom
dankbaren Toten. Er gelangt hier zu dem Ergebnis, daß die Werbungssage nicht aus
dem Märchen abgeleitet werden kann, wie gleichzeitig A. v. Löwis mit eingehenderer
Begründung dargelegt hat (oben 34, 168). Das dritte Kapitel endlich vergleicht
Brünhilds Erweckung mit dem deutschen Märchen von Dornröschen und erklärt das
letztere für älter als die katalanische und italienische Fassung und für die Quelle
der Sigrdrifamol, in der der Flammenwall erst später hinzugesetzt wurde. — (J. B.)
Martin Schäfer, Volkslieder aus dem Kinzigtale, aus dem Volksmunde gesammelt,
mit den zwei- bezw. dreistimmigen Weisen auf gezeichnet und mit erläuternden An¬
merkungen hsg. Marburg, Eiwert 1925. Vin, 11G S., 2 Mk. — Von dem reichen Be¬
sitz des hessischen Volkes an Liedern legen die 100 durch Schäfer in den Jahren
1912-1914, teilweise auch früher aufgezeichneten Lieder, die auch jetzt noch dort
zu hören sind, ein rühmliches Zeugnis ab. Und man kann mit dem trefflichen Samm-
Notizen.
141
ler (S. 100) nur wünschen, daß sich das Volk für die verschwundenen Zusammen¬
künfte in den Spinnstuben guten Ersatz an Gelegenheiten zum Singen seiner Lieder
schaffe. Unter den sieben Gruppen des Werkes Heimat, Liebe, Jäger, Soldaten,
geistliche, verschiedene und lustige Lieder) ist die zweite weitaus die stärkste; sie
umfaßt 62 Liebeslieder. Die Melodien sind zweistimmig, so wie sie das Volk singt,
gesetzt. Ein Anhang handelt sachkundig vom Leben des Volksliedes und verzeich¬
net die anderweitigen Überlieferungen der Texte. — (J. P>.)
I. Schlosser, Märchen aus Seeland (Dänemark) übertragen. Eingeleitet von
R. F. Arnold. Leipzig und Wien, Wiener graphische Werkstätte 1022. 55 S. ^Irgend¬
wo und Irgendwann 1hl. 3). — Die drei gut erzählten und gut verdeutschten Stücke
sind aus Grundtvigs Danske Folkeseventyr (1884) entnommen: Geld regiert die Welt
(vgl. Gonzenbach nr. 68), Wer zuerst zornig wird (Bolte-Polivka 2,293), Glück und
Verstand (ebd. 3,56). — (J. B.)
Arno Schmidt, Danziger Volksspiele. Danzig, A. W. Kafemann (1925). 47 S. —
Die Schilderung des Danziger Maigrafenfestes, der dramatischen Aufführungen des
16.—17. Jalirh., der neueren Weihnachtspiele, der Fastnachtbelustigungen und Sehwert¬
tänze wird durch Literaturnachweise ergänzt und durch hübsche Abbildungen ge¬
schmückt. — (J. B.)
Hermann Schneider, Ursprung und Alter der deutschen Volksballade. (Ehris-
mann-Festschrift, 1925 S. 112—124). — Im 13. Jahrhundert trat die Volksballade das
Erbe der alten Heldenlieder an, bereichert durch sanghaft lyrische Elemente und
neue Motive, wie die Wiedererkennung der Gatten (im jüngeren Hildebrandsliede, im
Palästinareisenden), die wiedergefundene Schwester (Südeli, Kudrun) und die Dichter¬
heldensagen (Moringer, Tannhäuser, Brennberger). — (J. B.)
Siddharschi, L^pamitlbhavaprapantschä Kathä, d. i. eine Erzählung, in der
das menschliche Leben in Vergleichen dargcstellt wird, verdeutscht von W. Kirfel,
1. Band (Buch 1—3). Leipzig, Haessel 1924. 245 S. (Indische Erzähler Bd. 10). —
Dieser merkwürdige allegorische Roman, der 906 durch den Dschaina-Schriftsteller
Siddharschi in Bhillamfda verfaßt wurde, schildert ähnlich wie Bunyans “Pilgrim’s pro-
gress’’die Wanderung der Seele durch verschiedene Existenzen. Samsäridschiwa berichtet
selber, wie er durch einen schlimmen Ratgeber (Feuer) und eine Geliebte (Mordlust}
zu Fre\ eitaten verleitet, aber durch den Dschainamönch Wiweka bekehrt wurde.
Andere Erzählungen sind eiugeschoben, außer den Personifikationen treten auch
leibhaftige Menschen auf. Der Übersetzer gibt manche Partien nur im Auszug
wieder. Das ganze Werk besteht aus 8 Büchern. — (J. B.)
Siegen und das Siegerland 1224—1924. Festschrift aus Anlaß der Siebenjahr¬
hundertfeier von Burg und Stadt Siegen, hsg. von Hans Kruse. Siegen, Vorländer 1924.
120. S. fol. — Auf die 1915 erschienene Festschrift aus Anlass der 100 jährigen Ver¬
einigung des ehemaligen Fürstentums Nassau-Siegen mit Preußen (s. oben 26,145: folgt
hier, von demselben Herausgeber besorgt, die ungleich reichhaltigere zum 700 jährigen
Bestehen der Hauptstadt des Landes, ein stattliches Folioheft mit zahlreichen Ab¬
bildungen, darunter zwei trefflichen Reproduktionen nach Aquarellen von Wilhelm
Scheiner (1850). Die Mehrzahl der Aufsätze behandelt ortsgeschichtliche Themata;
der Volkskunde sind auch einige gewidmet: J. Heinzerling behandelt Glaube und
Brauch der Vorfahren im Siegerlande (u. a. Beerensprüche, Segen), W. Weyer plaudert
über die „Riimcher“ des Mundartdichters Jak. Heinr. Schmidt (1863), Landschafts-
und Ortsneckereien sammelt H. Reuter. Kunst- und kulturgeschichtlich sehr lehr¬
reich und in manchen Einzelfragen noch erweiterungsfähig ist auch der Aufsatz von
A. Kippenberger über den Kunsteisenguß im Siegerlande. — (F. B.)
Emmerich Siegris, Alte Wiener Hauszeichen und Ladenschilder. Mit 86 Ab¬
bildungen auf 60 Tafeln. Wien, Burgverlag 1924. 112 S., 60 Taf. — Die alten Haus¬
zeichen, an denen Wien vor allen deutschen Städten reich ist, erfahren liier eine
fachmännische Würdigung, die sich nicht auf ein sorgfältiges Denkmälerverzeiehnis
(S. 74—112) beschränkt, sondern zuvor einen geschichtlichen Überblick über die bau¬
liche Entwicklung der Donaustadt und die künstlerische Eingliederung des Stein¬
reliefs und Malereien in die Hausfassade bietet, den photographische Aufnahmen
veranschaulichen. Der Volkskunde im besonderen dient die Betrachtung der Dar¬
stellungen: Maria und Heilige, geschichtliche Ereignisse, Sagen Paracelsus, Basilisk),
Scherze (verkehrte Welt), Wirtshauszeichen, Sprüche usw. Auch verschwundene
Malereien und alte Hausnamen werden berücksichtigt. — (J. B.)
N. Stif, Vegn a jidisn akademisn institut. — Der Aufsatz bildet den Hauptteil
(S. 3—34) der Broschüre „Di organizacie fun der jidiser visnsaft“, Wilna 1925, 40 S.
Er enthält auf S. 14 f. eine kurze, aber interessante Bibliographie der jüdischen folklo-
ristisehen Literatur (mit charakterisierenden Bemerkungen). — (Walter Anderson.)
Otto Stückrath, Hessen-Nassauische Bücherei. 7—8: Dietrich v. Schachten,
In Gottes Namen fahren wir. Die Pilgerfahrt des Landgrafen Wilhelm des Älteren
142
Notizen.
von Hessen in das heilige Land. Melsungen, A. Bernecker, 1925. 94 S. 0,75 M. — 9;
W. H.Rie hl, Jugend einesVolksforscliers und Erzählers, ebd. 1925. 75S. 0,50 M.— 10-11:
Olga Stiickra th-St awitz, Hessischer Sagenquell, ebd. 1925. 110 S. 0,75 M. — Die Fort¬
setzung der oben S. 77 angezeigten Heimatbücherei bietet die anschauliche Beschrei¬
bung einer Pilgerfahrt i. J. 1491, die von Cassel über Venedig nach Jerusalem und
zurück über Neapel und Rom ging (nach der Ausgabe von Röhricht und Meißner von
18S0 bearbeitet): ferner Riehls fesselnde Jugenderinnerungen, zusammengestellt aus
den „Religiösen Studien eines Weltkindes“ und der Novelle „Abendfrieden“, endlich
eine Auswahl von 24 aus Grimms, Wolfs und Lynckers Sammlungen bekannten
Sagen in geschmackvoller Überarbeitung. — (J. B.)
C. W. v. Sydow, Beowulfskalden och nordisk tradition (Arsbok d. Vetenskaps-
Societeten i Lund 1925, 77 — 91). — Wiederholt hatte G. Sarrazin die Vermutung aus¬
gesprochen, dem ags. Beowulfsliede liege ein verlorenes dänisches Heldengedicht zu¬
grunde. Dem gegenüber entwickelt S. seine Ansicht, daß ein gebildeter Angelsachse,
vermutlich ein Laie, nach dem Vorbilde von Vergils Aeneis aus nordischen und
irischen Überlieferungen das Beowulfgedieht schuf. — (J. B.)
Is. Teirlinck, Flora diabolica, de plant in de demonologie. Antwerpen, ‘De
Sikkel' (1925). 322 S. 8°. — Vor 92 Jahren erschien Dierbachs „Flora mythologica“,
welche die der antiken Götterwelt entlehnten Pflanzennamen systematisch zusammen¬
stellte. Die vorliegende „Flora diabolica“ Teirlincks, die sich an zwei frühere, mir
unzugängliche Werke dieses vlämischen Forschers (De plant een levend, bezieh,
handelend wezen 1892. Plantenkultus 1904 — 12) anschließt, greift tief in die mittel¬
alterliche Weltanschauung hinein, nach der sich der Kampf göttlicher und teuflischer
Mächte auch im Pflanzenreich offenbart; es gibt schädliche und heilsame Pflanzen;
jene liebt und braucht der Teufel zu seinen Zwecken, diese schützen den Menschen
gegen den Bösen, gegen Hexerei und Krankheit. Demgemäß bespricht Teirlinck
im ersten Teil seines ungemein reichhaltigen, wohlgegliederten und mit genauen
Quellennachweisen versehenen Buches die diabolischen Pflanzen und in dem kürzeren
zweiten die antidiabolischen. Er nützt sorgsam, was ältere und neuere Botaniker
und deutsche, französische und englische Volkskundler über Pflanzennamen, Legen¬
den, Sagen und Aberglauben bereits zusammengestellt haben, und unterscheidet
Pflanzen, in denen der Teufel wohnt, wie z. B. im Nußbaum zu Benevent (oben
19,312), solche, die der Teufel zum Verderben der Menschen verwendet, wie Mandra¬
gora, Belladonna, Bilsenkraut, Farnkraut, Distel, solche, die nach seinen Körperteilen
(Teufelsauge, -hart, -klaue, -dreck usw.) benannt sind, oder die ihm Kleidung, Haus¬
rat und Nahrung verschaffen, endlich solche, die der Teufel erschaffen oder ver¬
dorben hat (wie das Unkraut, die Nesseln) und die mit einem Fluche behaftet sind,
wie Höllkraut, Judaspfennig, Judendorn, Türkenbohne, Heidenkorn, Sodomsapfel.
Wider den Teufel, bösen Zauber und durch Hexen verursachte Krankheiten helfen
viele heilsame Kräuter, namentlich starkduftende, die an bestimmten Festtagen ge¬
pflückt und in der Kirche geweiht sind, wie Beifuß, Bibernell, Lavendel, Dorant,
Betonie. Dabei bespricht T. auch die angewandten Zauberformeln und die Räucherung
in den Rauchnächten. Die Übersicht über den Inhalt des Ganzen wird nicht nur
durch ein ausführliches Register, sondern auch durch eine Aufzählung der lateinischen
Pflanzennamen nach dem wissenschaftlichen System erleichtert. — (J. B.)
F. Thierfelder, Die visa der schwedischen Liederbücher des 16. und 17. Jahr¬
hunderts und ihr Verhältnis zur gleichzeitigen deutschen Liedpoesie. Greifswald,
L. Bamberg 1922. IV, 105 S. (Nordische Studien 3). — Was in Schweden im 16. und
17. Jahrh. gesungen wurde, lehren 11 neuerdings von Noreen, Schuck u. a. abgedruckte
Liederhandschriften dieser Zeit (Balladen, weltliche und geistliche Lieder). Den Bal¬
laden ist der Kehrreim eigentümlich, dessen Ursprung im Tanzliede zu suchen ist;
doch läßt sich nicht nachweisen, daß er im 16. Jahrhundert noch vom Chor gesungen
wurde. Zeigen die Balladen auch in Stoff und Form durchweg nordische Eigenart, so
haben doch Dichter und Sänger bisweilen auch fremde Stücke übernommen, sofern
diese sich ihrem Empfinden anpaßten. In weit höherem Maße aber ist die Liebes¬
lyrik vom deutschen Gesellschaftsliede abhängig, ebenso wie gleichzeitig das geist¬
liche Lied der lutherischen Kirche und die galante Kunstdichtung von Opitz, Rist,
Vogtländer vorbildlich wirkte. Diese Verhältnisse legt Th. in fünf Kapiteln an¬
schaulich dar, indem er Inhalt und Form der schwedischen Dichtung charakterisiert
und zwischen verwandten Zügen und direkter Abhängigkeit von der deutschen Poesie
zu unterscheiden weiß. — (J. B.)
J. Turyn, Zar Nachtigall. Märchen aus der Ukraine, hsg. und übersetzt. Leipzig
und Wien, Wiener graphische Werkstätte 1922. 63 S. (Irgendwo und Irgendwann
Bd. 12). — Zu einer würdigen Charakteristik der ukrainischen Volksmärchen scheinen
uns die hier mitgeteilten drei Stücke kaum auszureichen. Das erste von den drei
mißratenen Söhnen des Zaren Nachtigall und seiner Tochter, die vom eigenen Bruder
verführt wird, enthält zwar bekannte Motive (Wache am Grabe des Vaters, Zauber-
Notizen.
143
gaben, Tanz im Dornbusch), ist aber von pessimistischer Weltanschauung erfüllt. Der
‘große Sünder' gehört zu dem von Andrejev FFC54 behandelten Kreise. Die ‘lebende
Flöte' ist eine Variante des singenden Knochens (Bolte-Polivka 1, 268). — (J. B.)
Jan de Vries, Flet Sprookjes-onderzoek der finsche School (Methode <*n Resultaten 1 .
Groningen, Noordhoff. 12 S. (aus Mensch en Maatschaapij 1925, Juli). — Begrüßt Krohns
und Aarnes geographisch-historische Methode, welche die verbreitetste und zugleich
natürlichste Form eines Märchens für die Urgestalt hält, als eine gesunde Reaktion
gegen frühere verfehlte Untersuchungen über Märchenstoffe, wenn er auch die Ge¬
fahren einer allzu mechanischen Auffassung oder einer oft fragmentarischen Kenntnis
der Überlieferung nicht verkennt und für die Erklärung des ersten Ursprunges von
der Psychoanalyse, Mythologie und Religionsgeschichte Förderung erhofft. — (J. B.)
J. de Vries, Het Sprookje van Sterke Hans in Ostindie (Nederl. Tijdsohr. voor
Volkskunde 29, 97—123). — Zu Grimm nr. 91 ‘Erdmänneken’.
Karl 0. Wagner, Pinzgauer Sagen. Wien, Österreichischer Bundesverlag 1925.
153 S. (Deutsche Hausbücherei 112). — In sachlicher Gruppierung wird uns wertvoller
Sagenstoff aus älteren Salzburger Veröffentlichungen und neueren Aufzeichnungen
von S. Xarholz, K Lauth, K Unterwurzacher, M. Standl, G. Blaikner vorgeführt. Be¬
sondere Nachweise fehlen. Zu S. 143 (Zahlen 1—7 gedeutet) vgl. Bolte-Polivka, Anm.
3, 15h - (J. B.)
Eduard Wallner, Altbairische Siedelungsgeschichte in den Ortsnamen der Ämter
Bruck, Dachau, Freising, Friedberg, Landsberg, Moosburg u. Pfaffenhofen. München
und Berlin, Oldenbourg 1924. 145 S. S°. Gebd. 0 M. — Die Wallnersche Schrift
ist ein Zeugnis für die Arnoldsche Ortsnamenforschung, wenn sie kritisch angewandt
wird. Nach geschichtlichen, sachlichen und geographischen Beziehungen sind alle
Ortsnamen in ihrem ältesten Bestände erfaßt und geben ein verhältnismäßig klares
Bild der Siedlungsvorgänge, der siedelnden Personen und der landschaftlichen Be¬
schaffenheit Südbayerns zur Zeit der Kolonisation Schon die Gegenüberstellung der
G9°/ ft der gesamten "und der S5% der zur ältesten Schicht gehörigen -ing-Orte erweitert
die Kenntnis dieser Ortsnamengattung Das Land ist nach dem Aufbau, den Wasser¬
verhältnissen, dem Moor und dem Walde, der Pflanzen- und der Tierwelt und nach
den geringen Spuren der vordeutschen Verhältnisse aufgezeigt. Nach Berücksich¬
tigung der fremden Volksteile sind die bayerische Bevölkerung nach der Art der
Landnahme, der Gliederung, dem Recht, der Heldensage, dem Glauben, der kirch¬
lichen Einrichtung und die Siedlungsverhältnisse nach dem Acker und der Feld¬
mark, nach den Grundherren, den Rodungsvorgängen, den befestigten Anlagen, den
Mutter- und Tochtersiedlungen erläutert. Die Namenerklärungen sind vorsichtig
gegeben und durch zahlreiche Unterlagen gestützt, unter denen man freilich die
Arbeiten von W. Schoof vermißt. Auch über die Ortsnamen Kaltenberg (Kaltenbach")
und Schnattersbach liegt ein reiches Material (Niedersachsen, Bd. 23—25) vor, das
dem Verfasser anscheinend unbekannt geblieben ist. Das sollen jedoch nur Rand¬
bemerkungen sein, die den Wert der Untersuchung in keiner Weise mindern. Wallner
hat, soviel ich sehe, zum ersten Male im Zusammenhänge gezeigt, wie wichtig die
Ortsnamen für die Aufhellung der alten Landschafts- und Kulturverhältnisse sind,
wenn sie methodisch für Land, Leute und Wirtschaft eines geschlossenen Gebietes
herangezogen werden. — (R. Mielke.)
K. Wehrhan, Hermann der Cherusker und die Hermannsschlacht in der Volks¬
überlieferung. 29 S. (Aus der Festschrift: Hermann der Cherusker und sein Denk¬
mal. Detmold, Meyer 1925.) — Die mit 1500 anhebenden Zeugnisse, denen Riffert
18S0 und Tiedemann 1913 nachgingen, werden hier vielfach ergänzt. — (J. B.)
K. Wehrhan, Lippske Leuer, sammelt und iutgieben. Detmold, Meyersclie Hof¬
buchhandlung 1925. 35 S. — Dies Liederbuch des plattdeutschen Vereins in Detmold
enthält 30 Nummern mit Melodien und Lautenbegleitung, von denen die meisten
auch sonst in Deutschland bekannt sind. Eigenartig sind die Hirtenneckrufe nr. IS
bis 23, den Anfang machen Dichtungen von F. Wienke und A. Bolhöfer. — (J. B.)
W. Wienert, Die Typen der griechisch-römischen Fabel, mit einer Einleitung
über das Wesen der Fabel. Helsinki 1925. 187 S. (FF Communications 56). — Die
tüchtige Arbeit, eine von Prof. Herzog und Hepding angeregte Gießener Dissertation,
sucht auf dem Gebiet der antiken Fabel Ähnliches zu leisten wie Aarnes Typen¬
katalog der Märchen. W. definiert die Fabel als Erzählung einer konkreten Hand¬
lung, aus der eine allgemeine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit durch die
aktive (metaphorische oder verallgemeinernde) Geistestätigkeit der Zuhörer gewonnen
werden soll. Gemäß dieser Zweiteilung in Erzählung und Lehre entwirft er zwei
Typenverzeichnisse der Fabeln: eins der märchenhaften, sagenhaften und novellen¬
artigen Erzählungsmotive, das 523 Nummern umfaßt, und eins der Sinntypen, das
537 Nummern unter bestimmte Erfahrungssätze (wie: Blinder Eifer schadet nur;
Unbedachte Wünsche; Wo Kräfte fehlen, hilft List; Der Tod das größte Übel)
144
Notizen.
gruppiert. Ein Register der auftretenden Personen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände
erleichtert den Überblick über die beiden scharfsinnig durchdachten Kataloge. Aus¬
gesondert sind (auf S. 34—41) eine Reihe zu Unrecht in die Fabelsammlungen ge¬
langter Stücke, wie das Märchen von den drei Wahrheiten, die der gefangene Fuchs
sagen muß, Herakles am Scheidewege, die treulose Witwe, der Prozeß um des Esels
Schatten. Uber die weitreichende Wirkung der einzelnen Fabelstoffe bis nach Indien
und in die Neuzeit geben kurze Fußnoten Auskunft. — J. B.)
K. Wossidlo, Von de lütten Ünnerierdschen. Rostock, G. B. Leopold 1925. 04 S.
(Bökene von’n Plattdütschen Landsverband Meckelborg, Heft 6—7). — Diese Auslese
aus dem von Wossidlo zusammengebrachten mecklenburgischen Sagenmaterial, das
gegen 17 000 Nummern umfaßt, handelt ausgiebig über Wesensart, Wohnsitz, Geburt,
Hochzeit, Tod, Wechselbälge, Nahrung, Beschäftigung und Abzug der Zwerge. Zum
Mühlenstein am Faden (S. 7. Ib) vgl. Bolte-Polfvka 1, 300, zum Brauen in Eierschalen
(S. 40-44) ebd. 1, 30S, zum Treten auf den Fuß (S. 03) ebd. 2,320. 518, zu Seiber¬
getan (S. 15) Hackman, Polyphemsage 1904 S. 203. — (J. B.)
P. Zaunert, Rheinland-Sagen, gesammelt und lisg. 1. Band: Niederrhein bis
Köln, Bergisches Land, Eifel. 2. Band: Das Rheintal von Bonn bis Mainz, Volks¬
glaube der Gegenwart. Jena, E. Diederichs 1924. X, 304. 307 S. mit 20 Tafeln und
34 Abbildungen im Text, 12 M. — Die vorliegenden beiden stattlichen Bände er¬
öffnen eine auf 30 Bände berechnete deutsche Sagensammlung, die als ein würdiges
Seitenstück neben ein andres großes Unternehmen des Diederichssehen Verlages, die
Märchen der Weltliteratur, tritt. Gründlicher und systematischer als fast alle früheren
Sammler von Rheinsagen geht Z. vor, indem er den Stoff in zwei dem Umfange der
beiden Bände freilich nicht entsprechende Teile gliedert: historisch und lokal be¬
grenzte Sagen der Vergangenheit und den Volksglauben der Gegenwart an Hexen¬
meister, Geisterseher, Gespenster und Schatzgräber. Er führt den Leser nach einem
geschichtlichen Überblick von der holländischen Grenze rheinaufwärts bis Mainz,
dabei das Bergische Land und die Gebiete der Eifel, Mosel, Saar und Nahe berück¬
sichtigend. Er schöpft durchweg, wenn auch nicht immer aus den ältesten Quellen
und läßt moderne Erfindungen wie den Kölner Schwank von Jan von Werth und
Grietje oder dichterische Ausgestaltungen wie Kopisclis Heinzelmännchen bei Seite.
Alte Chroniken, Strambergs Rheinischer Antiquarius, Cäsarius von Heisterbach, die
Biographie des Albertus Magnus sind ausgenützt, und neben den vorhandenen Samm¬
lungen auch die heutige mündliche Überlieferung herangezogen trotz aller durch
die fremde Besatzung hervorgerufenen Schwierigkeiten der letzten Jahre. Die Dar¬
stellung ist einfache, fortlaufende Erzählung, gibt aber zugleich die Gesichtspunkte
der heutigen Sagenforschung zur Beurteilung des Stoffes an. Die bildlichen Bei¬
gaben sind aus Drucken des 16. und 17. Jahrh. entlehnt, darunter 1, 185 der Kölner
Bilderbogen der aus dem Grabe erstehenden Frau Richmodis, der oben 20, 35S be¬
sprochen wurde. Außer einem Sach- und Ortsregister sind ausführliche Anmerkungen
mit Quellenangaben und Erläuterungen beigegeben. Daß zu letzteren manches nach¬
getragen werden könnte, ist bei einem so weitschichtigen Stoffe natürlich; ich nenne
beispielsweise 1, 125 Kimon und Pero (R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 373. 2, 386). 1, 233 Mar-
kolfs Katze (ebd. 2, 641), 1, 63 Grimms Märchen vom jungen Riesen, 2, 127 die h.
Kümmernis, 2, 146 Eulenspiegel (Hist. 97), 2, 116 den sprechen lernenden Hund (Bolte
zu Pauli c. 843). — (J. B.)
E. Zimmermann, Das deutsche Drama des Mittelalters hsg. 1. Bielefeld, Vel-
hagen & Klasing 1925. IV, 166 S. (Deutsche Schulausgaben 200). — Als Vertreter
des geistlichen Dramas erscheinen das hessische Weihnachtsspiel des 15. Jahrh., das
nd. Redentiner Osterspiel (beide nach neuer Vergleichung der Handschriften, das
Osterspiel jedoch nur in Auswahl) und das Eisenacher Zehnjungfrauenspiel von 1321.
Eine kurze Einleitung orientiert über die geschichtliche Entwicklung, Fußnoten er¬
klären die alten Ausdrücke. — (J. B.)
G. Zitzer, Mein Hinterland. Frankfurt a. M., M. Diesterweg 1925. 149 S. —
Dies erfreuliche Muster eines Heimatbuches liefert eine lebendige, mit trefflichen
Federzeichnungen von K. Lenz geschmückte Schilderung des hessischen Kreises
Biedenkopf, dessen Bewohner noch viele alte Sitten, Sagen, Schwänke und Lieder
bewahrt haben. Geschickt hat der Vf. z. B. die Beschreibung einer prähistorischen
Wallburg ^8. 12) durch eine anschauliche Erzählung ersetzt oder auf die Mundart¬
grenzen des langgezogenen Gebietes (S. 120) durch eine ‘Wörterjagd 1 auf die ver¬
schiedenen Namen für Tasche, Deichsel, Ziege usw. hingewiesen. Natürlich begegnen
bekannte Märchen- und Sagenzüge: das Erdmänneken tS. 54), ICatherlieschen und die
kluge Else (,92. 94), die Weiber von Weinsberg (44), der wandelnde Wald (56), ferner
Hausinschriften, Kinderreime und aus der großen ungedruckten Sammlung von
600 Liedern eine Probe von 6 Nummern mit den Weisen. — (J. B.)
Bolte: Nekrolog.
145
Elisabeth Lemke f.
Am 11. August 1925 entschlief zu Zoppot unsere langjährige treue Mitarbeiterin
Fräulein Elisabeth Lemke, deren Wirken den Freunden der Volkskunde weit
über die Grenzen ihrer ostpreußischen Heimat bekannt geworden ist. Sie war
am 5. Juni 1849 als das älteste Rind des Rittergutsbesitzers Richard Lemke zu
Rombitten in Ostpreußen geboren und wuchs in enger Vertrautheit mit den Über¬
lieferungen und Anschauungen der ländlichen Bevölkerung auf. Die Amme ihrer
jüngeren Schwester Ottilie war eine großartige Märehenerzählerin, ebenso der Jäger
Schulz und die Tagelöhnerfrau Sehrag. Reges Interesse gewann sie als erwachsenes
Mädchen an der Wissenschaft der Botanik, der Prähistorie und der in den Anfängen
stehenden Volkskunde, und ohne regelrechten Studiengang ward sie nicht müde,
sieh bei bewährten Fachmännern wie Conwentz, Frisehbier, Treichel Rat zu holen
und sieh umfassender Sammelarbeit zu widmen. Was sie auf ihren Streifzügen,
die sieh bald nach Rußland und Belgien ausdehnten, erbeutete, übergab sie den
Museen in Danzig, Königsberg, Berlin und anderwärts. Für die Aufzeichnung der
mündlichen Überlieferungen besaß sie eine besondere Gabe, sich das Zutrauen des
Volkes zu erwerben. Ä Um ein Volk zu verstehen, 14 schreibt sie, „muß man ihm
mit dem Herzen verbunden sein und sein Wohl und Wehe zu dem seinen machen.
Das Volk will belauscht und nicht ausgefragfc sein; denn das letztere hält es für
Plünderung an seinen treu behüteten Überlieferungen, die ein Stück von ihm selbst
sind. 44 Als Ziel ihres Forsehens bezeiehnete sie Klarheit und Wahrheit. Deshalb
nimmt sie in ihrem Hauptwerk ‘Volkstümliches aus Ostpreußen (1—3. 1884 1899)
nur auf, was ihr persönlich vom Volke mitgeteilt war, und entlehnt nichts aus
anderen Schriften, absichtlich beschränkt sie sich darauf, Rohmaterial für die tor-
seher zu bieten, und weiß das scharf Beobachtete vorzüglich in echter korm wieder¬
zugeben: Märchen, Sagen, Lieder, Kinderspiele, Bräuche, Aberglauben. Anders
verfahrt sie in ihren Vorträgen, deren sie von 1886 ab 203 in vielen Vereinen ge¬
halten und teilweise in Zeitungsartikeln veröffentlicht hat; eine Auswahl davon
erschien 1914 u. d. T.: ‘Asphodelos und anderes aus Natur- und N olkskunde.’ Ein
munterer, fesselnder Plauderton war ihr eigen, der aber bei der Sache blieb ohne
die Sucht geistreich zu wirken. Ihr Gesichtskreis erweiterte sich stetig, seit¬
dem sie 1886 ihren Wohnsitz nach Berlin verlegt und viele Reisen unternommen
hatte, die sie bis nach Rumänien, Tunis und Nordamerika führten. Italien besuchte
sie besonders häufig (16 mal), und ihr großes Sprachtalent half ihr auch hier, den
Weg zum Herzen des Volkes zu linden. Reiche Anerkennung erntete ihre lätig-
146
Brunner:
keit seitens gelehrter Gesellschaften, wie des Märkischen Provinzialmuseums in
Berlin, das ihr 1899 seine goldene Medaille verlieh, des Germanischen Museums
in Nürnberg, der Prussia in Königsberg, der litauischen literarischen Gesellschaft, des
westpreußischen zoologischen Vereins usw, Unserm Vereine für Volkskunde gehörte
sie seil seiner Begründung an und legte in dieser Zeitschrift viele Ergebnisse ihrer For¬
schung nieder. Ihre letzten Lebensjahre verlebte sie in Oliva, wohin sie 1921 von Berlin
übergesiedelt war, und seit 1923 im Altersheim zu Zoppot. da die Abnahme ihrer
geistigen Kräfte eine besondere Fliege notwendig machte. Treu sorgte hier um sie
ihre Nichte Fräulein Sophie Neumann, der auch dieser kurze Lebensabriß für
gütige Hilfe zu Dank verpflichtet ist.
Berlin. Johannes Bolte.
Aus den
Sitzungs-Berichten des Vereins für Volkskunde.
Freitag, (len 30. Oktober 1925. Der Vorsitzende, Hr. Geheimrat Prof. Dr.
Joh. Bolte gedachte des Ilinscheidens der Volksforseherin Elisabeth Lemke.
Hr. Studienrat Dr. Fritz Boehm berichtete über die Stuttgarter Tagung des Verbandes
deutscher Vereine für Volkskunde am 26. u. 27. Sept. d. J. Der Vorsitzende sprach
alsdann über die Streitgespräche zwischen Sommer und Winter, wie ein solches in
lateinischen Versen schon am Hofe Karls d. Gr. aufgeführt wurde und ähnliche später
von Hans Sachs mehrfach beigebraeht sind, z. B. in dem Schwank vom Kriege der armen
Leute mit der Kälte. Auch in anderen Ländern finden sie sieh überliefert, so in
Dänemark, Schweden, Alt-England, der Schweiz, Bayern, Steiermark und im Schön-
hengster Gau in Mähren. Die Zeit der Aufführung solcher Gespräche ist die Fast¬
nachtszeit, der Lätare-Sonntag und in Schweden der Mai. Ganz ungewöhnlich ist
die von Kuhn u. Schwartz vom Jahre 1848 aus Boitzenburg in der Uckermark er¬
wähnte Aufführung eines solchen Streites zur Weihnachtszeit. Aus dem Wortstreit
ist öfter ein Wettstreit entstanden, z. B. zwischen Stechpalme und Epheu oder Buchs¬
baum und Weinrebe, Kuekuk und Eule, die sieh gegenseitig ihrer Vorzüge rühmen.
Freitag, den 27. November 1925. Der Vorsitzende wies auf Anträge zu¬
gunsten der Volkskunde hin, die im Landtage angenommen wurden und besonders
ihre Pflege an den Universitäten und Schulen im Auge haben. Auch die Förderung
der Sammlung für deutsche Volkskunde in Berlin, Klosterstr. 36, wird befürwortet.
Das Dorpater Estnische Museum übersandte das erste Heft seines Jahrbuches 1925,
das am Schlüsse eine Übersieht des Inhalts in deutscher Sprache bringt. Herr
Universitätsprofessor Dr. J. Petersen hielt dann einen Vortrag über die goldene
Zeit in der germanischen Sage. Die ausgeprägteste Form der Idee vom goldenen
Zeitalter bietet Zoroaster, aber auch bei anderen Völkern des Altertums lebten ähnliche
Vorstellungen, und sogar außerhalb dieses geographischen Zusammenhanges. Im
Mittelalter kann man eine theokratische und eine imperialistische Erscheinungsform
des Gedankens unterscheiden. Die Aufklärungszeit will das goldene Zeitalter in eine
Folge natürlicher Entwicklungen einreihen, wie es Schiller tut. Görres dagegen
fühlte diese Ideen auf Übertragung aus dem Orient zurück. Ad. Bastian nähert sieh
wieder der Auffassung der Aufklärungszeit, während P. Ehrenreich Zusammenhänge
größeren Umfanges für wahrscheinlich hält. Salin und von Friesen wiesen mit
Nachdruck auf die Mischkulturen hin, die Übertragungen aller Art ermöglichen mußten.
Vergleichbare Mythen bei Germanen und älteren Völkern findet Neckel z. B. in
Baldur und Dionysos. Voraussetzung für Übertragungen ist Sympathie der Völker.
Hinter der Front der Germanen, die durch Übervölkerung zum organisierten Kriege
getrieben wurden, saßen aber auch friedlich Ackerbau treibende Stämme. Im Lichte
dieses Dualismus ist das Wesen der Germanen zu betrachten. Ein Dauerfrieden
zwar war ihnen unbekannt, aber ihr goldenes Zeitalter war der Friede Freys, dessen
Kult, in Seeland heimisch, die Fruchtbarkeit des Landes betonte und sein Gold, d. h.
Sitzungs-Berichte.
147
das Korn oder Mehl als Symbol führte. Im deutschen Märchen liegen Erinnerungen
an germanische Mythen vor. Den Begriff der Ewigkeit haben die Germanen erst
aus dem Christentum erhalten. Seitdem erst konnte die Idee des ewigen Friedens
entstehen. Aber trotz des Sieges christlicher Gedanken treten doch Nachklänge
altgermanischer Anschauungen in den Sagen vom Kaiser in den Bergen, von der
Schlacht am Birnbaum usw. hervor, die in der Romantik wieder lebendig wurden.
An der Besprechung des Vortrages beteiligten sich die Herren Prof. Dr. BrandI,
Neckcl, Mielke, Ed. Hahn und Frl. Ida Hahn. Wie in früheren Jahren wurde
wieder zu einer zwanglosen Zusammenkunft nach der Sitzung in den Akademischen
Bierhallen aufgefordert.
Freitag, den 4. Dezember 1025. Die Sitzung fand im Hörsaal 70 der Uni¬
versität statt. Vorsitz Geh.-Rat Bolte. Hr. Universitätsprofessor Dr. John Meier
aus Freiburg i. Br. sprach über das Guggisberger Lied; Entstehung und Entwicklung
eines Volksliedes mit musikalischen Illustrationen durch Hrn. Konzertsänger Robert
Spörry und Hrn. Studienrat Dr. F. Boehm am Klavier. Dieses schweizerische
Volkslied macht zwar den Eindruck, als wenn es aus einem Gusse gefügt sei, ist
aber doch aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt im Laufe langer Zeit. Wander¬
strophen sind mehrfach eingebaut. Der Anfang des Liedes ist am Ende des 1 > Jahrh.
überliefert. Etwa 13, durchaus nicht übereinstimmende Fassungen sind^bekannt,
doch ist eine sichere Ausscheidung von nicht Ursprünglichem unmöglich. 1741 findet
sich ein Gedicht, das die in unserem Liede genannten Personen, das Vreneli ab
em Guggisbärg und des Simes Hans-Joggeli, mit Namen erwähnt. Es scheint ein
Schelmenlied zu sein, auf das hier angespielt wird. Auch in anderen zahlreichen
Versen kommen die Namen vor, die als typische Vertreter der Landschaft gelten.
Die Guggisberger lassen sich nicht gern nach diesen Namen fragen, da der Volks¬
witz sich ihrer bemächtigt hat. Unser Lied scheint in seiner bekanntesten Form
am Ende des 17. Jahrh. festgelegt zu sein; die Mollmelodie ist fremd entlehnt. In
Erks Nachlaß fand sich überraschenderweise ein lettisches Lied, das merkwürdige
Beziehungen zu unserem schweizerischen Liede zeigt. Auch ähnelt es einer hol¬
ländischen Ballade des 15. Jahrh. „Ich stand auf hohem Berge“ usw., aufgezeichnet
im 18. Jahrh. Die Melodie dieser Ballade ist nur durch das lettische Lied über¬
liefert und zeigt Anklänge an mittelalterliche Tonalität. Sie ist die älteste und am
wenigsten gestörte Melodie unseres Liedes. Als eine Möglichkeit ihrer t bertragung
nach dem Osten kann vielleicht die Tatsache in Betracht kommen, daß der ost¬
preußische Burggraf von Dohna auch in der Schweiz begütert war und 1713 An¬
siedler von dort nach Litauen zog. Außer dem Guggisberger Lied trug Hr. Spörry
den Emmentaler Hochzeitstanz vor zur Erläuterung des Verhältnisses von Refrain
und Liedstrophe im erstgenannten Volksliede. Die räumliche Nähe beider Lieder
macht die Angleichung der Melodien erklärlich. Hr. Geheimrat Dr. Minden wies
noch auf die wiederholte Kolonisation des Ostens durch Ansiedler aus den deutschen
Alpenländern hin und bemerkte, daß er vor vierzig Jahren in der Pilikaller Gegend
schweizerische Namen und allgemeine Bezeichnung der Viehpllcger als Schweizer
vorgefunden habe. K. Brunner.
Volkskundliche Bibliographie, Liederhefte und FF Communications.
Die Mitglieder der dem Verbände der deutschen Vereine für Volkskunde an¬
geschlossenen Vereine und Anstalten können die volkskundliche Bibliographie zu
ermäßigten Preisen beziehen, und zwar: Für die Jahre 191/, 1918 und 1919 zu je
1,50 M. (Ladenpreis 2 M.), für das Jahr 1920 zu 4 M. (Ladenpreis G M.). Porto
und Verpackung gehen zu Lasten des Empfängers. Unsere Mitglieder werden noch¬
mals auf diese Preisermäßigung aufmerksam gemacht und zum Bezüge dringend
aufgefordert. Nur wenn das Unternehmen der Bibliographie durch zahlreichen Be¬
zug von Mitgliedern und Einzclvereinen unterstützt wird, ist der A erband in der
Lage, es fortzusetzen, was für die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete
der Volkskunde eine Lebensfrage ist.
148
Boehm: Volkskundliche Bibliographie.
Die ‘Alten und neuen Lieder 1 , die im Buchhandel vergriffen und besonders
wegen ihrer wertvollen Illustrationen (von Slevogt u. A.) sehr begehrt sind, werden,
soweit der Vorrat reicht, zum Preise von je 0,25 M. für Heft 1—4 ausschließlich Porto
abgegeben. Von den bisher erschienenen landschaftlichen Liederheften kosten die
Schlesischen Volkslieder für Mitglieder 1,30 M. (statt 2 M.), die Badischen 1,60 M.
(statt 2,50 M.).
Von den FF Communications sind die nachstehend verzcichneten Hefte noch
vorrätig und werden den Mitgliedern mit 10% Rabatt auf die beigefügten Original¬
preise geliefert. Diese verstehen sich in finnischer Mark, die zum Tageskurse
(zurzeit 1 Fmk. etwa 0,105 Rrok.) umzurechnen ist. Vorhanden sind: Nr. 34,
V. Tille, Verzeichnis der böhmischen Märchen 1, 1921 (60 Fmk.) — Nr. 42, W. An¬
dersen, Kaiser und Abt, 1923 (80) — Nr. 43, V. J. Mansikka, Religion der Ostslaven 1,
1922 (80) — Nr. 45—46, I. Manninen, Die dämonistischen Krankheiten im Volks¬
aberglauben. — R. Th. Christiansen, The norwegian Fairy-tales on short summary,
1922 (60) — Nr. 47—48, A. Aarne, Das estnische Maie-Lied. — Das Lied vom
Angeln der Jungfrau Villamos 1922 — 24 (60) — Nr. 49—50, L. Mackensen, Der
singende Knochen. — E. Philippson, Der Märchentypus von König Drosselbart,
1923 (60) — Nr. 51—52, E. Mogk, Novellistische Darstellung mythologischer
Stoffe Snorris und seiner Schule. — K. Krohn, Magische Ursprungsrunen der
Finnen, 1924 (60) — Nr. 53, K. Krohn, Kalevala-Studien 1, 1924 (30) — Nr. 54,
N. P. Andrejev, Die Legende von den zwei Erzsündern, 1924 (30) — Nr. 55,
A. V. Rantasalo, Der Ackerbau im Volksaberglauben der Finnen und Esten,
mit entsprechenden Gebräuchen der Germanen verglichen, 4, 1924 (30) — Nr. 56,
W. Wienert, Die Typen der griechisch-römischen Fabel mit einer Einleitung über
das Wesen der Fabel, 1925 (30) — Nr. 57—60, E. Mogk, Lokis Anteil an Baldurs
Tode. — Zur Gigantomachie der Völuspa. — A. Christensen, Motif et theme, plan
d’un dictionnaire des motifs de contes populaires, de legendes et de fables. —
J. Qvigstad, Lappische Märchen- und Sagenvarianten, 1925 (30).
Bestellungen auf alle genannten Bücher sind an die Geschäftsstelle des Ver¬
bandes deutscher Vereine für Volkskunde zu richten (Freiburg i. Br., Silberbachstr. 13).
F. B.
Druck: Gebr. Unger, Berlin SW 11.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
Von Theodor Zachariae.
Nach den indischen Rechtsbüchern können, um einen säumigen
Schuldner zur Zahlung seiner Schulden zu zwingen, die verschiedensten
Mittel angewendet werden 1 ). Wenn gütliches Zureden nichts hilft,
kann der Gläubiger den Schuldner gebunden 2 ) in sein Haus führen
und ihn dort durch Schläge, Drohungen usw. zur Erfüllung seiner
Verpflichtungen anhalten oder als Schuldknecht Zwangsarbeit
verrichten lassen. Eigentümlich ist die Eintreibung einer Schuld
durch den ‘herkömmlichen Weg’, was mit Fasten oder Erwarten des
Todes durch Enthaltung von Nahrung, Skr. prciya , aber auch mit
Tötung, Wegnahme, oder Einsperrnng der Söhne, der Gattin oder
des Viehs (des Gläubigers selbst oder des Schuldners) und Belagerung
•der Tür des Schuldners erklärt wird.
Der proya (prriyopavesana usw.) besteht darin, daß der Gläubiger so lange
vor dem Haus des Schuldners sitzt und fastet, bis seine Forderung befriedigt ist;
stirbt der Gläubiger hierbei, so gilt der Schuldner als sein Mörder, ln der in¬
dischen Literatur, namentlich in den Epen, kommt der proya nicht selten vor
und dient dort zur Erreichung der verschiedensten Zwecke. Siehe Hopkins, On
the Hindu custom of dying to redress a grievance, Journal of the American
Oriental Society 21, *2, 146(T. In diesem Zusammenhang sollen auch die indischen
Bettlerklassen (die Aghoris, Mondis, Bandas, Nettikotalas usw.) erwähnt werden,
die sich, um ein Almosen zu erpressen, Verwundungen bcibringen oder drohen,
sieh selbst zu töten, wenn ihnen das Verlangte nicht gewährt wird (Thevenot,
Voyages 3 [1689], 198; \V. Jones, Asiatic Researches 4, 332; Thurston, Castes
and Tribes of S. India 1, 146. 5, 71 f. 414; J. J. Meyer, Das Weib im altindischen
Epos 1915 S. 226, Anmerkung; Stein zu Rüjatarangiin 8, 142; Indian Antiquary 1,
162; Journal of the Anthropologien! Society of Bombay 3,202. 235 IT. 245). Vgl.
namentlich über die Cärans und Bhäts: Thevenot 3,40; John Malcolm, Memoir
of Central India 2, 131 fr.; Hopkins, The religions of India 1895 p. 4 <9; Aca¬
demy 29, 452.
Die Zwangsarbeit und die Scliuldknechtscliaft kommen noch
jetzt, wenigstens in abgesckwächter Form, häufig vor. Im Süden
Indiens herrschte die tcikäkä , d. h. man ließ das Haus des Schuldners
1) Die obigen Ausführungen im engen Anschluß an Julius Jolly, (indisches)
Recht und indische) Sitte 1896 S. 112. 147 f. Ausführlich hat Jolly über das Lin-
treiben der Schulden im alten Indien gehandelt in den Sitzungsberichten der philo¬
sophisch-philologischen Classc der K. bayr. Ak. der Wissenschaften zu München 1S77
S 313 ff. (danach die Darstellung von ß. W. Leist, Altarisches Jus gentium 18S9
S. 473 ff.). Den hierher gehörigen Abschnitt im Gesetzbuch des Manu hat Jolly
übersetzt und kommentiert in der Zs. für vergleichende Rechtswissenschaft 3, 243 ff.
Siehe sonst auch A. H. Post, Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens 1878 S. 270ff.
und desselben Autors Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz 2 1895' S. 5o9 ff.
2) Das Binden des Schuldners läßt sich bereits aus dem Veda belegen. Siehe
R. Pischel und IC. F. Geldner, Vedisehe Studien 1,228. Vgl. auch Somadeva, Katha-
saritsägara 121, 34 (in Tawneys Übersetzung 2, 572); J. A. Dubois, Manners and cus-
toms of the people of India S. 299 (zitiert von Crooke, Folk-Lore 8, 343).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925 26. 11
Xachariae:
150
durch gemietete Diener bewachen oder förmlich belagern, oder schnitt
ihm die Wasserzufuhr ab, oder drohte sich ein Leids anziitun, bis
er seine Schuld bezahlte. Verwandt hiermit ist das dem prenja ent¬
sprechende, ehemals in ganz Indien und noch jetzt in Nepal übliche
(Jiar/ni, wobei der Gläubiger, namentlich wenn er ein Brahinane war,
so lang« 1 vor dem Hause seines Schuldners fastete, bis er nachgab.
Das ‘Dhainä Sitzen’ (seit dem J. 18G1 verboten) ist von englischen Augen¬
zeugen oft beschrieben worden. Vgl. z. B Hebers Leben und Nachrichten über
Indien her. von Ivrohn (1831) 1, 380 ff.; W. Jones, Asiatic Researches 4. 3 '2 9 ff.
Andere Literatur in den oben angeführten Schriften von Jolly und Post. Bemerkt
sei noch, daß sich das Dharnä auch außeihalb Indiens, z. B im altirischen Recht,
voi findet. A. Pictet, Origines 3, 12911 ; Krauß bei Gaidoz, Melusine 4, JOO; Post,
Grundriß 2, 502; Academy 28, 109. 29, 452.
Ein anderes, entschieden sehr altes Zwangsverfahren besteht
darin, daß man einen magischen Kreis (mandala) um den Schuldner
zieht, den er bis zur Zahlung seiner Schuld nicht überschreiten darf.
Das älteste Zeugnis 1 ) für dieses Verfahren findet sich in dem be¬
rühmten Drama Mrechakatikä (dem ‘irdenen Wägelchen’; auch
unter dem Namen Vasantasenä bekannt). Im 2. Akt dieses Dramas 2 )
tritt ein Bader (ein Masseur, samvohaka) auf, der 10 Goldstücke im
Würfelspiel verloren hat und diese Summe nicht zu zahlen vermag.
Er will sich seiner Verpflichtung durch die Flucht entziehen. Der
Spielhalter namens Mäthura verfolgt ihn und zieht im Lauf der
Verfolgung den Spielerkreis (dyütakaramandali) um den Bader.
Dieser ruft betrübt aus: ‘Wie, ich bin durch den Spielerkreis ge¬
bunden! Ach, das ist ein Brauch, über den wir Spieler uns
nicht hinwegsetzen können.’ Offenbar glaubt der Bader an die
bindende Kraft des magischen Kreises 3 )
Der indische Brauch, einen Schuldner durch Einkreisung zur
Zahlung seiner Schulden zu zwingen, soll uns im folgenden näher
beschäftigen. Gibt es außer dem genannten noch andere Zeugnisse
für diesen Brauch, und läßt er sich auch außerhalb Indiens nach-
weisen? Die erste Frage ist bereits von Yule zu Marco Polo 2 2, 335 f.
und von einem unbekannten Autor (Burnell?) im Indian Antiquary 8
(1879), 267, allerdings nur kurz, beantwortet worden. Es kommen
zunächst zwei arabische Geographen in Betracht: al-Idrisl (12. Jh.)
und al-Qazwmi (13. Jh.).
1) Es soll nicht verschwiegen werden, daß man noch ältere Zeugnisse, nament¬
lich aus dem Epos und den buddhistischen Jätakas, beigebracht hat. Allein diese
Zeugnisse sind — vielleicht mit einer Ausnahme Hätaka 91) — unsicher. Alles
hängt davon ab, ob man die öfters vorkommenden Ausdrücke dyirfamandala (Püli:
jütamancfala) und Kelimanclala ‘Spielkreis’ mit dem ‘Spielerkreis’ der Mrechakatikä
identifizieren darf. Näheres kann hier nicht gegeben werden. Ich verweise auf
Pischel in den Philologischen Abhandlungen M. Hertz dargebracht 1888 S. 74ff., auf
Lüders, Das Würfelspiel im alten Indien 1007 S. 10. 70 und auf J. J. Meyer, Das Weib
im altindischen Epos 1915 S. 377 Anm. 1.
2) In Stenzlers Ausgabe 1847 S. 31; in der Übersetzung von Böhtlingk 1877
S. 31, von Fritze 1879 S. 59, von Ryder 1905 S. 31.
3) An den festen Bann des Zauberkreises glauben auch die Jesiden. M. Wagner
schreibt hierüber in seiner Reise nach Persien und dem Lande der Kurden 2, 277f.:
Zieht man um einen schlafenden Yeslden mit einem Stabe einen Kreis in die Erde
und weckt ihn auf, so wagt er sich nicht zu bewegen, jammert und bittet die Vor¬
übergehenden. den Kreis zu zerstören. Tut ihm keiner den Gefallen, so bleibt er
unter lauten Wehklagen tagelang darin sitzen. Die Armenier sollen sich oft mit
schlafenden Yesiden solchen Scherz erlauben. Vgl. auch Th. Menzel bei Hugo Grothe,.
Meine Vorderasienexpedition 1 S. LXXXXIII und S. CCIX Anmerkung 3.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
151
Bei Iclrisi 1 ) lesen wir:
Les Indiens sont naturellement portes a la jnstice, et ils ne s’en ecartent
jainais dans leurs aetions. Leur bonne foi. leur loyaute, leur (idelite aux enga-
gements sont connues. ils sont si renommes pour ees bonnes qualites, qu’on ac-
court chez eux de partout, que leur pays et llorissant et leur Situation prospere.
Entre antres traits caracteristiques de lonr amour pour la verite et de leur hor-
reur pour le vice, on eite celui-ci: lorsquo quelqu’un a droit d'exiger quelquc
ehose d’un antre. s'il vient a le rencontrer, il n’a qu’a tracer sur la terre une
ligne circulaire et a y faire entrer son debitcur (ec a quoi celui-ci ne manque
jamais de se preter), le* debilem' ne sort point de ce cerclc saus avoir satislait
son creancier ou obtenu la reinise de la dette.
Qazwini erzählt von den Bräuchen, die unter den Bewohnern
der Insel Snrandib (Ceylon) herrschen, u. a. das lolgende:
Ex eorum moribus est, quod quivis peccator pro peccato suo septem drach-
mas solvere cogitur. Debitor si acre alieno minnendo supersedit, rex aliquem
mittit, qni circa enm lineam ducat, ubicunque cum invenerit. Non enim
audet ex hoc circulo excedere, donec aut debituni solvent aut creditoris bene-
volenti am sibi comparavcrit: nam si prius egressus fuerit, rex eum triplici summa
muletat, cuius una pars creditori, duae reliquae regi obtingunt 2 ).
Der nächste Berichterstatter ist Marco Polo 3 ). Dieser erwähnt
den fraglichen Brauch in seiner Beschreibung der Provinz Maubar
(d. i. der Südostküste Indiens), fügt aber dem, was uns bereits aus
den arabischen Berichten bekannt ist, kaum etwas Neues hinzu; nur
sagt er, daß ein Schuldner, der den Kreis zu überschreiten wagt,
mit dem Tode bestraft wird. Übrigens ist Marco Polo — wenn man
seinem Berichte Glauben schenken darf 4 ) — selbst einmal Zeuge der
Einkreisung eines Schuldners gewesen:
And this said Messer Marco, when in this kingdom on his return home, did
himself witness a case of this. It was the king, who owed a Foreign merchant
a certain sum of money, and though the Claim had often been presented, he
always put it off with promises. Now one day when the king was riding
through the city, the merchant found his opportunity, and drew a circle round
both king and horse. The king, on seeing this, halted, and could ride no further;
nor did he stir from the spot until the merchant was satisfied. And when the
bystanders saw this they marvelled greatlv, saying that the king was a ruost
just king indeed, having thus submitted to justice.
In der Anmerkung zu der angeführten Stelle gibt Yule eine
Reihe von wertvollen Naclnveisen (die sich übrigens z. T. auch schon
in früheren Ausgaben und Übersetzungen von Marco Polos Reisen
finden). Ich hebe daraus folgende in mehr als einer Hinsicht inter¬
essante Mitteilung Caldwells hervor:
1 Geographie d’Edrisi trad. par P. Amedee Jaubert 1, 177. Zu der oben aus¬
gehobnen Stelle vgl. auch Indian Antiquary 11,36. .
2) Joh. Gildemeister, Scriptorum Arabuin de rebus Indicis loci et opuscula m-
edita 1S3S p. 197. Siehe auch G. Jacob, Studien in arabischen Geographen 4 (1892),
S. 167 f. und Goldziher in seiner Abhandlung über Zauberkreise in den Aufsätzen
zur Kultur- und Sprachgeschichte E. Kuhn gewidmet 1916 S. 86.
3) Buch 3, Kap. 17 in der Übersetzung von Henry Yule - 2, o2i vgl. >öü.
4) If our author had not told us he was an eye-witness of this scene, we might
have been disposed to consider it as ben trovcita, for the purpose of exemphfymg
the striet impartiality with whieli the laws were administered in that country. As
it is, it would be diffieult to view it in any other light than of a plan prepared by
the raja for the laudable purpose of impressing the bye-standers with an advanta-
geous idea of his justice. ^Marsden in seiner Übersetzung von Marco 1 olos Keisen
ISIS S. 643.)
11
152
Zachariae:
The custom undoubtedly prevailcd in this part of India at a Former time,
lt is said that it still survives amongst the poorer classes in out-of-the-\vay paris
of the country. but it is kopi up by schoolboys in a serio-comic spirit
as vigorously as ever. Marco does not mention a very essential part of the
cercmony The person who draws a circle round another imprecates npon him
the nanie of a partieular divinity, whose eurso is to fall upon him if he breaks
ihrnugh the circle wiihout satisfying the Claim 1 ;.
Es Folgt der ziemlich ausführliche Bericht des Lodovico Var-
tliema (HartheiiKi). ln seinem oft gedruckten Itinerario 2 ; schreibt er:
Quando alcuno deue hauere danari da vn'altro mercadame, apparendo alcuna
sciittura delli scnttori dcd Re. il quäle ne tiene ben cento, tcngono questo stde.
puniamo easo che vno mi habbia a da re venticinqne ducati, e molte volle mi
prometta di darli. e non li dia, non volendo io piu aspeitare, ne Farli termine
alcuno, vado al prit cipc delli Bramini, ehe son ben cento, quäl dapoi che si
hauera molto ben inlormato ch’e la \erita. che colui mi e debitore, mi da vna
Fräse ha verde in mano s ), e io vado, pian piano dricto al debitore, e eon la
deita i'rasca vedo di farli vn eerchio in terra circondandolo. e se lo posso
giugnere nel cercolo, li dico tre volte queste parolc. lo ti comando per la testa
del maggior delli Bramini e del Ke, che non ti parti di qui, se non mi paghi,
e mi contenti di quanto debbo hauere. et egli mi contenta, ouer morira prima
da Farne in quel luocho, anchor che niun lo guardi, e s’egli si partisse del detto
circolo, e non mi pagasse, il Ke lo Fana morire 4 ).
Neu ist in Varthemas Darstellung der grüne Zweig, der bei
der Kreisziehung verwendet wird.
Vgl. dazu A. de Gubernatis, Mythologie des Plantes 1, 56ff. und desselben
Autors Memoria intorno ai viaggiatori ltaliani nelle Indie orientali 1867 p. 96.
Aus der Keisebeschreibung des Karmeliten Yincenzo Maria di S. Caterina da
Siena zitiert Gubernatis: Per chiudere una casa, basta che si ponghi un ramo
verde, con precettarla su la porta: sin tanto che quello si leva, niuno puol
usei re, chi non obbedisce e reo di lesa nuiestä. L'istesso succede con le po-
polationi intiere. Un ramo in mezzo del mercato cattura tutti li habitanti,
niuno si puole piu assentare dalla sua terra senza licenza (Yiaggio alPIndie
orientali 1672 p. 236). The green brauch oF a palm, says ihn Batuta,
was used by the officers of the king to help the collection of the royal dues
from the merchants . If the merchants did not pay the royal dues, an officer of
the king* came with the green brauch of a palm and suspended it in Front oF
the shop. No person could buv or seil until the branch was removed (Calcutta
Review 112, 210;. — AVcun einer von den Bedas (Yeddas) von einem aus seinem
Stamme beleidigt wird: so geht er zu dem Oberhaupte des Bezirks, setzt sich,
mit einem grünen Zweige in der Hand, dessen Hause gegenüber, und beob¬
achtet ein tiefes Stillschweigen (Delaporte, Reisen eines Franzosen 3, 378; Quelle
1 \Y. Crooke (The populär religion and folklore of Northern India 2 2. 42) bringt
den magischen Scliuldner-Ivreis bei Marco Polo in Zusammenhang mit dem Eides -
kreis. Tn Northern India this circle is known as a Guniru or Gaurua, and a person
who takes an oath Stands within it, or takes from inside an article which he claim>.
ln one form of this ceremony the circle is made on the ground with calf's düng by
an unmarried girl, and in the centre is placed a vessel of water. If money is in
dispute, the amount claimed is placed in the water vessel by the defendant. Ygl.
George A. Grierson. Biliär peasant Life 1885 § 1451 p. 402.
2) ln dem Kapitel (2, 8) über die ‘iustitia de* Gentili’ in Calicut. Nach Ramusio,
Navigationi et Yiaggi 3 (Venetia 1563) 1, 173b.
3; Dieser Passus der Gläubiger empfängt den grünen Zweig, womit er den
Kreis um den Schuldner zieht, aus der Hand des Obersten der Brahmanen) steht
nicht in allen Ausgaben und Übersetzungen des Itinerario. z. B. nicht in der Vene¬
diger Ausgabe vom J. 1517 (abgedruckt in der Scelta di curiositä letterarie, dis-
pensa 207, Bologua 1885 .
4 Den Bericht Yarthemas hat Regnaud zur Erläuterung der oben aus der
Mrcchakatikä angeführten Stelle verwendet in der Revue critique, n. s., 7, 491 f. Seine
Kenntnis von Varthemas Bericht schöpfte Regnaud aus A. de Gubernatis, Mythologie
des plantes 1, 57.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
153
mir unbekannt). Es darf hier an die grünen Zweige bei den Heische¬
gängen usw. erinnert werden; vgl. z. B. Paul Sartori, sitte und Brauch 3, !M
Anm. 14; S. i)7> Anm. 17; S. 155 Anm 37 und sonst.
Endlich ist (Ins Zeugnis von Al ex und er Hamilton zu erwähnen,
der von 1GSS—1723 in Indien weilte. Xaeli ihm wird, um einen
Schuldner zur Zahlung’ zu zwingen, eine geeignete Person gesandt
‘with a small Stick from the Judge, who is generallv a Brahnian,
and when that Person finds the Debitor, he drnws a Circle round
liini with that Stick (A new Account of the East Indies 2 1, 31G).
Abweichend von dein, was wir bisher aus den Reiseberichten
erfahren haben, erzählt Paul van Caerden in seiner zweiten Reise
nach Indien (1G0G —1G09), daß ein Gläubiger, wenn sein Schuldner
nicht zahlen will, ‘pveml le eontract avec soi, va ehercher une
ecorce verte de quelque arbre, poursuit son debiteur, et Paiant
atrape le lie avec cette ecorce (Roeueil des voiages cjui ont servi
ä Retablissement et aux progres de la Compagnie des Indes Orien¬
tales 3, GSO. Amsterdam 1705)’. Vom Binden des Schuldners ist
oben bereits die Rede gewesen; auch wird das Binden weiter unten
in anderem Zusammenhang nochmals zu erwähnen sein.
Die Einkreisung eines Schuldners findet sieh nun nicht nur in
Indien, sondern auch anderwärts. A. H. Post hat in seinem Grund¬
riß der ethnologischen Jurisprudenz 2, 5G3 (und vorher schon in
seiner Afrikanischen Jurisprudenz 2, 145) auf einen in dem Xeger-
veiche Wadäi herrschenden Brauch hingewiesen, der dem indischen
überaus ähnlich ist. Eine Beschreibung des afrikanischen Brauches
verdanken wir dem Scheich Muhammad b. ‘Umar at-Tünisi (geb. 1789,
gest. 1857). An zwei Stellen seiner Reise 1 ) nach dem Wadai' (von
denen Post nur die zweite zitiert) hat der Scheich sehr ausführlich
über den Brauch berichtet. Wieweit man seinen Berichten Glauben
schenken darf, entzieht sich meiner Beurteilung durchaus 2 ). Es ist
aber kaum anzunehmen, daß sich der Scheich Alles, was er erzählt,
aus den Fingern gesogen haben sollte.
Der erste Bericht lautet (S. 328ff.):
La plus singuliere detention et celle du khatt ou de Ia lifjve. Voiei eom-
ment on v procede. On dit ä eelui qu’on doit sonmettre au khatt: ‘Le sultan
te detient ici’. c’est n-dire dans le lieu oü Ton rencontre l’individu Celui-ei
s’arrete aussitot et reste en place, sans qu’on lui applique de liens, saus que
personne le garde ou le surveille. II demeure ainsi jusqu’a ce que soit ordonnee
sa delivrance. Le khatt est prescrit pour les fautes legeres, et applique sur-
tout aux debiteurs. Ainsi, lorsqu’un ereaneier a rencontre plusieurs fois son
debiteur et lui a demande son du, et que le debiteur, tout en reconnaissant sa
dette, en remet toujours Taequittement ä un autre temps, le ereaneier peut, a
discretion, arreter son homme sur place, le faire asseoir, et alors, de la pointe
d'une lanee, il trace pur terre une tujue circulairc autour du debiteur, en lui
disant: ‘Par Uieu et son Prophete! par le sultan et la mere du sultan! par les
1 Yoyage au Ouaday par le Cheykli Mohammed Ibn-Omar el-Tounsy trad. de
l’Arabe par Perron, publie par Perron et Jomard. Paris 1851. Uber at-Tünisi vgl.
A. von Kremer, Aegypten 2, 3*24 f.
2) Jomard leitet einen kurzen Bericht über den fraglichen Brauch mit den
Worten ein: Pour eertains delits, il existe des usaees fort singuliers: en voici un
exemple, c'est le cas oii un debiteur met du retard a s’aequitter; il faut la can-
deur de notre cheykh pour ne pas garder a ce sujet quelque leger doute
Voyage au Ouaday, Preface, p. XY1II). Ein nicht sehr günstiges Erteil über at-
Tünisi fällt Nachtigal, Sahara und Sudan 3, 17(5.
154
Zachariae:
tewa appuis de PKtat 1 ), tu ne sortiras j)as de ee eercle que tu ne ra’uics paye
ta dette’. Le debiteur est oblige de rester enclos et assis dans son khatt, jusqu a
ce que quelqu’un intercede aupres du creancier, et que cehii-ci consente a la
delivrance de son prisonnier. Si le creancier reste intlexible et inexorable, le
detenu demeure dans son khatt jusqu’a ce qu’il ait acquitte sa dette. Si, rom-
pant la eonsigne qui lui est imposee, il s’avise de sortir de sa lajue, et qu’alois
le creancier porte plainte au suitan, on envoic a la poursuite du fugitif, en quel-
que lieu qu’il soit on 1c saisit, et on le eondamne a des peines tres-severcs.
Si celui qui s'est declare creancier est convaincu de mensonge, s’il a traee
le khatt autour d’un individu dont il ne peut prouver la dette, il est rigoureuse-
ment puni Aussi nul ne se hasarde a tirer la cercle de reclusion autour de
quelqu’un, qu'uprcs avoir pris toutes ses mesures pour prouver la realite de la
creance, et se inettre a l’abri des consequenees fächeuses d’une declaration qui
risquerait d’etre reconnue fausse.
Ich lasse auch den zweiten Bericht liier folgen (S. 375 f.):
Une des consequenees de Pextreme veneration des Ouadayens pour leur
souverain, est Pautorite du nom de suitan pour Parrestation d’un debiteur. Xous
avons deja parle de ce fait. Lorsqu’un debiteur dillere sans cesse le pavement
de sa dette, le creancier, en quelque lieu qu’il le rencontre, soit seul, soit en
soeiete, trace a terre, autour de son homnie, un cercle de reclusion, tout en
apostrophant le reclus en ces tenues: ’Je te sonune au nom de Dieu et de son
Prophete, au nom du suitan, de la mere du suitan et des tawä (hauts juges de
PEtat), de ne sortir de Penceinte de ce cercle que quand tu m’auras paye ta dette’.
Et le debiteur ne sort qu’apres s’etre acquitte, ou apres avoir obtenu un sursis
par Pintervention de personnes qui deeident le creancier a delivrer son prisonnier
ainsi circonsrrit. Si de propos delibere, et de sa seule autorite, le reclus quitte
Paire du cercle oii il lui a ete enjoint de rester, le creancier porte plainte aux
kamkolak, et les inforuie de la transgression du captif. Les kamkolak envoient
alors de tous cötes a la reeherehe du debiteur, et, lorsqu’il a ete trouve, il e*t
traduit devant leur tribunal, et est eondamne ä une punition severe.
Xacli Indien kehren wir noch einmal zurück. Außer der Ein¬
kreisung des Schuldners 2 ) finden wir hier noch einen andern, aller¬
dings sehr nahe verwandten Brauch. Ein Schuldner kann zur Zah¬
lung auch gezwungen werden durch das Ziehen einer Linie, die er
nicht überschreiten darf, ehe er gezahlt hat. Diese Linienziehung
oder Wegsperre liegt vor in einer buddhistischen Legende des Ava-
danasataka. In Nr. 39 wird erzählt 3 ), wie der Buddha einst, angetan
mit dem Mönchsgewand und dem Betteltopf in der Hand, nach Sra-
vasti ging, um Almosen zu erbetteln. Auf der Hauptstraße begeg¬
nete ihm ein Brahmane. Der zog eine Linie (lekhti) auf dem Erd¬
boden und sprach zu dem Ehrwürdigen: ‘0 Gautama, du darfst die
Linie nicht überschreiten, bis du 500 Puränas 4 ) bezahlt hast’. L~nd
der Buddha stand still, wie eine Säule. (Das Weitere ist von keinem
Belang. Es handelt sieh in der Legende um die Zahlung einer Spiel-
I Les te»a sont les kamkolak ou justiciers, ou administrateurs de la justice
(Yoyage au Ouaday, p. 674 .
2) Beiläufig mache ich auf folgenden, in der Zimmerischen Chronik überlieferten
Rechtsbrauch der Gemeinde Beffendorf aufmerksam: Ob ain paur umb ain frevel
gestraft wird und wolt sich den zu geben sperren, mag des abts anwalt demselben
pauren ain seidin faden umb sein waichi spannen, den soll er nit brechen, auch
weder under oder über den faden heraussgeen, bis er bezalt Uliland, Schriften S,
446; E. L. Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch 2, 206).
3) In der Ausgabe von Speyer, Bibliotheca Buddhica 3, S. 223; in der Über¬
setzung von L. Feer, Annales du nnsee Guimet IS IS9I y , S. 149 vgl. 151. Über da>
Avadäna^ataka habe ich oben 17, 190f. gehandelt. Siehe jetzt auch M. Winternitz,
Geschichte der indischen Literatur 2, 216-221.
4 Purfuia ist der Xame einer Münze. Zur buddhistischen Rundzahl 500 vgl.
oben 17, 188.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
13f>
schuld, für die der Buddha in einem früheren Dasein Bürgschaft
geleistet hatte.)
In seiner Übersetzung des Avadana>ataka S. 151 verweist Feer
auf die uns bereits bekannten Stellen in der Micchakatika und in
Varthemas Reisebeschreibung und auf ‘un episode de Fhistoire ro-
niaine, le cercle decrit autour du roi de Svrie, Antioclius Epiphane,
par Fam])assadeur roniain Popilins Lenas’.
Es emi)fiehlt sich, den von Feer nur kurz geschilderten Vorgang
genauer zu betrachten.
Als Antioclius Epiphanes Krieg gegen Aegypten führte, begab
sich, kurz nach der Schlacht bei Pydna, eine römische Gesandtschaft,
an der Spitze Gaius Popillius, zu dem König mit einem Schreiben
des Senats: Antioclius sollte alles Eroberte zurückgeben und Aegypten
in einer bestimmten Frist räumen 1 ). Popillius forderte ihn auf, das
Schreiben unverzüglich durchzulesen. Antioclius tat es und ant¬
wortete, er wolle mit seinen Räten, was er zu tun habe, überlegen.
Aber der Gesandte, ein harter, barscher Mann, zog mit dem Stabe
(virga), den er in der Hand hatte, einen Kr.eis um den König mit
den Worten: ‘priusquam hoc circulo excedas, redde responsum, senatui
quod referam’. Antioclius war erstaunt über diesen beleidigenden
Befehl, bequemte sich aber schließlich zu der Antwort: er wolle tun,
was der Senat für gut halte 2 ).
Diese Episode — ob Dichtung oder Wahrheit, tut nichts zur
Sache — lehrt uns, daß das Einkreisen nicht nur, wie in den indischen
Bräuchen, angewandt wurde, um einen säumigen Schuldner zur
Zahlung seiner Schuld zu zwingen, sondern auch, um eine Person,
die mit einer Antwort zögert, zur schleunigen Erteilung dieser Ant¬
wort zu veranlassen. Feer ist im Recht, wenn er den römischen
Brauch heranzieht; liegt doch in all diesen Bräuchen, in den in¬
dischen wie in dem römischen, eine Zwangshandiu 11 g vor. \ er-
schieden ist nur der Zweck, der mit der Einkreisung erreicht werden soll.
Aber nicht nur die Einkreisung dient verschiedenen Zwecken.
Dasselbe gilt von den beiden anderen Zwangsmitteln, die wir kennen
gelernt haben: vom Binden oder Weg sperren. Diese werden nament¬
lich auch angewendet, um einen Heiligen (oder Gott) zur Hilfeleistung
zn zwingen 3 ), oder um ein Almosen, eine ‘Verehrung’, ein Trinkgeld
von jemand zn erpressen. Ich will dies an einigen Beispielen zu
zeigen versuchen.
Ich beginne mit einem ‘barbarischen Aberglauben’, dessen Zeuge
der berühmte italienische Reisende Pietro della \ ella 4 * ) war.
Als Deila Valle, auf der Heimreise von Indien nach Europa be¬
griffen, auf einem portugiesischen Schiffe zwischen Ciaul (Chanl an
der Westküste Indiens) und Mascat fuhr, trat eine anhaltende V ind-
1 Siehe Mommsen, Römische Geschichte 6 1, 774.
2 Nach Livius 45, 12. Die Episode wird auch von anderen Schriftstellern er¬
zählt: s. die Ausleger zu Livius. Nach Polybius 20, 11 war der Stab von einem Wein¬
stock genommen fd/i.-TF/.inj ßay.njota).
3 Zauberer werden gebunden, um sie zur Mitteilung ihrer eisheit zu zwingen;
Fr. von der Leyen in der Festschrift für LI. Paul 1002, S. 165 f. Zum Binden von
Göttern und Heiligen vgl. E. Westermarek, Ursprung und Entwicklung der Moral¬
begriffe 2. 464 f.
4 Über ihn vgl. meinen Aufsatz über ‘Scheingeburt’ oben 20, 141 ff. wieder¬
abgedruckt in meinen Kleinen Schriften 1020, S. 245 ff.). Auch hier, wie dort, zitiere
ich Deila Valles Reisebeschreibung nach Widerholds Ausgabe (Genff 1674
156
Zachariae:
stille ein, sodaß das Schiff nicht von der Stelle kam. Da — es war
am 27. Dezember 1024 —
wolten die Portugiesen / ihrer Gewohnheit nach nach dem sie die Litanev ge¬
sungen / und Gott / und den II. Anthon ins von Padua / welchen sie / weil
er ein Portugiess gewest / mit grosser Andacht verehren / gebetten / dass sie
ihnen guten Wind verleihen wollen / dass Bildnus dess gedachten Heiligen /
dass sie im Schiff mit führten / binden / und gleichsam gefangen halten;
welches sie also zu thun pflegen / wann sie eine Gnade von ihm erlangen
wollen: gleich als wollen sie ihn zwingen / in dem sie demselben Drohen /
sein Bildnus nicht eher los zu lassen / biss er ihnen vcrwilliget / was sie von
ihm begehret 1 ). Sie wolten / sage ich / den II. Anthoni binden / dass er
ihnen guten Wind geben solte: sie liessen aber solches / auff dess Steuer-
mans Bitte / unterwegen / welcher dem Heiligen dass Wort redete / und zu ihnen
sagte / dass er selbst so gütig seye / und ihnen ungebunden / und ungefangen /
dass jenige / was sie von ihm begehrten / geben wurde. Ich habe diese weise /
eine Gnade von dem H Anthoni von Padua zu bitten / mit Stillschweigen nicht
unib gehen können / weil dieselbe unter den Portugiesen / nehmlich unter dem
unwissenden / und abergläubischen Boots-Volck / sehr gemein ist / wiewol bey
uns nichts darvon gehalten wird / und in warheit ein recht Barbarischer Aber¬
glaub ist / jedoch aber / wegen der Einfalt dessen / der sein Vertrauen darauff
setzet biss weiln erhöret wird (Deila Valle 4, 1G1).
Am 28. Dezember hörte die Windstille auf und es erhob sieh
ein sehr starker Sturm, sodaß sich der Schiffspatron am folgenden
Tage entschloß, den h. Antonius binden zu lassen — dieses Mal,
um ruhige Fahrt zu erlangen; und der Wind änderte sich in der Tat.
Auf der Fahrt von Mascat nach Bassora (Basra) beobachtete
Deila Valle noch einen andern, ähnlichen Seemannsbrauch. Ich teile
auch diesen Brauch mit, einmal, weil wir daraus ein neues Zwangs¬
mittel kennen lernen, sodann weil Deila Valle selbst auf die Ähnlich¬
keit dieses Brauches mit dem ‘barbarischen Aberglauben’ der portu¬
giesischen Seeleute aufmerksam gemacht hat.
Den 27. Februarii [1(125] machten unsere Boots-Knechte / welche Indianer /
jedoch aber der Mahometischen Sect zugethan waren / weil wir stets wider¬
wertigen Wind hatten / einen Bündel von Tuch / und nenneten denselben den
alten Greysen / (ich weiss aber nicht was sie hierdurch verstanden haben) und
1) Wie die Portugiesen in Indien, zur Erreichung verschiedener Zwecke, die
Statuen des h. Antonius (und der h. Jungfrau) behandelten, schildert anschaulich
Francois de la Boullaye-le-Gouz in seinen Voyages et Observations 2 1657)
2, 26 p. 221 : Tous les Portugals . . ayment extremement sainct Anthoine de Lisboa,
que nous appellons de Pade, ils luy ont vne particuliere deuotion lors quäl ne fait
point de pluye; ils prennent sa statue Pattachent par les pieds, la trampent dans
des puys la teste la premiere, et apres Y auoir bien moüillee et trempee plusieurs
fois, ils la retirent par la corde qu'elle a attacliee aux pieds, et font le mesme
a celle de la Vierge Marie. Comme ie m'estonnois de cette ceremonie extraordinaire,
ren demande la raison au Pere Gardien des Capuches de Damaon, lequel me dist
que sainct Anthoine vouloit estre ainsi traitte, et auoit opere par ce moyen vne in¬
finite de miracles, et la sainte Vierge laquelle fit retrouuer Tenfant d‘vne pauure
femme qui alla dans TEglise apres l’auoir perdu, et prenant le Petit Jesus d’entre
les bras de Xostre-Dame luy dist, si tu ne me reudsmon fils, ie ne te rendray
pas le tien; et a quelque temps de la Tenfant reuint a la maison sein et saune.
Vne autre fois vn Frere Portier d‘vn ordre de Pranciscains perdit par mesgarde les
clefs du Conuent, alla dans TEglise et lia la statue de Saint Anthoine de Lisboa
par les pieds, la trampa dans vn puys oü il l’auoit descendue la teste la premiere,
la retira, et eile apporta les clefs pendues miraculeusement ä son col: ce qui est
digne d'admiration, et non d’imitation. — Von einer ‘prodigieuse devotion’, die die
Portugiesen in Rio de Janeiro dem h. Antonius zollen, spricht De la Flotte, Essais
historiques sur Finde 1769 p. 9; fast jedes Haus besitzt eine kleine Statue des Hei¬
ligen; Siehe sonst auch K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral¬
brasiliens 1891, S. 560.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
157
banden denselben an ein Seil des Segels / schlugen 1 ) ihn hierauff mit einem
andern Seil auss allen ihren Krälften / und rielfen / dass er ihnen guten Wind
geben sollte: die andere Schiffleuthe hingegen baten diejenigen / so ihn schlugen
für ihn / und sagten / dass er ihnen guten Wind verleihen würde. Dieser Aber¬
glaub ist der Portugiesen ihrem nicht ungleich / in (lerne sie / wie ich in
meinem vorigen Schreiben erwehnet / den S. Anthoni di Padua binden /
welches ich / als etwas sekzames / hier erzehlcn wollen ob ich schon / auss
Unwissenheit dieser Boots-Knechte welche mir keine andere Ursach sagen
können / als dass es also der Gebrauch seve; oder weil sie mirs nicht ori'en-
bahren wollen / nicht wissen kan / wer dieser alte Greys / den sie unter der
Gestalt dieses Bündels schlagen / und von deine sie guten Wind begehren /
seyn müsse (Deila Yalle 4,1 Tn).
Was wir in dem ersten, von Deila Yalle geschilderten Vorgang
vor uns haben, ist ohne Zweifel nichts anderes, als die oft, auch in
dieser Zeitschrift 2 ) besprochene Fesselung der (lottert-bi Idcr).
Diese geschieht oder geschah, nach der gewöhnlichen Auffassung,
um die Götter(-bilder) an ihrem Standort festzubannen, um ihr Davon¬
gehn zu verhindern 3 ). Wenn aber die portugiesischen Schiffer hei
Deila Yalle das Bildnis des h. Antonius banden, so taten sie es
offenbar zu dem Zweck, den Heiligen zur Hilfeleistung zu zwingen.
Dies ist auch die Ansicht von L. Kadermacher 4 ), der im Archiv für
Religionswissenschaft 7, 451 bemerkt, daß die Schifte in katholischen
Ländern auch heute noch ihren Heiligen als Schutzpatron führen ....
‘Man ruft ihn an in der Xot, und falls er sich nicht hilfreich er¬
weisen mag, kann man ihn gar zwingen. Pietro della Yalle er¬
zählt ein Erlebnis mit portugiesischen Matrosen, die während eines
Sturmes (!) die Statue des hl. Antonius, die sich an Bord befand,
immer fester und fester an den Mast schnürten und mit Injurien
überhäuften, bis endlich der Wind sich legte’.
Ich wende mich jetzt zu einer Reihe von Bräuchen, wo mit dem
Binden, Sperren oder Einkreisen die Erreichung einer Gabe, einer
‘Verehrung’, bezweckt wird. An die Spitze stelle ich einen wohl-
bekannten Erntebrauch. Wenn der Besitzer eines Feldes, einer
der Seinen oder ein Fremder während der Erntearbeit das Ivornleld,
oder während des Dreschens die Dreschtenne betritt, so bindet man
ihn unter Hersagen eines Spruches mit einem Bande aus Ähren oder
einer Schnur. Der also Gebundene muß sich mit einem 1 rinkgeld
lösen. Der Brauch ist oft beschrieben und erörtert worden; so in
1) Statuen von Heiligen werden geprügelt, wenn das Gebet keine Erhörung
gefunden: Bolle oben IS, 119 nach Sebillot, Folklore de France). Die Ägypter, wenn
sie die verlangte Bitte nicht erlangten, banden und schlugen ihre Gottheiten,
was übrigens noch heute etliche Naturvölker Afrikas tun: Terzaghi im Archiv für
Religionswissenschaft 11, 14G. Spanische Bauern üben tätliche Vergeltung an ihrem
Heiligen, der ihnen bei anhaltender Dürre den Kegen versagt hat: Radermacher in
der Festschrift für Th. Gomperz 1902, S. 202 (nach W. Mohr, Achtzehn Monate in
Spanien 1 S. VIII). Vgl. noch Archiv für Religionswissenschaft 11, 1524; Folk-
Eore S, 338 ff.; G. F. Schömann, Griechische Altertümer 2 2, ISOf.; L. Friedländer,
Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms H 4, 222f ; Dubois, Hindu manners,
customs and ceremonies transl. by Beauchamp 1897 p. 29S.
2) Vgl. oben 2, S4f. 197 ff. 3, 89f. 44Sff. Siehe auch die Aufsätze ‘Chaimng of
images’ Folk-Lore 3,137. 51G. 4, 10S. 249. 6, 19Gff.; Crooke, ‘The binding of a god’,
ebenda S, 325—55 (vgl. hier namentlich S. 338). . .
3) Vgl. z. B. Frazer zu Pausanias 3, 15, 7: The general intention of chaming
up a god is to prevent him deserting or being lured away by the enemy.
4) Radermacher verläßt sich auf den wenig genauen, fantasievojlen Bericht
über den von Della Yalle geschilderten Vorgang in der Melusine 2, IST (Saint An¬
toine et Ies matelots Portugals; nach Jai. Glossaire nautique\
15S
Zachariae:
dieser Zeitschrift 4, 85. 12, 537 f. (Schlesien). 341 f. (Mecklenburg).
Ich verweise sonst namentlich auf Pfannensehmid, Germanische Ernte¬
feste 1878 S. 93 f. 399f., auf Mannliardt, Mythologische Forschungen
1884 S. 32 IT. (wo die ‘abgeblaßten Formen eines früher ausdrucks¬
volleren Brauches’ behandelt werden) und auf P. Sartori, Sitte und
Brauch 2,77. 114 (wo reiche Literaturangaben).
Das Binden findet sich auch bei anderen Gelegenheiten. In
seine]- Schilderung der Hochzeitsbräuche bei den Katholiken in Var¬
car- Vakuf erzählt Klaric, daß fünfzehn Tage nach der Trauung die
‘Besuche’ (pohocle) stattfinden. Zuerst geht die junge Frau zu ihrer
Mutter, wo die beiderseitigen Verwandten Zusammenkommen.
Der junge Ehemann und seine Begleiter werden beim Betreten des
Hauses mit frischen Hanfstricken gebunden und müssen sich los¬
kaufen (Klaric und Garic, Verlobungs- und Hochzeitsbräuche in
Bosnien und Dalmatien 1899 S. 9). Aus der Umgegend von Halle
wird oben 14, 429 berichtet: Wer zum erstenmal Gevatter steht,
muß sich durch eine Flasche Wein bei der Tauffeier lösen. Auch
die Hebamme kann ihn anbinden. — In katholischen Gegenden
Schlesiens wird besonders der Namenstag gefeiert. Früher war es
allgemein Sitte, die Namenstagskinder zu binden; daher wurde das
Glückwunschschreiben zum Namenstage auch Bindebrief genannt
. . . . . Dieses Binden hat sich bis heute erhalten. So wird in
Oberschlesien der Herr oder Beamte an seinem Namenstage beim
Betreten des Feldes oder Stalles oder der Scheune von den Leuten
gebunden, d. h. ein Strick oder ein Strohseil wird um seine Füße
geschlungen. Er muß sich durch ein Geldstück loskaufen (P. Drechsler,
Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien 1, 219 vgl. 218. A. Brückner
oben 26, 374).
Die Wegsperrung, zu der ich mich jetzt wende, tritt uns zu¬
nächst bei den Hochzeitsfeierlichkeiten entgegen: hier oft ‘Vor¬
spannen’ (einer Schnur oder eines Seiles) oder ‘Schnüren’ genannt.
So wird — oder wurde —. wenn die Braut aus einem fremden Orte
stammt, der Braut- oder Kammerwagen auf der Fahrt nach dem
neuen Heim aufgehalten; die Weiterfahrt muß durch Darreichung
einer Gabe erkauft werden. Auch wird den Brautleuten auf der
Fahrt zur Kirche oder nach vollzogner Trauung auf der Rückfahrt
nach dem Hochzeitshause der Weg mit einer Schnur, Stange oder
Girlande versperrt und wird nur gegen irgendeine Gabe freigegeben.
Der Brauch ist sehr oft und sehr ausführlich beschrieben worden;
so in dieser Zeitschrift 6, 256. 259. 13, 292. 294 (wo man den Erlaß
des Landgrafen von Hessen gegen das Sperren der Straßen v. J. 1781
beachte). Siehe sonst Paul Sartori, Sitte und Brauch 1, 70. 85, wo
reiche Literaturangaben zu finden sind. ‘Am tiefsten gewurzelt und
am reichsten verzweigt’ ist der Brauch in Deutschland (E. H. Meyer,
Badisches Volksleben 1900 S. 276. Von den Deutschen ist der Brauch
nach Amerika verpflanzt worden nach dem Zeugnis von K. Knortz,
Nachkläoge germanischen Glaubens und Brauchs in Amerika 1903
S. 88 f.). Doch ist der Brauch auch bei anderen Völkern Europas
nachweisbar, wie z. B. E. Samter, Geburt, Hochzeit und Tod 1911
S. 162 ff. gezeigt hat; er findet sich auch, was weniger bekannt ist 1 )
1) Samter S. 1G4 kennt außerhalb Europas nur den oben erwähnten malaiischen
Brauch.
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
159
und wohl besonders erwähnt zu werden verdient, bei außereuropä¬
ischen Völkern in gleicher oder ähnlicher Form. In Xordindien
wird das Hochzeitspaar auf dem Wege nach dem Hause des Bräutigams
von seiner Schwester oder einer anderen nahen weiblichen Verwandten
aufgehalten; erst nach Darreichung eines Geschenkes wird der Ein¬
tritt gestattet (nach W. Crooke, Folk-Lore 13, 232; Grierson, Biliär
Peasant Life § 1335. 1352 vgl. 1373. 1379. 1385). Über einen ähn¬
lichen, bei der lnuhaimnedanischen Bevölkerung Indiens herrschenden
Brauch berichtet sehr ausführlich Niccolao Manueci 1 ). Wenn der
Bräutigam an der Tür des Brauthauses angelangt ist, tritt ihm eine
Schar von Männern, mit Zweigen in der Hand, entgegen und ver¬
wehrt ihm den Eintritt. Zwischen diesen Männern und den Be¬
gleitern lies Bräutigams entwickelt sich eine Art Gefecht. Darauf
erscheint ein Manu als Vertreter der Braut, gebietet Buhe und er¬
klärt, die Tür zum Brauthause werde nur dann geöffnet werden,
wenn der Bräutigam eine Summe Geldes bezahle. Nach einigem
Streiten tritt ein anderer Mann aus dem Gefolge der Braut auf und
sagt, der Bräutigam brauche nichts zu bezahlen, und er werde in
des Bräutigams Namen ein Geschenk geben. Er verteilt einige
"Rupien, und die Tür wird geöffnet (Manueci, Storia do Mogor transl.
by W. Irvine 3, 151). Von den Kork äs, die zu den Urbewohnern
Indiens gehören, wird berichtet: On reaching the bride’s village the
progress of the wedding procession is barred by a leathern rope
stretched across the road by the bride’s relatives, who have to re-
ceive a bribe of two pice eacli before it is allowed to pass (Imperial
Gazetteer of India, new eck, 15, 404). Auch bei den Malaien findet
sieh der Brauch, den Zug des Bräutigams aufzuhalten, indem man
einen Strick oder ein Stück rotes Tuch über den Weg spannt; um
durchgelassen zu werden, muß der Bräutigam ein Lösegeld zahlen
(Skeat bei Winternitz, Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 14.
260). Wenn sich bei den Ostjaken der Hochzeitszug in Bewegung
setzt, halten junge Leute aus dem Dorfe der Braut ihren Schlitten
mit Hilfe eines an ihm angebundnen Strickes fest, um ein Lösegeld
zu erlangen. Die Braut wirft ihnen Geld zu, und sie lassen den
Strick los, fassen ihn aber gleich wieder und zwingen sie noch ein¬
mal Lösegeld zu zahlen; das geschieht dreimal, wonach man sie frei
fahren läßt (Patkanov, Die Irtvsch-Ostjaken und ihre Volkspoesie 1,
141; zitiert von A. van Gennep, Les rites de passage 1909 p. 184).
Ähnliche Bräuche bei den Samojeden nach P. von Stenin im Globus
60. 172 a.
Das Sperren oder Schnüren ist nicht auf Hochzeiten beschränkt.
Auch der Taufzug wird, sei es auf dem Weg zur Kirche, sei es
auf dem Heimwege aufgehalten, und der Weg wird erst freigegeben,
wenn die Taufpaten ein Trinkgeld gezahlt haben. Nahe verwandt
ist folgender z. B. aus Baden berichteter Brauch: Bei der Heimkehr
der Taufgesellschaft halten die Geschwister des Täuflings oder die
Dienstboten die Tür des Taufhauses zu und lassen die Gesellsehalt
nur gegen Entrichtung eines Geschenkes ein (E. H. Meyer, Badisches
Volksleben 1900 S. 26. 29. 30. Mehr bei Samter, Geburt, Hochzeit
und Tod 1911 S. 166f.). Mit der Schnur, die sie zum Messen brauchen.
1 Über diesen Autor vgl. oben 33, S. G9ff.
100
Zachariae:
pflegen die Bauhandwerter Besichtige!’ des Baus zu schnüren,
sie durch Vorhalten derselben zur Auslösung mit einem Trinkgelds
zu veranlassen (Deutsches Wörterbuch 9, 1407 vgl. 8. 1400; Sartori,
Sitte und Brauch 2,5). Auch das Einkreisen kommt vor. In Riehls
Novelle 'Der Hausbau’ stellen sich die Bauleute 'wie in einen Halb¬
kreis’ hinter den Förster, und zwei Maurergesellen treten vor und
sprechen einen Spruch, in dem sie ein Trinkgeld heischen. — Bei
dem Umzug der Schornsteinfeger werden die Begegnenden um¬
stellt; die Männer lösen sich durch kleine Münze, die Frauen und
Jungfrauen müssen einen Rundtanz mit ihnen halten (Sartori 3, 95;
aus Xiedcrsachsen). Zu Ostern zogen die Dirnen von Marienburg
mit Mai zweigen auf das Hochscliloß, um den Fürsten nach gut
preußischem Brauche einzuschließen, bis er mit einer Gabe sich
löste (H. v. Treitschke, Historische und politische Aufsätze 6 2, 43).
Die Wegsperre, zu der ich mich jetzt zuriiekweude, findet sich ferner
unter den Pfingstbräuehen. Zu Pfingsten wurden im Südhannover-
sclien auf dem 'PinkestangeF, einem nahe bei dem Dorfe liegenden
Anger, auf welchem die Bauernjungen die Pferde hüteten, alle dar¬
übergehenden Fremden mit vorgehaltenen Stricken gehemmt. Sie
mußten sich den Durchgang mit einer Gabe erkaufen (0. Lauffer,
Niederdeutsche Volkskunde 1917, S. 123). In Halle sperrten am
Johannistage lange Reihen von Kindern mit Tellern voll Rosen¬
blättern die Straßen. Man gab ihnen ein paar Pfennige als Lösegeld
(Anselma Heine, Mein Rundgang 192(3, S. 7; vgl. Sartori 3, 231). Am
Hoke-day in England 'adlmc solent mulieres jocose vias Oppidorum
funibus impedire, et transeuntes ad se attrahere, ut ab eis munus-
eulnm aliquod extorqueant, in pios usus aliquos erogandum (John
Brand, Observations on populär antiquities ed. Ellis 1, 109b. 112a).
Der pfälzische Hofarzt Johannes Lange berichtet in dem Tagebuch
über seine Reise nach Granada i. J. 1526 von dem Lande Basehko
(dem Baskenlande):.darin die Junekfrauen alle beschoren
sevndt kolbith und nach der paueken singen zum tantze, und an
dem tantze zuspringen und alle geradigkheit zu üben, auch des pales
zu spielen ist den pristern unverweisslich. Diese obgemeltte Junck-
frauen mit den henden an enander geschlossen und nach der paueken
singende in den dorflern verhalden den Reuttern die Strosse
und begeren von in eine verehrunge (A. Hasenclever im Archiv
für Kulturgeschichte 5, 411 f.).
* #
*
An einer ganzen Reihe von Beispielen haben wir feststellen
können, wie Binden, Sperren und Einkreisen zur Erlangung einer
Gabe verwendet werden. Die geschilderten Bräuche sind da, wo sie
noch heute — in Deutschland zumal — geübt werden, oft zu bloßen
Betteleien herabgesunken und werden immer mehr den Kindern über¬
lassen. Man lese nur, was E. H. Meyer in seinem Badischen Volks¬
leben S. 278 über die badischen Vorspannbräuche bemerkt hat. Siehe
auch Sartori, Sitte und Brauch 1, 85. Es fragt sich nun aber, ob
der ursprüngliche Zweck des Bindens, Sperrens oder Einkreisens
die Erlangung einer Gabe gewesen ist. Der Auffassung von
E. Hermann, der z. B. in dem Aufhalten des Hochzeitszuges, sowie
in dem Verrammeln der Haustür beim Einzug des Hochzeitspaares
nur einen Scherz sehen will (Indogermanische Forschungen 17, 381),
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
1G1
werden wir uns nicht ansehließen können. Sicherlich hatten Hochzeits¬
bräuche, die scheinbar einen scherzhaften Charakter tragen, ur¬
sprünglich eine g;anz andere Bedeutung, wie Samter (Geburt usw.
S. 1G5) mit Recht bemerkt. Und so hat man sich denn seit langem
bemüht, die wahren Gründe zu erforschen, die die von mir genannten
Bräuche, zumal die Wegsperre bei der Hochzeit und das Binden der
Besucher eines Erntefeldes, veranlaßt haben. Ein Überblick über
die Erklärungen, die man vorgebracht hat, möge den Schluß dieses
Aufsatzes bilden.
Was zunächst den Er 11 t eh rauch betrifft, so ist vor allem die
Ansicht Mannhardts zu erwähnen, die er zuerst wohl in seinen
‘Korndämonen’ ausgesprochen und zuletzt in seinen Mythologischen
Forschungen S. 32 ff. in dem Abschnitt ‘Der Fremde in Ernte¬
gebräuchen’ etwa so formuliert hat: wenn der Gutsherr, die Gutsherrin
oder ein Fremder zum ersten Male das Erntefeld besuchen, werden
sie für Repräsentanten oder für die sichtbare Erscheinung des ent¬
weichenden (der Gestalt nach ja unbekannten) Getreidegeistes
genommen und mit einer symbolischen Handlung begrüßt, die un¬
verkennbar die Absicht enthält, dadurch die Erscheinung, die Fesselung
oder die mit dem Kornschnitt vollzogene Tötung des Dämons dar¬
zustellen. Mit Mannhardt stimmt im wesentlichen überein Frazer,
The golden bough 2 2, 232 ff. Wie man sieht, legt Mannhardt bei der
Erklärung des Brauches das Hauptgewicht auf die Fesselung oder
Bindung, und zwar vorzugsweise auf die Fesselung des Fremden, —
und nicht auf die Lösung mit einem Trinkgelde. Anders Pfannen-
schmid, Germanische Erntefeste S. 94f., 400f. Für Pfannenschmid
ist die Erlangung eines Trinkgeldes die Hauptsache, alles andre, wie
das s. g. Binden, Nebensache. Es handelt sich also für ihn wesent¬
lich um die Erklärung des Trinkgeldes. Das Geld, das der Hofherr
den Erntearbeitern zahlt, ’dürfte in der Tat niehts weiter sein, als
der später in Geld umgesetzte Betrag zu dem alten Opfermahl und
Opfertrunk für das Gesinde .... Der Akt des Opferdarbringens
und des dabei stattfindenden Mahles schrumpfte später auf den Rest
zusammen, den wir kennen gelernt haben. Damit erfuhr aber die
nunmehr unverständliche Sitte die Erweiterung, daß statt des Hof¬
herrn auch andre zahlungsfähige Fremde eintreten oder hinzutreten
konnten, denn die ursprüngliche Opfergabe war nun ein bloßes Trink¬
geld geworden, und das blieb fortan die Hauptsache. Das Binden
dürfte hiernach ein späterer Brauch sein, der nichts weiter anzeigen
soll, als das lebhafte und dringende Verlangen, jemanden so lange
festzuhalten, bis er gezahlt hatte’.
Die neueren Volksforscher verhalten sich im allgemeinen ab¬
lehnend gegen die Erklärungen Mannhardts und Pfannenschmids.
So schreibt Karl Beuschel: Das gewöhnliche ‘Schnüren’ oder ‘Binden
des Besitzers, eines seiner Familienglieder oder eines sonst Vorüber¬
gehenden, ein Scherz, um eine Vergünstigung in Gestalt von Bier
u. a. zu erhalten, steht vielleicht in Zusammenhang mit der Sitte,
daß am Namenstag oder Geburtstag der Gefeierte umhalst oder ‘ge¬
würgt’ wird, damit er sich zu irgendeinem ‘Angebinde’ an die
Glückwünschenden veranlaßt fühlt. 1 ) Dann würde sich der Brauch
1) Vgl. dazu P. Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien 1, 219 und
namentlich die Bemerkungen von A. Brückner oben 26, 374.
Zachariae:
162
vom Besitzer, dem liuin ini Schweiße seines Angesichts mit der Ernte-
nrbeit gleichsam ein Beschenk macht, l'iir das man eine Gegengabe
zu beanspruchen meint, auf andre übertragen haben (Deutsche Volks¬
kunde im Grundriß 2 f 19241, S. 33), und nach K. Brunner, Ostdeutsche
Volkskunde 1925 S. 227 ist der Brauch vielleicht eine abgeschwächte Er¬
innerung an das Opfer der ersten Kornhalme, vielleicht aber auch nur
eine andre Form des Angebindes, die Darbringung eines Geschenkes
mit angebundenem schriftlichen Glückwunsch, wie sie besonders bei
Taufen und Geburtstagen üblich waren. Schließlich muß noch der von
Sartori vertretenen Auffassung gedacht werden, wonach das Binden
fremder 1 ) Besucher eines Erntefeldes, sowie das Schnüren der Besucher
eines Bauplatzes die Abwehr etwaigen bösen Zaubers bezweckt
(Sitte und Brauch 2, 5. 57f. 77 Anni. 12; Westfälische Volkskunde
1922 S. 116).
Wie den Erntebrauch, so hat man auch den Hochzeitsbrauch
des Vorspannens in mannigfacher Weise zu erklären versucht. Eine
ältere, einst verbreitete, jetzt kaum mehr anerkannte Erkärung ist
diese: das Aufhalten des Hochzeitszuges ist ein Überrest der Raub-
ehe. Mit Recht haben sich z. B. Crooke, Folk-Lore 13, 233 und Samter,
Geburt usw. S. 166 gegen diese Erklärung ausgesprochen. Andere
wollen in dem Aufhalten des Brautzuges — ich sage jetzt absichtlich:
des Brautzuges — den Rest einer ehemaligen Rechtshandlung
sehn (E. H. Meyer, Deutsche Volkskunde S. 174. Sartori 1, 85. 118
A. 8; E. Goldmann in den Untersuchungen zur Deutschen Staats¬
und Rechtsgeschichte 68, 209; E. von Kiinßberg im Jahrbuch für-
historische Volkskunde 1, 123). Diese Erklärung hat ohne Zweifel
viel für sich; sie kann aber streng genommen nur für den Fall gelten,
wo die Braut aus einem fremden Ort stammt: ihre Gemeinde läßt
sie nicht ohne weiteres fortziehn, und die neue Gemeinde gewährt
ihr nicht ohne weiteres Einlaß; daher wird ein Seil über die Straße
gespannt, und der Weg wird nur gegen ein Geldgeschenk wieder
freigegeben; so wird die Braut ihrer Gemeinde abgekauft und in
die neue hineingekauft. 2 ) Demgegenüber betont Samter S. 165, dass
dieser Gedanke vielleicht öfters in den Brauch hineingetragen worden
sei; daß er aber nicht den ursprünglichen Sinn der Sitte erkläre,
gehe daraus hervor, daß diese nicht nur geübt wird, wenn die Braut
in einen andern Ort zieht, sondern auch, wenn sie im Dorfe bleibt.
Dieser Einwand läßt sich m. E. allerdings leicht entkräften. Es ist
sehr wohl möglich, daß die Wegsperre ursprünglich nur bei dem
Zuge der Braut aus einem fremden Orte nach dem Wohnort des
Bräutigams stattfand, daß sich der Brauch aber später erweiterte
und übertragen wurde auf den Fall, wo Braut und Bräutigam aus
demselben Orte stammten, ferner auf den Hochzeitszug nach und von
der Kirche usw. Auch das oben erwähnte Aufhalten des Taufzuges
dürfte als Übertragung von der Hochzeit leicht zu erklären sein.
Derartige Übertragungen liegen durchaus im Bereiche der Möglich¬
keit und sind auch von den Volksforschern mehr als einmal an-
1 Fremden Personen wird eine unheil wirk ende, zauberische Kraft zu¬
geschrieben. E. Goldmann in der oben zitierten Abhandlung S. 216.
*2) Meyer, Deutsche Volkskunde S. 174; vgl. Sartori 1, 49. Von der Iglauer
Sprachinsel wird berichtet: Ist die Braut aus einem fremden Dorfe, so muß sie,,
wenn sie das erste Mal mit ihrem Manne zum Tanze geht, ‘Hanselgeld' zahlen, dann
erst gilt sie als in die Dorfgemeinschaft aufgenommen (s. oben 6, 264).
Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
163
genommen worden. Hier ein paar Beispiele. Sartori 1, ‘17 berichtet,
daß der Pate nach vollzogener Tanfluindlnng an manchen Orten beim
Hinaustreten aus der Kirche Geld oder Zuckerwerk unter die herum¬
stehenden Kinder wirft; ‘dieser Brauch ist wohl von der Hoch¬
zeit übertragen, wie auch der vereinzelt vorkommende, daß die
Heimkehrenden die Haustür verschlossen linden, oder daß sie an der
Tür mit Getränken empfangen werden'. Zu dem ‘Senkeln' oder
Schnüren der Bauleute bemerkt Meyer, Badisches V olksleben S. 378,
es sei ans dem älteren Binden der Hirten, Schnitter und Schnitterinnen
und der Flachs- und Hanfbrecherinnen entstanden. 1 ) Pfannensehmid,
Erntefeste S. 401 spricht zweifelnd von der Möglichkeit, daß der alte
Brauch, Fremde, Unbekannte beim Betreten eines Erntefeldes zu
binden, später auf den Hof her rn übertragen worden sei. Das
Schlagen mit der Lebensrute ist vielleicht vom \\ eibnachts- oder
Xeujahrstage auf den Kindleinstag übertragen worden (Hessische
Blätter für Volkskunde 11, 28; vgl. Sartori 3, 46. 53. 61).
Wie lautet nun Samters eigene Erklärung der Wegsperre bei
Hochzeiten? Er macht S. 166 f. darauf aufmerksam, daß nicht nur
der Braut, sondern auch der Wöchnerin der Weg versperrt werde;
es müsse eine Erklärung des Brauches gesucht werden, die zugleich
für das Aufhalten des Hochzeitszuges und das Aufhalten des Tauf¬
zuges 2 ) und der Wöchnerin passe. Er zieht sodann einen von mir
einst ausführlich besprochenen 3 ) indischen Hochzeitsbrauch heran
und kommt zu dem Schluß, daß die Wegsperre als ein Mittel zur
Abwehr unheildrohender Geister betrachtet werden müsse: nicht
der Braut oder dem Bräutigam soll der Weg versperrt
werden, sondern den Geistern. Diese Erklärung Samters, die
übrigens schon früher von Crawley vorgebracht worden ist 4 ), ist
auch von Sartori, der sich anfänglich anders ausgesprochen hatte
(1, 85), angenommen worden (2, 77 A. 12). Sie hat auch bei anderen
neueren Volksforschern Anklang gefunden 5 ); so z. B. bei Eugen
Fehrle, Deutsche Feste und Volksbräuche 1916 S. 93 (beim Anhalten
des Brautwagens sollen alle bösen Wesen, die etwa mit dem Wagen
fahren wollen, Zurückbleiben) und S. 81 (über das Aufhalten der
1) Meyers Abhandlung über den badischen Hochzeitsbrauch des \ orspannens
'Festprogramm der Freiburger Universität 189(1), die er in der Anmerkung zitiert, ist
mir nicht zugänglich. Über Meyers Erklärung des Vorspannens vgl. Samter S. 1651
2) Nach dem früher Bemerkten kann sichs bei dem Aufhalten des Taufzuges
sehr wohl um eine Übertragung handeln. — Hier möge die Erklärung eines 'um
Naabburg’ herrschenden Brauches eine Stelle finden, die Fr. Schönwerth, Aus der
Oberpfalz 1, 177 gegeben hat. Wenn die Mutter von dem Kirchgänge heimkehrt, so
sucht ihr die Magd die Türe zu verschließen, oder beim Eintreten in die Stube den
Bettvorhang vorzuziehen; dann muß sich die Wöchnerin mit einem Irinkgelde lösen.
Diese Sitte.möchte schließen lassen, daß die Wöchnerin schon in den heid¬
nischen Zeiten bei den Germanen in einen gewissen Stand der Unreinigkeit verfiel,
gegenüber der gesamten äußeren Natur, wie insbesondere den Hausgenossen, daß
sie während des Kindbettes von letzteren abgesondert im ‘Winkel’ lag und den
Wiedereintritt in die Familie durch ein Opfer gleichsam erkaufen mußte.
3) In der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 17, 144 ff. 211 ff.
4) Mr. Crawley would apparently connect these customs of bride-barring with
the idea of sexual taboo, on which he has perhaps laid excessive stress, or he would
regard them as symbolical of the barring out of evil influences from the
married pair (Crooke, Folk-Lore 13,234). Crookes Erklärung des \ orspannens
siehe bei Samter S. 167 A. 5.
5) Ablehnend verhält sich gegen Samters Erklärung E. Goldmann oben 21,414,
Vgl. auch A. Abt, Deutsche Literaturzeitung 1911, 752.
104
Zacharine: Etwas vom Binden, Sperren und Einkreisen.
Taufgesollschaft durch ein über den Weg- gespanntes Seil: bei dem
Hindernis sollen böse Geister, die etwa noch bei der Gesellschaft
sind, Zurückbleiben); bei Carl Cleinen, Deutscher Volksglaube und
Volksbrauch 1921 S. 70 und bei Maus Xaumann, Grundzüge der
deutschen Volkskunde 1922 S. 81. 83 (über die Straße gespannte
Seile sind für die Dämonen Hinderungsgründe).
Dies sind die wichtigsten Erklärungen, die man für den Hoch¬
zeitsbrauch des Vorspannen« aufgestellt hat. Möglich wäre es, daß
bei der Entstehung des Brauches verschicdne Motive zusammon-
gewirkt haben, daß eine ‘Kreuzung von Motiven’ stattgefunden hat.
End so schreibt denn auch Crooke: 1t is not easy to give a definite
explanation of such rites (des Hebens der Braut über die Schwelle,
des Vorspannens usw.), and it is quite possible that more than
one line of thought has contributed to establish them (Folk-
Lore 13, 233). Auch hier wieder erinnere ich an A. Dieterichs Worte:
Es kann nicht ein ganzer Komplex von Bräuchen aus einem Punkte
erklärt werden; unentwirrbar knüpfen sich ineinander die
verschiedensten Fäden alten Glaubens (s. oben 20,159).
Halle a. cl. Saale.
Die Bibernelle in der Pestsage. 1 )
Von Heinrich Marzell.
(Mit einer Abbildung.)
Daß furchtbare Ereignisse wie die Pestzeiten in der Volkssage
ihren Niederschlag finden, ist nicht verwunderlich. Aehnlich wie
Kriege und Hungersnöte von der nimmermüden Phantasie des Volkes
immer mehr ausgeschmückt in der Sage noch lange fortleben, so
geht es auch mit den Zeiten der großen Volksseuchen. Dazu kommt
noch, daß die Pest dem Volksglauben als eine typische, durch Dämonen
verursachte Krankheit gilt. Sie erscheint in der Gestalt von Drachen
und Lindwürmern oder von gespenstischen Vögeln, die über das ge-
peinigteLand dahinfliegen und mit ihrem giftigen Hauch allesMenschen-
leben vernichten. Besonders in slavischenSagen, aber auch in deutschen,
tritt die Pestfrau auf. In einer slidslavischen Volkssage setzt sich
ein weißgekleidetes Frauenzimmer zu einem Bauern auf den Wagen
und läßt sich von ihm ins Dorf fahren. Es war die Pest selber,
die dann dem Bauern den Bat gab, auszuwandern, damit er verschont
bleibe 2 ). Aehnlich ist es im Vogtland ein graues Männchen, das den
Bauern bittet, sich auf seinen Wagen setzen zu dürfen, dann klopft
es mit einer Bute an die Häuser. Wo es klopft, stirbt das ganze
Haus an der Pest 3 ). Es wäre gewiß eine ganz dankbare Aufgabe,
1) Nach einem Vortrag, gehalten auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für
Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften in Bad Brückenau, am 15. Sep¬
tember 1925.
2) F. S. Krauss, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven (1S90) S. 64.
3) Eisei, Sagenbuch des Voigtlandes (lbTl) S. 49
Marzell: Die Bibernelle in der Pestsnge.
IG 5
einmal alle deutschen Pestsagen, wie sie in den schier unzähligen
landschaftlichen Sagensammlungeil auf‘gezeichnet sind oder noch im
Munde des Volkes leben, zu sammeln, kritisch zu vergleichen und
womöglich auch die nichtdeutschen Sagen, insbesondere die slavischen,
heranzuziehen. Sicher würde durch eine solche Sammlung auch
mancher Ausblick gegeben auf die Geschichte der Volkssenehen.
Von diesen vielen Pestsagen ist ein Typ besonders bemerkens¬
wert, weil er zunächst rein örtlich oder doch nur landschaftlich zu
sein scheint. Bei einer genaueren Nachforschung ergibt sich aber,
daß der Sagentyp im deutschen Sprachgebiet von einer ganz verblüffend
weiten Verbreitung ist, eine Tatsache, die schon früher einzelnen
Sagensammlern und Volkskundeforschern aufgefallen ist 1 ). Der In¬
halt der Sage ist kurz folgender: In einer bestimmten Gegend wütete
einst (nicht selten wird die Zeit mit Jahreszahl genau bezeichnet!)
die Pest, so daß die meisten Einwohner dahingerafft wurden. Als
die Not am höchsten gestiegen war, verkündete ein geheimnisvoller
Vogel (oder es erscholl eine Stimme aus der Luft): „Braucht Biber¬
neil, dann wird die Pest verschwinden“. Das tun die Menschen, und
tatsächlich kommt die Seuche zum Stillstand.
Von dieser Sage habe ich aus dem ganzen deutschen Sprach¬
gebiet etwa hundert Fassungen im Laufe der Jahre sammeln können
(meist nach den gedruckten Sagensammlungen der einzelnen Länder,
einiges wurde mir auch unmittelbar aus dem Volke mitgeteilt). Des
beschränkten Raumes wegen seien hier nur einige Fassungen genannt.
Um ein Bild von der weiten Verbreitung des Sagentyps zu geben,
wurden absichtlich Beispiele von den verschiedensten deutschen
Volksstämmen ausgewählt. Der Anfang sei im Süd westen des deutschen
Sprachgebietes, und zwar mit alemannischen Sagen gemacht:
Vor vielen hundert Jahren wütete einmal die Pest in Grindel¬
wald, sodaß unzählige Menschen starben. Da erschien ein Berg¬
männlein und rief von einem Felsen mit vernehmlicher Stimme herab:
„Bruchit Astränzen und Binipinäll,
So stürben die Chranken nid so schnall!“
Astrantia und BiberneU wurden angewendet, und dem Tod war
Einhalt getan 2 ). Als im Jahre 1611 der große Tod im Werdenberg
(St. Gallen) wütete und die Mehrzahl der Bewohner dahingerafft
wurde, erscholl eines Abends in den Lüften der Ruf:
„Esset Knoblauch und Bibernelle,
Dann sterbet ihr nit so schnelle!* 4
Die Leute befolgten den Rat, und der Tod hörte auf 3 ). In Hirsingen
(Ohereisaß) lautet die Sage: Als einst „e großer Sterbet 44 war, soll
ein Vöglein gesungen haben:
„Trinket ab ( =Tee davon) Enrepris und Bipernell,
So sterbet ihr nit so schnell P 4 )
1) Vgl. auch Treichel, Armetill, Bibernell und und andere Pestpflanzen. Eine
ethnologisch-botanische Skizze (18S7); Jungbauer, Volksdichtung aus dem Böhmer¬
wald (1908, S. 230f; Schweizer Volkskunde 1 1911). I9f; Lemke, Asphodelos 1 (1914 ,
65-75; Deutsche Gaue 15(1914 , 151 f; Marzell, Unsere Heilpflanzen 1922 S. 104-108.
2) Herzog, Schweizer Sagen 1 (19135 65
3) Wartmann, Beitr. z. St. Gallischen Volksbotanik 2 (1H74) S. 56.
4) Martin und Lienhart, Wb. d. eis. Mundarten 2 (1907,), 49
Zeits dir. d. Vereins f. Volkskunde. 1925 20.
12
ICC)
Marzell:
\jg die Pest im Wiesoiithal (Schwarzwald) in den Jahren 1348
nml 1349 hauste und die Menschen dahinraffte, kam in der Zeit des
höchsten Elends ein Vöglein vom Himmel und pfiff:
„AeLU Durmedill und Biberneil.
Sterbt nüt sc schnell! U1 )
Besonders häufig ist die Sage ir.i Bayrisch-Oestcrreichischen.
Vor vielen vielen Jahren war einmal zu Stuhai (bei Innsbruck) die
Pest. Die Leichen standen von der Pfarrkirche zu Telfes bis zum
Ende des ziemlich langen Dorfes. Dazumal war nämlich Telfes die
einzige Kirche im ganzen Stubaithal. Nach und nach sind alle
Personen gestorben bis auf zwei alte Leute in Neustift. Diese saßen
eines Abends vor der Tür ihrer hölzernen Hütte und besprachen sich
eben, was aus ihnen werden solle. Da kam ein spannenlanges
Männlein und sang:
„I bin sograu, i bin so alt,
Denk Spitzwies zwei nml Wies und zweimal \\ ald,
Eßt’s Kranebitt und Biberneil,
Packt enkder Tisel (Seuche) nit so schnell!"
Ehe sich die beiden überraschten Leute erholen konnten, war das
‘Ungeschickt’ verschwunden. Sie aßen beide A\ acholderbeeren nnc
Biberneil, und siehe, sie blieben verschont 1 2 ). Nach der großen Pest
soll es in Altaussee (steirisches Salzkammergut) nur drei lebende
Menschen gegeben haben, von denen je einer im Bartlhot, in r ischen-
dorf und in Lichtesberg; wohnte. Siegetrauten sich nicht zusammen¬
zukommen und verständigten sich durch lautes Rufen. Ihr Leben
verdankten sie dem Umstand, daß sie dem Vögelchen folgten, welches
den Leuten zurief:
war,
„Iß na rund Bieberneli,
Stirbst nit gar so schnell,
Iß na rund Alian (Alant),
Ivemmant mehr als d halb’n davon!" 3 )
Am Lechrain erzählt man: Als die letzte große \ ich serielle
kamen Vögel von seltsamem Ansehen und sangen hier und dort:
„Ihr Leut, ihr Leut,
itroekts Bibernell,
Der Schelm, der Kunter fährt gar schnell!
Die Wurzeln gebts dem Vieh nur ein,
Mit n Sehelmen wird’s dann fertig sein!“ 4 5 )
Auch die Pfarrei Frevung (Bayrischer Wald) wurde einst von
der Pest heimgesucht. Von der ganzen Pfarrei, die damals sehr
o-roß war, blieben nur acht Personen am Leben. In den Boilern
Winkelbrunn und Hinterschmiding lebte nur noch je eine einzige
Person Der Kaminraucli war sozusagen das Lebenszeichen, das die
beiden sich gegenseitig gaben. Alle zwei entrannen glücklich dem
Tod. Später erzählten sie, daß ein Vöglein des öfteren an ihr Fenstei
geflogen, sei und gesungen habe:
„Eßt’s nur brav Ehrenpreis und Pimperneil,
Dann bleibt’s gsund, sterbt’s not so schnell . 46 ü )
1) Alemannia 19L4, 18S.
2) Oben 3 (1893), 171. „ o ^
3) Andrian, Die Altausseer (litOo), S. Ui.
4) Leoprechting, Aus dem Lechrain (lSao) o. 101.
5) Bayerland München 29 (1917), 95.
Die Bibernelle in der Pestsage.
167
Auch im Fränkischen kennt man unsere Sage: Als die Pest im
Maingrund so furchtbar wütete, daß die Menschen zu tausenden
verschieden, auch gar kein Mittel mehr helfen wollte, da wankte in
einem Orte, wo die ganze Bevölkerung hingerafft war, der letzte
Mann siech und elend durch die stillen Gassen des Dorfes. Auf ein¬
mal sah er einen Vogel auf dem Giebel des benachbarten Hauses
sitzen. Dieser Vogel war von seltsamem xVussehen, sein Leib war
weiß, sein Schnabel und seine Füße waren schwarz. Der Vogel aber
fing zu singen an und rief vernehmlich dem Kranken zu:
Wiesenbimberncll
Heilt die Kranken schnell!"
Da raffte der Mann seine letzten Kräfte zusammen, ging hinaus
auf die Wiesen und suchte solange, bis er das Kräutlein gefunden
hatte. Bald war er mit Gottes Hilfe genesen, desgleichen alle Be¬
wohner der Umgegend, welche das Kräutlein gebraucht hatten 1 ).
Auch sonst läßt sich die Sage aus Mitteldeutschland (besonders
aus dem östlichen Teil), wenn auch nicht so reichlich wie aus dem
Oberdeutschen, belegen. Dem polnisch-deutschen Grenzgebiet ist sie
ebenfalls nicht fremd: Als der Rogasener See (Posen) noch höher
stand, da war der Ort nicht so gesund wie heutzutage. Im Anfang
der dreißiger Jahre (des 19. Jahrhunderts) raffte die Cholera viele
dahin. Da ereignete es sich einst, daß einige Leute durch den Wald
gingen, und als sie über die schreckliche Krankheit klagten, da
hörten sie plötzlich ein großes Geräusch in der Luft, und eine
Stimme rief:
„Brauchtt Bibernell und Terpentill (Tormentill),
So wird der Tod bald stehen still ! 44
Gleich darauf fiel etwas aus der Luft, und als sie nachsehen
wollten, was cs sei, sahen sie, daß es ein Pferdefuß war; sie meinten,
daß der Fuß von dem Nachtjäger herabgeworfen sei. Das ange¬
gebene Mittel wurde von vielen gebraucht, und es soll auch geholfen
haben 2 ). Schließlich läßt sich die Bibernell-Pestsage auch aus dem
östlichen Niederdeutschland an verschiedenen Stellen nachweisen:
In Tempelburg (Kr. Neustettin) wütete einst die Cholera so stark,
daß die Ärzte nicht mehr helfen konnten. Da rief es eines Tages
am hellen Tage in die Straßen hinein:
„Brükt Bibernell! Brükt Bibernell,
Dat ji nich stärft so schnell ! 44
Man glaubte, daß es die Krankheit gewesen sei, die da gerufen
habe 3 ). Und schließlich ist unsere Sage auch hoch oben im Nord¬
osten Deutschlands nachzuweisen, bei Saalfeld, südlich von Königs¬
berg: Es war einmal im Land große Viehseuche, wo man hinsah,
fiel das Viehchen, und kein Mensch wußte sich zu raten und zu
helfen. Da kam aus der Luft eine Stimme, die rief immerzu:
..Bibernell und Armetill,
Wer sein Viehchen retten will ! 4
Das befolgten die Menschen, und das Leiden war behoben 4 ).
1) Schöppner, Sagenbuch der bayer. Lande B 1853), 36.
*2 Knoop, Sagen und Erz. aus der Proy. Posen (1893) S. 124.
3'; Jahn, Volkssagen aus Pommern undRügen (1886) S. 38.
4, Lemke, Volkstümliches aus Ostpreußen 2 (1887 , 24.
12
Marzell:
103
Das sind, \vit k schon oben bemerkt, nur einige Beispiele von den
etwa hundert Fassungen der Sage, wie ich sie gesammelt habe.
Nicht unerwähnt sei, daß die Sage auch eine gewisse literaturhisto¬
rische Bedeutung hat. In einer seiner schönsten Erzählungen, ‘Granit’
genannt, schreibt Adalbert Stifter, der Kleister der gemütvollen Natur-
Schilderung, von einer Bestzeit im Böhmerwald: Als die Krankheit
ihren Gipfel erreicht hatte, als die Menschen nicht mehr wußten,
sollten sie in dem Himmel oder auf der Knie Hilfe suchen, geschah
es, daß ein Bauer aus dem Amischhause von Melm nach Oberplan
ging. Auf der Drillingslohre saß ein Vöglein und sang:
.,Eßt Enzian und Pimpinell,
Steht auf, sterbt nicht so schnell 1 ).“
Es ist wohl kein Zweifel, daß hier der Dichter eine Volkssage seiner
Heimat Oberplan im Böhmerwald wiedergibt.
Es handelt sieh um eine typische Wandersage! Am weitesten
verbreitet ist sie offenbar im Oberdeutschen, aber auch in Mittel¬
deutschland wie im östlichen Franken, in Sachsen, Schlesien trifft
man sie nicht selten an. Im Niederdeutschen dagegen scheint sie
nur im Osten (Ost- und Westpreußen, Pommern) bekannt zu sein.
In Nordwestdeutschland konnte ich sie bisher nirgends nachwcisen:
aus Westfalen, Schleswig-Holstein, Oldenburg, Mecklenburg 2 ), Han¬
nover, aber auch aus den Rheinlanden gelang mir der Nachweis der
Sage bis jetzt nicht. Daß dies darin seinen Grund haben könnte,
daß im Westen bezw. im Nordwesten Deutschlands die Volksseuchen
weniger häufig und weniger furchtbar als im Osten und Süden waren,
wage ich kaum zu vermuten.
Gehen wir jetzt etwas näher auf die einzelnen Varianten der
Sage ein. Immer ist es eine seuehenartige Krankheit, von der die
Rede ist, weitaus in den meisten Fällen heißt es die ‘Pest 5 . Einige¬
male ist es die Cholera oder die Ruhr, nur in zwei Fällen wird eine
Viehseuche 3 ) genannt. Besonders bemerkenswert dürfte sein, daß
in vielen Sagen gena.ii die Zeit der Seuche angegeben wird:
1348—1349 Wiesental (Schwarzwald) 4 ) — 1542 Breslau 5 ) — um 1550 Owen
(Württemberg) 6 ) — 1 Gl 1 Werdenberg (St. Gallen) 7 ) — 1G29 Toggenburg, Uri 8 )
— Zeit des dreißigjährigen Krieges (z. B. Thüringen, Isergebirge 9 ) — 3 709 Inster¬
burg 10 ) — 1813 Ivissingen 11 ) — 1830 Rogasen (Posen) 12 ) — 1832 Gaden (Nieder-
österreich) 13 ) — 1840 Ruhrseuche auf der Schwäbischen Alb 14 ).
Diesen Jahreszahlen näher nachzugehen, wäre gewiß eine recht
dankbare Arbeit; für meine volksbotanischen Studien lag sie etwas
zu weit ab.
1 Stifter, Ausgew. Werke. Hrsg, von Fürst. Leipzig (Hesse) o. J. 5, 23.
2) Nacli gütiger Mitteil, von H. Prof. Wossidlo ist in Mecklenburg zwar nicht
die Sage, wohl aber der Spruch: ‘Bäwernill un Tormentill — dat ward hollen de Pest
wol still’ Klockenhagen b. Ribnitz) bekannt.
3) Leoprechting, Aus d. Lechrain (1855) S. 101; Lemke, Volkst. a. Ostpr. 2 J887) S. 24.
4) Alemannia 1914, 18S.
5) Grässe, Sagenbuch d. Preuß. Staates 2 (1871) S. 170.
6) Meier, Deutsche Sagen ans Schwaben (1852) S. 248.
7) Wartmann a. a. O.
8) Zeitschr. f. Deutsche Myth. 4 18S9), 174; Schweiz. Archiv 12 1908), 210.
9 ; W T ucke, Sagen der mittl. Werra 2 1891) S. 354; Das Land 4 189G\ 155.
10) Treichel a. a. O. S. 14.
11) Panzer, Beitr. 1 (1848), 248. — 12) Knoop a. a. O. S. 124.
13) Zeitschr. f. Dt. Mytli. 4 (1S59\ 2G.
14) Thierer, Ortsgeschichte von Gussenstadt 1 (1912), 245.
Die Bibernelle in der Pestsage.
1G9
Der nächste Punkt! Wer hat das rettende Mittel verkündet !
Wohl in drei viertel aller Sagen wird ein Vogel genannt, der ah und
zu genau beschrieben wird, z. B. ein weißer Rahe 1 , ein schwarzer
Vogel 2 ), ('ine Wildente 3 ), eine Nachtigall 4 ). Hier wäre zu bemerken,
daß der Seidenschwanz, jener bunte nordische Singvogel, der zu uns
manchmal als Wintergast kommt, in Österreich Pestvogel, sonst
auch im Volksmunde Toten-, Sterbe- oder Kriegsvogel heißt, viel¬
leicht deswegen, weil er im Volk als Verkünder schlimmer Zeiten
galt. Wir können ihn deshalb dem rettenden Vogel, der den
Menschen das Heilmittel gegen die Seuche verrät, nicht gleichstellen,
ganz abgesehen davon, daß keine Beschreibung des sagenhaften
Vogels auf den Seidenschwanz paßt. Daß es nach den meisten
Sagen gerade ein Vogel ist, der das Mittel gegen die Pest verkündet,
erinnert daran, daß die Vögel seit alters als besonders weise und
hellsehend gelten. Mail denke nur an die auspieia und auguria der
Römer, an die Weissagungen aus dem Vogelflug. In vielen Fassungen
unserer Sage heißt es, daß eine geheimnisvolle Stimme, die ans der
Luft oder vom Himmel ertönte, den geplagten Menschen das rettende
Mittel verriet. Auch werden häufig elbische Wesen wie Zwerge, die
Norkcln in Tirol und die Fänkemannli des Schweizers als die An¬
sager des Heilmittels genannt. In der Oberpfalz treten an ihre
Stelle die Holzfräulein, Naturgeister, die draußen im Wald ihr Wesen
treiben. In Schlesien und in Nordböhmen wird die Verkündung des
heilenden Mittels einem Engel zugeschrieben 5 ). Damit wären ähn¬
liche Sagen zu vergleichen, wo ebenfalls den Menschen die Heilkräfte
einer Pflanze durch einen Engel geoffenbart worden sein sollen.
So soll die Eberwurz (Carlina) Karl dem Großen während einer
Pestzeit (also auch hier die Pest!) im Traume von einem Engel ge¬
zeigt worden sein. Übrigens soll nach einer schlesischen Fassung
unserer Sage auch die Bibernelle bei einer Pestseuche in Breslau
im Jahre 1542 einem frommen Bürger von einer Traumgestalt ge¬
wiesen worden sein 6 ). Auffällig mag es erscheinen, wenn nach einer
Walliser Sage der ‘schwarze Tod’ selbst das Mittel verkündet 7 ).
Das rettende Mittel, das der Vogel, die geheimnisvolle Stimme usw.
verkündeten, ist fast immer eine Pflanze 8 ) (oder mehrere Kräuter),
durch die die Seuche gebannt werden soll. Weitaus in den meisten
Fällen (mindestens in 90% aller Fassungen) wird die Bibernelle (ent¬
weder allein oder mit anderen Pflanzen) genannt.
Die Bibernelle ist ein in ganz Mitteleuropa auf trockenen
Wiesen, Triften, Hügeln und in Wäldern häufiger Doldenblütler
(also verwandt mit Kümmel, Anis, Fenchel, Schierling usw.). Bo¬
tanisch unterscheidet man bei uns zwei nahverwandte und äußerlich
recht ähnliche Arten, die vom Volk wohl nicht weiter auseinander-
1) Köliler, Volksbr. usw. im Voigtland (1867; S. 496.
2) Wucke a. a. O.
3) Schönwerth, Aus d. Oberpfalz 3 (lS59i, 21.
4 Jungbauer a. a. 0. S. 230.
5 Peter, Volkstürnl. aus Österr.-Sclilesien (1865—73) 2. 240; Grohmann, Abergl.
usw. aus Böhmen u. Mähren S. 92.
6) Grässe a. a. 0.
7) Walliser Sagen 1 1907^, 43.
8) Nur sehr selten wird ein anderes Mittel genannt: Walliser Sagen 1 J907),
43, 47 ‘bahts [geröstetes] Brot’); Schweiz. Arch. f. Volkskde. 8, 272 ^backs Brot’;; Panzer
Beitr. 2 (1855). 99 (‘Himmelsbrod’).
17U
Märze II:
gehalten werden, nämlich die große Bibernelle (Pimpinella magna)
und die kleine Bibernelle (P. Saxifraga). Jene wird bis 1 Meter hoch,
die kleine Bibernelle etwa bis l / 2 Meter, es sind also Pflanzen, die
man kaum übersehen kann. Trotzdem ist die Bibernelle im Volke
lieutzutag recht wenig bekannt, hat auch kaum richtige Volksnamen,
Aveil sie eben von der großen Zahl ähnlicher wildwachsender Dolden¬
blütler nicht weiter unterschieden wird. Eine auch dem Nicht¬
botaniker auffallende Eigenschaft der Pflanze ist, daß die Wurzel
der Bibernelle einen kräftigen, aromatischen, bocksartigen Geruch
hat, daher auch ihr Name Bockswurz, Bockspeterlein. Dieser Ge¬
ruch rührt von einem aromatischen Umbelliferenöl her, das nach
der mir zur Verfügung stehenden Literatur noch nicht näher unter¬
sucht ist. Ob die Bibernelle schon den antiken Autoren bekannt
war, ist sehr zweifelhaft. Fraas und Berendes halten zwar die
Pflanze Kaukalis des Theophrast 1 ) und des Dioskurides 2 ) für P. Saxi¬
fraga. Das ist aber sicher falsch, denn P. Saxifraga kommt in
Griechenland gar nicht vor, wohl aber andere Pimpinella-Arten, Avie
P. Tragiuni und P. peregrina. Im Neugriechischen wird der Name
kaukalethra für verschiedene Doldenblütler u. a. auch für P. Tragium
gebraucht.
In den landläufigen botanischen Wörterbüchern, wo einer vom
anderen abschreibt, heißt es, daß das deutsche Bibernelle aus dem
lateinischen Pimpinella stammt, und dieses wird als entstanden aus
bi-pennula zweifiedrig erklärt und soll sich beziehen auf die
federartige Zerteilung der Blätter. Das klingt recht hübsch, stimmt
aber sicher nicht. Flückinger 3 ) meint umgekehrt, daß ‘Pimpinella’
das latinisierte deutsche Wort Bibernelle darstelle. Eine Etymologie
für das deutsche Wort kann er jedoch nicht angeben. Da heißt es
suchen, avo das Wort zum erstenmal vorkommt. Bei den antiken
Ärzten und Botanikern steht es nirgends. Die erste Erwähnung des
lateinischen Pflanzennamens Pipinella geschieht nach Flückinger in
den Würzburger ‘Glossae Theotiscae’ (deutsch ist hier die Pflanze
nicht glossiert). Hier ist die ‘Pipinella’ zusammen mit 53 anderen
Pflanzen ein Bestandteil eines ‘pulvis contra omnes febres et contra
omnia venena, et omninm serpentium morsus, et contra omnes an-
gustias cordis et corporis’ 4 5 ). Es ist mir jedoch gelungen, eine noch
frühere Erwähnung der Pipinella aufzufinden: In Benzi’s Collbctio
Salernitana 6 ) Avird sie als Mittel gegen Herzbeschwerden von dem
Arzt Benedietus Crispus erwähnt. Nach Sudhoff 6 ) ist dessen Heil¬
gedicht kurz vor 681 entstanden; es benutzt die Medicina Plinii, den
Serenus und den lateinischen Dioskurides, enthält möglicherweise
auch Volksmedizinisches. In den althochdeutschen Glossen kommt
das deutsche ‘Bibinella’ öfter vor. Es dient zur Erklärung der la¬
teinischen Pflanzennamen pipinella, seltener auch von eraclea, side-
ritis, armoracia, agrimonia 7 ). Auch die hl. Hildegard (gest. 1179),
die in der ‘Pliysica’ zweifelsohne viel Volksmedizinisches bringt, er-
1) Hist, plant. 7, 7, 1.
2; Materia medica 2, cap. 139.
3) Flückinger, Pharmakognosie des Pflanzenreiches 8 (1S91) S. 403.
4) Fischer-Benzon, Altdeutsche Gartenflora (1S94) S. 1S9.
5) Kenzi, Collectio Salernitana. 1 Xapoli (1S52), 77.
0) Meyer-Steineg und Sudhoff, Geschichte der Medizin (1921) S. 174.
7 ) Zeitschr. f. dt. Wortforsch. 6 (1904/05), 193.
Die Bibernelle in der Pestsage.
171
wähnt die bibinella und sagt, daß die Pflanze für den menschlichen
Gebrauch nicht viel tauge, weil ihr Saft schart sei. Aber man
solle sie am Hals tragen, weil man dann vor Zaubereien und vor
Gift sicher sei 1 ). Im 13. Jahrhundert erscheint die Bibernelle z. B.
in einem Arzneibuch des Klosters Tegernsee und bei dem Arzt Xieo-
laus Myrepsos. Ob wir aber in all diesen Fällen wirklich an unseren
Doldenblütler denken dürfen, ist durchaus nicht sicher. Eine ganz
andere Pflanze, die der Bibernelle nur einigermaßen in der Gestalt
der Blätter gleicht, der Wiesenknopf (Sanguisorba offieinalis), heißt
nämlich auch Bibernelle (wegen der ähnlichen Blätter!), allerdings
meist mit dem Zusatz ‘welsche’. Bei Albertus
M agnus und bei lvonrad von Megenberg be¬
gegnen wir der Bibernelle nicht. Unzweifel¬
haft aber erscheint unser Doldenblütler in den
gedruckten Kräuterbüchern von der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts an. Der deutsche
4 Hortus Sanitatis’ (Mainz 1485) bringt im Ka¬
pitel 315 die Pimpinella, jedoch mit vertausch¬
tem Holzschnitt. Der beigegebene gehört näm¬
lich zur folgenden ‘Pirola’, und der Holzschnitt
von der vorhergehenden ‘Pulmonaria' stellt die
Pimpinella dar. Von jetzt ab finden wir den
Doldenblütler Pimpinella in allen Kräuter¬
büchern, so bei Brunfels, Bock. Fuchs, Mat-
tliioli, Dodonaeus, Tabernäinontanus, Valerius
Cordus, Clusius usw. (s.- Abb.).
Es erhebt sich jetzt die Frage: Wie kommt
die Bibernelle in die alte deutsche Volkssage
hinein? Denn daß die Sage wirklich eine
deutsche (nicht etwa der Antike oder einem
nichtgermanischen Volke entlehnt) und eine
sehr alte ist, darüber kann es kaum einen
Zweifel geben. Es wird bewiesen durch die
weite Verbreitung der Sage in Deutschland und
durch ihre altertümliche Fassung (Zwerge, Holz¬
fräulein, geheimnisvoller Vogel usw.). Ist die Bibernelle Pimpinella
Bibernelle eine echt germanische Heilpflanze s axifraga aus Hier. Bock,
oder ist sie erst durch die Monchsmedizm, die s !77
* doch hauptsächlich auf antike Quellen zurück¬
geht, dem deutschen Volke bekannt geworden? Für das erste (ger¬
manische Heilpflanze) scheint zu sprechen, daß die Pflanze bei den
antiken Autoren nicht vorkommt. Andrerseits aber erscheint es doch
wieder recht sonderbar, daß sie sonst nirgends als solche anftritt; auch
Höfler kennt sie in seiner ‘Volksmedizinischen Botanik der Germanen'
(1908) nicht. Also antik ist die Bibernelle sicher nicht, echt ger¬
manisch aber auch nicht. Woher stammt sie dann ? Vielleicht doch
aus der italienischen Medizin bezw. Volksmedizin des Mittelalters,
von deutschen Ärzten ans Bologna oder Padua mitgebracht, den
Hauptsitzen der medizinischen Scholastik im 13. und 14. Jahrhundert.
Hier sei zur Etymologie noch nachgetragen, daß auch Kluge 2 ) dem
Eiternd.
1) Phvsica 1, 131.
2) Etym. Wb. (1921) S. 217.
Mur zell:
lTl!
Wort Pimpernelle romanische Herkunft ^iht. Vielleicht geht das
romanische Wort auf das lateinische piper Pfeffer zurück, bezug¬
nehmend auf den scharfen, beißenden Geschmack der Pflanze. Piper-
nelle wäre also die ‘ PfelTerwiirz’, ein Name, der auch verschiedenen
anderen scharf schmeckenden Pflanzen im Volk gegeben wird.
Wann erscheint die Bibernelle in der medizinischen Literatur als
Pest pflanze? Soweit ich übersehen kann, erst verhältnismäßig spät,
in Deutschland vielleicht erst seit der großen Pcstepidemie von I34bh
Aus den Pesttraktaten des Mittelalters dürfte sich wohl Aufklärung
schaffen lassen; icli hatte jedoch noch keine Gelegenheit, sie einzu¬
sehen. Im 9. Jahrhundert war sie, wie wir sahen, Bestandteil eines
Pulvers gegen Fieber, Gift, Schlangenbisse und Herzbeschwerden.
In dem TVgernsecr Arzneibuch des 13. Jahrhunderts, das unter dem
Xamen des ‘Magisters Bartholomäus’ geht 1 ), wird die Pibinella
empfohlen, um zu untersuchen, ob einer von einer Wunde genesen
oder daran sterben wird. Die Wurzel soll nämlich dem Kranken in
Wasser eingegeben werden. Wenn er die Wurzel verdaut, so wird
er genesen, findet man aber die Wurzel in der Wunde, so wird er
sterben. Auch Herr Geheimrat Sndhoff teilte mir vor einiger Zeit
(1920) mit, daß die Bibernelle im 12. und 13. Jahrhundert bei äußer¬
lichen Erkrankungen in Italien und Frankreich verwendet wurde;
ob sie darum auch für Pestbeulen später Verwendung fand, sei bis
jetzt nur Vermutung. Vom Ausgang des Mittelalters dagegen wird
die Bibernelle in den Kräuterbüchern ausdrücklich als Pestmittel
bezeichnet. So schreibt, um nur ein Beispiel zu geben, Leonhard
Fuchs in seinem Kräuterbuch (1542): ‘die wurtzel ist treffentlich gut zu
der zeit der pestilenz gebraucht, dann sie widerstrebt dem bösen lufft
und bewart vor dieser grausamen plaag, auch so sie nur im rnnnd
gehalten würdt'.
Wie kommt aber die Bibernelle dazu, als Pestmittel verwendet
zu werden. Die frische Wurzel hat einen sehr starken und unan¬
genehmen Bocksgeruch. Nun werden aber in der Volksmedizin gegen
Pest und ähnliche Seuchen gerade sehr stark riechende Pflanzen ver¬
wendet. Es liegt dieser Verwendung sozusagen ein homöopathisches
Prinzip zugrunde: Der Gestank der Pflanze soll die stinkende
Pest vertreiben. Auch Dämonen — und die Pest galt ja in der primi¬
tiven Heilkunde als der Typ der dämonischen Krankheit — werden
durch starke Gerüche (Räucherungen usw.) vertrieben. Ähnlich
glaubt man auch im Volk, daß der stinkende Ziegenbock z. B. in
einem Pferdestall das beste Schutzmittel gegen Viehseuchen sei.
Bock und Bockswurzel, wie ja die Bibernelle auch heißt, vertreiben
die Seuchen.
Schließlich noch einige Worte über die Pflanzen, die in unserer
Volkssage neben der Bibernelle vom geheimnisvollen Vogel, der
Stimme aus der Luft usw., als Pestmittel empfohlen werden. Was
die Häufigkeit betrifft, so steht an 2. Stelle der Baldrian, die alte
Hexenpflanze, die offenbar wegen des unangenehm riechenden Wurzel¬
stockes ja auch heutzutage noch in vielen Gegenden als hexen- und
teufelvertreibend gilt. Besonders häufig erscheint sie in den Sagen-
fassungen aus dem östlichen Deutschland. Vielleicht macht sich hier
1) Phil.-hist. Sitzungsber. Akademie Wien 42 (.1863 , 143.
Die Bibernelle in der Besteige.
173
der Einfluß der Slaven bemerkbar, denen der Baldrian als eine der
zauberkräftigsten Pflanzen gilt 1 )* Dann kommt der Wacholder, der
Kranewitstrauch des Altbayern mnl des Tirolers, der noch im heu¬
tigen Volksglauben als eines der besten Mittel gegen ansteckende
Krankheiten angesehen wird. Vielfach glauben die Bauern, daß das
Kauen von Wacholderbeeren vor jeder Seuche schütze und zu den
Requisiten der alten Pestärzte gehörten diese Beeren ebenfalls.
Räucherungen mit Wacholder sind ein altes Mittel gegen die Hexen,
die in Haus und Hof ihr Unwesen treiben.
Häufig, besonders im nordöstlichen Deutschland, erscheint die
Tormentilhvurzel (Potentilla tormentilla), auch Armetill, Dnrmetill
(Verdrehungen aus dem lateinischen Tormentilla) in unserer Pestsage
genannt. Wegen ihres rötlichen Wurzelstockes (daher auch Blutwurz)
ist sie ein altes Volksmittel gegen die rote Ruhr. Da der Wurzel¬
stock viel adstringierende Gerbsäure enthält, mag das Mittel tatsäch¬
lich gegen die genannte Krankheit nicht ganz unwirksam sein. Auf
alemannischem Boden (Schweiz, Schwaben) verkündet der Pestvogel
häufig die Heilkraft des Knoblauchs. War er doch im Mittelalter
der „gepaurn triaeker“ (Megenberg), ein Universalmittel gegen alle
Gifte, Würmer und Pest. Das schwefelhaltige Knoblauchöl hat ja
tatsächlich antiseptische Eigenschaften. Dann kommt noch einige-
male, besonders in österreichischen Sagen, der Enzian vor, von dem
H. Bock in seinem Kräuterbuch (1552) sagt, daß „der gemeine Mann
keinen besseren Theriak kenne, und daß der Entian eine köstliche
Wurzel vor alles Gift sei“.
Eine Reihe von Pflanzen tritt in dem tröstenden Spruch des
Pestvogels nur ganz vereinzelt auf. Ich nenne nur die Namen:
Brunelle (Schweiz), Bitterklee (Österreich), Dill (Schlesien), Dost
(Schlesien), Bärenwurz (Sachsen), Rapuntica (Rhapontikwurzel, radix
Rliei rhapoutici) (Vogtland), Alant(Steiermark), Laurin (Tausendgülden¬
kraut) (Westpreußen), Angelica (Westpreußen), Ehrenpreis (Elsaß,
Xiederbayern), Eberwurz (Schweiz), Gundermann (Nordböhmen),
Strenze (Meisterwurz) (Schweiz), Brunnenkresse (Schweiz), Aron(Rhein-
pfalz). Fast von allen diesen Pflanzen kann festgestellt werden, daß
sie im Volke als dämonenverscheuchend galten oder noch gelten.
Die meisten Pflanzen, die der Pestreim nennt, lassen sich nach ihren
chemischen bzw. physiologischen Eigenschaften in zwei Gruppen unter-
bringen: 1. Stark riechende Pflanzen: Bibernell, Baldrian, Wacholder,
Knoblauch, Dill, Dost, Angelica, Strenze, Alant. 2. Pflanzen mit
Bitterstoffen: Enzian, Bitterklee, Rapuntica, Laurin, Aron.
Lediglich auf ihren berühmten, vielverheißenden Namen hin
scheinen in den Pestspruch gekommen zu sein: Ehrenpreis, Eber¬
wurz, Gundermann.
Wenn auch die obigen Zeilen nur einen Auszug aus einem um¬
fangreichen Material darstellen, so dürften sie doch gezeigt haben,
wie eine schlichte deutsche, scheinbar rein Örtliche Volkssage den
Ausgangspunkt bilden kann für weitreichende Untersuchungen auf
dem Gebiet der Medizingeschichte und der Etlmobotanik. Schon aus
diesem Grunde sollten Mediziner und Naturwissenschaftler, soweit
sie der Geschichte ihrer Wissenschaften nachgehen, das Gebiet der
1 Marzeil, Unsere Heilpfl. (1922) S. 195.
174
Becker
deutschen Volkskunde, insbesondere der Volkssage, nicht vernach¬
lässigen. Manche Frage, die ans dem medizinischen und natur¬
wissenschaftlichen Fachschrifttum kaum zu beantworten ist, kann
von der volkskundlichen Seite her eine Lösung oder doch eine
Klärung erfahren.
G unzenha usen (Bayern).
Zur Geschichte des Osterhasen und seiner Eier.
Von Albert Hecker.
Wie Luther unter dem Christbaum auf Schwerdgcburths be¬
kanntem Bild und noch mehr der Weihnachtsbaum auf Hohentwiel
in Scheffels ‘Ekkehard’ oder in dem Gedicht W. Langewiesckes
‘Kaiser Heinrichs Weihnacht’ 1105 zu Waldböckelheim als Anachro¬
nismen zu bezeichnen sind 1 ), so wäre auch der Osterhase, der etwa
Luthers Kleinen Eier legte, zeitlich eine Unmöglichkeit. Ja, der
uns allen vertraute österliche Freudenspender ist eine recht junge
Schöpfung kindlichen Glaubens: mit das früheste Zeugnis, das uns
sein Dasein belegt, ist ein schweizerisches Kinderlied vom Jahre
1789 2 ); erst das 19. Jahrhundert hat dem Osterhasen einen weiteren
Wirkungskreis gesichert.
Im Jahre 1847 schrieb Eduard Mörike „auf ein Ei“:
.Die Sophisten und die Pfaden
stritten sich mit viel Geschrei:
Was hat Gott zuerst erschallen,
wohl die Benne, wohl das Ei?
Wäre das so schwer zu lösen?
Erstlich ward ein Ei erdacht,
doch weil noch kein Huhn gewesen,
Schatz, so hat’s der Has gebracht.
Der Nachweis für solches Alter des Osterhasen wäre dem Dichter
schwer gefallen. 1775 begegnet in einer Schweizer Quelle die
Redensart ‘Osterhas jagen’, und der Ausdruck scheint, wie das
mittelalterliche ‘Klaus jagen’, auf ein höheres Alter der Sitte zurück¬
zuweisen 3 ). Es handelt sich hier um ein Verstecken und Suchen
der Eier, eine Sitte, über deren Ursprung man sich noch nicht im
klaren ist. Eine auffallende Parallele ist es, daß bei den Imeretiern
im Kaukasus in der ersten Fastenwoche ein Kuchen versteckt und
gesucht wird. Wir besitzen leider noch keine vergleichende Zu¬
sammenstellung der Versteck- und Suchbräuche, die sicherlich
auch auf unseren Osterbrauch Licht werfen würde.
1) A. Becker, Neues von alten Pfälzer Weihnachtsbräuchen (Pfälzisches Museum
— Pfälzische Heimatkunde 19*21, 168).
2 F. Kluge, Archiv für Religionswissenschaft 22, 358.
3) v. Moos, Astronomisch - politisch - historisch- und kirchlicher Calender für
Zürich 2 (1775), dazu E. Hoffmann - Krayer, Schweizer Volkskunde 6 (1916), 41. In
Hessen (Beuern) ‘läutet man dem Has’, um ihn herbeizulocken, Ende des 18. Jahr¬
hunderts Biess. Bl. f. Volksk. 8 [1909] 1S7).
Zur Geschichte des Osterhasen und seiner Eier.
175
Scheint so die Voraussetzung für die Tätigkeit des Osterhasen
auch von allgemeinerer Art zu sein, der eierlegeiule Hase ist doch
selbst dem aufgeklärten 18. Jahrhundert noch eine ungewohnte Fr-
scheinung. Sonst hätten wir wahrscheinlich nicht ein amtliches
Protokoll darüber 1 ), daß im Jahre 1758 ein llase im Frankenland —
Eier legte. Die Niederschrift hierüber samt den Eierresten ist heute
noeli in Ansbach zu sehen. Jener berühmte Hase legte „in einer
alten hölzernen Truhe, worein er beständig gesperrt gewesen, ein
Ei, so. wie ein kleines Hühnerei, im Monath Martz 175(1“; ein
zweites im März 1757, im April das dritte. 1758 um die gleiche
Zeit ein viertes und ein fünftes. Den seltsamen Hasen aber hatte
Förster Fuhrmann zu Solnhofen bei Langenaltheim „an einer Eichen,
einer pfälzischen Wildfuhr in der s. g. Haardt 1755 gefangen und
mit nach Haus getragen.“ Sollten wir hier den Stammvater dos
Osterhasen vor uns habenf Es scheint fast, als ob der vielleicht
damals aufkommende Glaube an den eierlegenden Osterhasen in
solcher ‘Tatsache’ und ihrer amtlichen Bestätigung eine Stütze fand.
Daß der Hase Eier, Ostereier lege, ist auf verschiedene Weise,
oft ungenügend, erklärt worden. Schon das nicht vom Hasen ge¬
legte Ei tritt in enge Verbindung mit dem Osterfest. Neben denn
Lamm und dem Fladen (in Sonnenscheibenform) sind Eier wohl die
beliebteste Osterspeise, der etwas Zauberisches anhaftet. Magischen
Charakter verrät auch der in den letzten Jahren noch um den
Königsberg bei Wolfstein in der Pfalz üblich gewesene Ostervogel;
es ist ein ausgeblasenes großes Ei, oft ein Gansei, das mit farbigen
Papierflügeln versehen ist und als Deckengehänge verwendet wird;
auch auf dem Hunsrück ist der Brauch bezeugt. Wie ferner das
Ei in der Gräbersymbolik der Alten schon eine Rolle spielt 2 ) und
z. B. auch auf pfälzischem Boden in römischen Gräbern als Grab¬
beigabe sich fand 3 ) (Frankenthal, Worms), so wird dem christlichen
Glauben das Ei erst recht ein sprechendes Sinnbild. Jeremias
Gotthelf hat einmal treffend gesagt 4 ): „Das Ei ist eine geheimnis¬
volle Kapsel, welche ein Werdendes birgt, ein rauhes Grab, aus
welchem, wenn die Schale bricht, ein neues, feineres Leben zutage
tritt.“ Es wundert uns nicht, daß dieses Sinnbild an einem Feste,
das die Auferstehung der Natur und Gottes zugleich feiert, ausgiebig
verwendet wird. Dazu kommt aber dann, daß Eier einst ein Opfer,
im Mittelalter auch eine beliebte Abgabe des Tributpflichtigen an
den Herrn, die Herrschaft darstellten oder als Geschenk dem Höher¬
stehenden gegeben wurden; so kennt man auch in der Pfalz die
‘Beichteier’ 5 ) als Geschenk an den ‘Pastor’, den. katholischen
Pfarrer, z. B. im Bliestal, und wenn wir gar hören, daß dem
Speverer Domherrn Thomas Truchseß im Jahre 1508 nicht nur Eier
sondern auch Hasen zu Ostern geschenkt wurden 6 ), so verbinden sich
1) J. Meyer, Ein amtliches Protokoll über Haseneier in: Das Bayerland 21 (1910',
310 f., dazu E. Frhr. v. Ktinßberg, Jahrbuch für historische Volkskunde 1 1925), 8G.
2) J. J. Bachofen, Gräbersymbolik der Alten Basel 1S59\ Register S. 428;
R. Andree, Braunschweiger Volkskunde 2 (1901) S. 340.
3) F. J. Hildenbrand, Pfälzisches Museum 33 191G , 72.
4) Michels Brautschau: Erzählungen und Bilder 1 (Berlin 1850), 127.
5) A. Becker, Pfälzer Volkskunde (1925') S. 399. Allgemein U. Jahn, Die
deutschen Opfergebräuche bei Ackerbau und Viehzucht (1884) S. 138 f.
A. Pfeiffer, Der Pfälzerwald 15 (1914), 49 f.
176
Becker:
ja beide (iahen fast schon zu den — Hnseneierii. Die auf Ostern
übliche kirchliche Weihe von Eiern und Laktiziuien hängt ebenso
mit dem Kastenschloß zusammen wie die des Fleisches 1 ). Mit Vor¬
liebe wählte man zur Weihe die am Antiaßtag 2 ), am (1 rü ndonners-
tag. gelegten Eier. Diesen Eiern barteten dann auch besondere
Segenskräfte an, vor allem förderten sie wieder die Fruchtbarkeit.
Als Sinnbild der Fruchtbarkeit sehen wir Eier auch an unserem
Pfälzer Sommertagsstecken 3 ). Es kann sein, daß die Verehrung,
die das Ei als Träger neuen Lebens erfährt, mit westgermanischen
Frühlingsbräuchen in engerem Zusammenhang stellt. Die kirchliche
Eierweihe hat jedenfalls neben ihrer liturgischen Bedeutung das
Verdienst, zur Erhaltung alter, schöner Bräuche beizutragen, die
ohne das religiöse Moment wohl längst vergessen wären.
Wie die altkirchliche Sitte des Genusses geweihter Eier zur
Osterzeit heute stark geschwunden ist, so hat der Osterhase und
das von ihm gelegte bunte Ei an Bedeutung gewonnen. Mehr noch
als wir Deutsche legen slawische Stämme auf prächtig gemusterte
Ostereier Gewicht; aber auch Eier, die man 1897 in römischen
Gräbern zu Worms fand 4 ), sind verschieden bemalt. Unser buntes
Osterei kennt also Parallelen und Vorläufer. Und doch ist es
schwer, seine Geschichte in Deutschland zu schreiben. Als Olearius,
einer der besten deutschen Prosaiker seiner Zeit, 16(33 seine Per¬
sische Reisebeschreibung verfaßte, da schilderte er die gefärbten
Ostereier der Russen, als ob er nichts Ähnliches aus seiner Heimat
kennte. Und ein Handbuch für die gebildete Damenwelt, das 1715
unter dem Titel ‘Frauenzimmerlexikon , alles liier Wissenswerte zu-
sainmenfaßte, weiß nichts von Ostereiern. Dagegen erwähnt es fol¬
genden Brauch: „Grünendonnerstag holen, ist ein Gebrauch von
etlichen Orten, da die kleinen Kinder, absonderlich von gemeinen
und bedürftigen Eltern, zu ihren Paten gehen und das sogenannte
rote Ei nebst anderen Geschenken holen.“ Dieses ‘rote Ei 5 aber
ist, wie es an anderer Stelle heißt, „ein rotgefärbtes und mit aller¬
hand Figuren und lustigen Reimlein beschriebenes Ei, womit die
Mütter ihre kleinen Kinder am Gründonnerstag zu beschenken
pflegen“. Liselotte von der Pfalz erwähnt einmal ‘Ostereier von
Schilderotten’ 5 ). 1741 erscheint das Osterei in Frisehs Deutsch¬
lateinischem Wörterbuch, um nun nicht mehr aus den Wörterbüchern
zu verschwinden 6 ). Doch erst Anfang des 19. Jahrhunderts mag
das Osterei über das Gründonnerstagsei den endgültigen Sieg davon¬
getragen haben. Im Besitz von pfälzischen Verwandten des Dichters
Friedrich Rückert fand ich ein Exemplar der niedlichen Erstaus¬
gabe von Christoph v. Schmids kindlicher Erzählung ‘Die OstereyeU
1 A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter .1 (1909), 575 ff.
2) Antiaß = Entlassung, Lossprechung der österlichen Büßer von Kirchen¬
strafen, dazu P. Sartori, Sitte und Brauch 3 1914), 142 mit weiterer Literatur.
3) A. Becker, Pfälzer Volkskunde (1925, S. 304.
4 Köhl, Korrespondenzblatt für Anthropologie 28 (1897), 61. 108.
5) Grimm, D\V. unter ‘Ostern’ : Stuttgarter Ausgabe der Briefe (1874) S. 68.
6) In Campes Wörterbuch (1809) ist der Text aus J. Ch. Adelung (Wien 1808)
übergegangen Osterei, Gründonnerstageier). Bei Ersch-Gruber, Allg. Encykl. 7, 23
'1836) ist auf einen mir nicht zugänglichen Aufsatz verwiesen: D. J. C. W. Augusti,
Die Ostereier (Zeitschrift für gebildete Christen von Gieseler und Lücke, Elberfeld
1823, 2. Heft, S. 80).
Zur Geschichte des Osterhasen und seiner Eier.
177
{Landshut 1S16) 1 ). In das Büchlein hat der Dichter folgende doppelt
wertvolle Widmung eingeschrieben, mit der er seinem sechsjährigen
Schwesterlein Marie von Stuttgart aus, wohl Ostern 1817, das Ge¬
schenk nach Ebern in Fnterfranken übersandte:
Liebe Marie!
Stuttgardt am Palmsonntag
Weil Du so schon zum Gründonnerstag’ Eyer genug von allen Farben wirst
eingelegt bekommen haben, und ich liier keine Zeit habe, Dir auch welche selbst
zu "färben und zu schicken, auch sonst niemanden, den ich es heißen könnte;
so will ich Dir dafür dies Büchlein schicken, das Dir durch seinen Inhalt
Deine erhaltenen Eyer vielleicht noch lieber machen wird. Das Büchlein, das
von Eyern handelt, hat auch auf der Post viel leichter fortzukommen, als wirk¬
liche Eyer, und braucht sich nicht wie diese vorm Zerbrechen zu fürchten. Du
wirst Dir auch an seinem Genuß gewiß den Magen nicht verderben, wie mit den
wirklichen Eyern, wenn Dir die Mutter zu viele essen ließe, was sie aber gewiß
nicht tut. — Damit Du Dich nicht wunderst, warum das Büchlein von Oster¬
oy ern spricht, da doch hei Dir der Haas am Gründonnerstag kommt: so mußt
Du Dir vorstellen, daß dieser Haas, wenn gleich sehr schnell laufen, doch
nicht (liegen kann, um an allen Orten zu gleicher Zeit zu sein. Nun mußt Du
Dich bei ihm bedanken, daß er zu Dir zuerst kommt, und von Dir erst herein
zu uns. Wenn er den Weg über Würzburg nimmt, so wird er wohl dort am
Osterheiligenabend seine Bcscheerung machen; hier bei uns kriegen wir ihn erst
zu Ostern selbst, weiterhinein erst am zweiten und dritten Ostertag, und so fort,
je weiter, je später. Vielleicht gibts über’m Meer ein Land, wohin er erst zu
Pfingsten kommt, oder wohl gar nicht, wenn er keine Brücke findet. — Der
gute Mann, der das Büchlein für gute Kinder gemacht hat, heißt Schmidt und
ist katholischer Pfarrer zu Stadion. Er verdient es schon, daß Du Dir seinen
Namen merkest. Grüße Vater, Mutter und Geschwister und sage, ich würde
allen nächstens schreiben, da ich jetzt kein Papier im Hause habe, weswegen
ich Dir hier ins Büchlein schrieb. Dein lieber Bruder Fritz.
So wird Riickerts sinnige Widmung auch zu einem wertvollen
Zeugnis in der Geschichte des deutschen Ostereies.
Wer die heutigen Ostereier nur als Nachfahren der ursprüng¬
lichen Zinseier unserer Weisttimer betrachtet, braucht zu ihrer Er¬
klärung die Mythologie nicht zu Hilfe zu rufen. Ob der Hase, ein
uraltes Sinnbild der Fruchtbarkeit, auch als Spender unserer Oster¬
eier in diesem Sinne gefaßt sein will, ist schwer zu sagen; dagegen
spricht die Tatsache, daß anderwärts (z. B. Westfalen) der Fuchs
die Ostereier legt 2 ) oder in Teilen der Schweiz der Kuckuck 3 ).
Auch dem Fuchs bauen die Kinder dort ein Nest; und Fuchs- wie
Hasenei ist der Name für einen Pilz (Bovist). Es möchte scheinen,
als ob man nur die Herkunft eines besonders gearteten Eies in
märchenhaft-kindlicher Weise zu erklären suchte; dabei mag das in
Form eines Hasen da und dort übliche Patenbrot (‘Hasenbrot’ 4 )
zur Schöpfung des modernen Osterhasen mitgewirkt haben. Viel¬
leicht fällt auf, daß die Ostereier ursprünglich rot 5 ) sind und unter
diesem Namen (Rotei) zuerst in der Literatur erscheinen. Ob dieser
V) A. Becker, Pfälzisches Museum 28 (1911;, 94.
2) P. Sartori a. a. 0. 0, IGO.
3) E. Hoffmann-Krayer a. a. O. S. 4L
4) So auch in der Pfalz: L. Grünenwald, Pfälzischer Bauernkalender [1S9G|
S.-A. S. 37; vgl. auch M. Hofier, Weihnachtsgebäcke Zs. f. österr. Volksk. 11 1905;
Suppl.-Heft 3, 15. GG). e ^
5) Vgl. Eva Wunderlich, Die Bedeutung der roten Farbe im Kultus der Griechen
und Römer RGW XN 1, 1925).
Becker: Zur Geschichte des Osterhasen und seiner Eier.
17b
Farbe, ob dem Färben überhaupt eine tiefere Bedeutung zukommt,
muß dahingestellt bleiben; jedenfalls ist es nichts Germanisch-Be¬
sonderes.
Filter den mancherlei Spielen, zu denen die Ostereier der
äugend Veranlassung geben, nenne ich nur das Wettlaufen um
*l\enneier\ das Eierlesen 1 ). Im wesentlichen besteht das einst
auch in unserer Gegend am Rhein und Neckar bekannte Spiel darin,
daß die Vertreter zweier Gruppen junger Burschen eine Wette aus¬
tragen: in derselben Zeit, wo der eint» nach einem bestimmten, etwa
eine halbe Stunde entfernten Ort hin und wieder zurück läuft, hat
der andere eine bestimmte Anzahl, oft 200 bis 300 Eier, die in langer
Reihe auf der Erde liegen, einzeln aufzulesen und an einen be¬
stimmten Platz zu tragen. Dem Sieger gehören alle Eier. Der
Wett lauf als volkstümliches Spiel offenbart auch hier wieder, wie
so oft im Volksleben 2 ), seinen Reiz. Alle Burschen, die an diesem
Spiel teilnehmen, tragen Haselgerten (Lebensruten). Unter den
Ostergaben, mit denen man 1509 einen Speyerer Domherrn erfreute,
erscheinen Haselhühner 3 ). Ein pfälzisches Mundartzeitwort, das
soviel bedeutet wie ‘fortlaufen’, ‘fortrennen’, heißt ‘hasein’ 4 ). Sollten
am Ende unsere ‘Haseneier’ lautlich-begrifflich mißverstanden sich
gar mit anderen Begriffen in Zusammenhang bringen lassen? Jeden¬
falls siegte der Hase, der im Volksglauben und Sprichwort schon
seit Urzeiten eine große Rolle sjoielt, als Osterhase über alle Neben¬
buhlerschaft auch etwa von sprachlicher Seite. Sein alter Ruf als
Tier der Fruchtbarkeit schon in Aphroditens Reich kam ihm da¬
bei zustatten 5 ). Und heute muß der fruchtbare Osterhase nicht nur
Schokolade, sondern gar mal fortschrittlich auch einen Schulranzen
oder eine Schiefertafel legen, zum Schulbeginn am 1. Mai. Möge er
immer wieder seines vielfältigen Amtes walten und alt wie jung mit
seinen Geschenken erfreuen: jedem sein ‘Osterhäschen’! Denn wie
das ‘Christkinder, von dem wir ausgingen, so steht ja auch der
‘Osterhas’ für seine Gaben; bei Goethe kauft man kein ‘Meßstück’,
sondern ‘einen Jahrmarkt’ (Italienische Reise).
Zw eibrii cken.
1) Badische Wochenschrift 1807 nach Heidelberger Tageblatt 1925 Nr. GO vom
12. März. Vgl. Ida Hahn, oben 12, 210 (1902;.
2' A. Becker, Hessische Blätter für Volkskunde C» (1907), 175,
3) A. Pfeiffer a. a. 0. S. 50.
4) G. Heeger, Tiere im pfälzischen Volksmunde I (Gymn.-Progr. Landau 1902^ S. 25.
5 A. Becker, Pfälzer Volkskunde S. 399, mit Literatur.
Holte: Kleine Mitteilungen.
179
Kleine Mitteilungen.
Der Besuch im Feenlande, ein chinesisches 3Iärchen.
Einst fuhr der Bootsmann Ma-nantsehen aus T'angsi-tschen (Tschc-kiang) nachts
wie gewöhnlich mit Reisenden den Strom entlang, als eine von einem jungen
Mädchen begleitete alte Frau ihn vom Ufer her anrief. Die Reisenden in seinem
Boot rieten ihm ab, anzulegen. „Ist es nicht ein gutes Werk 1 **, fragte er sie,
einer Frau und einem Mädchen, die von der Nacht überrascht sind, aus der
Verlegenheit zu helfenEr landete und ließ sie ins Boot einsteigen. Bei
Tagesanbruch langte das Boot am Ziel an. Da zog die Alte eine Handvoll gelber
Bohnen aus einem Sack, wickelte sie in ein viereckiges Stück Leinwand und gab
sie dem Bootsführer mit den Worten: „Da hast du etwas für unsre Fahrt. Wenn
du uns besuchen willst, so setze deine Füße auf dies Leinentuch! Wir heißen Rai
und wohnen am Westtoro des Himmels 11 . — Mit diesen Worten verschwanden die
beiden Frauen. Der Schiffer, der zunächst das Säckchen Bohnen in seinen Ärmel
geschoben hatte, sprach bei sich: „Ich habe mit zwei Hexen zu tun gehabt 44 , und
warf das Säckchen weg.
Wie er daheim seine Kleider wechselte, fielen einige Bohnen, die im Ärmel
geblieben waren, zur Erde. Es waren Goldklumpen. Da lief der Schiffer schnell
zu der Stelle, wo er das Säckchen fortgeworfen hatte. Die Bohnen waren ver¬
schwunden, aber er fand das viereckige Tuch. ..Versuchen wirs 44 , sagte er und
trat mit beiden Füßen darauf. Alsbald fühlte er sich in die Luft emporgehoben
und nach Westen getragen. Städte und Dörfer zogen tief, tief unter ihm vorüber.
Bald erblickte er purpurrote und rosenfarbene Paläste. An der Schwelle hielt
sein Fahrzeug an. Knaben, die das Tor hüteten, meldeten ihn an, und die Alte kam
und begrüßte ihn. „Du mußtest kommen 44 , sagte sie; „denn so wars dir bestimmt,
meine Tochter ist dir zugedacht. 44 — „Wer bin ich 44 , sagte der Fährmann, „um
einen solchen Entschluß zu fassen! 44 —„Es gilt keinen Entschluß' 4 , sagte die Alte;
„das Schicksal allein bringt die Verbindungen zu stände. Ihr wurdet miteinander
verbunden, als du sie in dem Boot aufnahmst. Es lohnt nicht weiter davon zu reden' 4 .
Einen Augenblick später tranken beide unter Flötenschall den Hochzeitsbecher.
Ais der Honigmonat zu Ende war, sehnte sieh Ma mantschen, trotzdem er alles
hatte, was man wünschen kann, nach einem Besuch bei seiner irdischen Familie
und sprach mit seiner Frau davon. „Tritt auf das viereckige Tuch 44 , sagte sie.
In wenig Augenblicken wurde der Fährmann vor seine Haustür getragen. Seitdem
llog er hin und her zwischen dem Westtor des Himmels und seinem irdischen
Wohnsitz Ting-schui-k’iao. Die Eltern des Fährmannes aber befiel die Furcht, er
möchte eines Tages nicht zurückkehren, und sie verbrannten das Tuch. Damit war
die Sache zu Ende. Ma-nantschen mußte auf der Erde bleiben und wieder zum
Bootshaken greifen. Die Weisen, die man über dies Abenteuer befragte, meinten,
die Alte, die sich Pai (Weiß) nannte, müsse die Göttin des Sennenhofes sein.
Das vorstehende Märchen steht gleich dem oben S. 82, 127 angeführten in dem
von Sui-yüan während der 18. Jahrh. abgefaßten Werke Sin-ts’i-hai (Neue ab-
gestiramte Harmonie). Ich entnehme es aus Leon Wieger, Folklore chinois
moderne 1P09 Nr. 191.
Das verbreitete und oft reizvoll ausgesehmückte Motiv der Verbindung eines
Sterblichen mit einem Weibe aus überirdischem Geschlecht, erfährt hier eine etwas
prosaisch anmutende Abwandlung. Zwar erinnert nur der Schiffer, den die Fee zu
ihrem Schwiegersohn erkiest, indem sie ihn mit Bohnen, die sich in Goldstücke
verwandeln, und einem Wunschteppich beschenkt, an den Knaben Liombruno, den
ein Adler ins Feenland trägt 1 ), an die Ritter Graelent, Guingamor u. a. des
bretonischen Sagenkreises, die auf der Jagd von einer weißen Hinde oder einem
Eber zu einem Quell, in dem die Fee badet, oder zu einem Palast, indem sie haust,
gelockt werden 2 ;, oder an den Reimer Thomas, der von der Schönheit der vorüber-
1) Bolte-Polivka, Anmerkungen zu Grimms Märchen 2, 322.
2) Ebd. 2, 327. 345.
ISO
Holte:
reitenden Ellenkönigin hingerissen wird 1 ). Allein die Trennung des ungleichen
Paares wird nicht durch eine Verschuldung des Helden hervorgerufen, der nicht wie
der Gemahl der Melusine oder der der Meliur ein Verbot Übertritt 2 ). Auch
wird sein Wunsch, seine irdischen Verwandten wicderzuschcn, nicht durch das
schnelle Dahinschwinden der Zeit im Jahre vereitelt wie im Lai von Guingamor
und vielen anderen Sagen 3 ), sondern es sind die eignen Eltern, die aus selbst¬
süchtiger Besorgnis den Flugteppich verbrennen und dem Sohne die Ilückkchr ins
Feenreich unmöglich machen.
ln einer andern Novelle desselben Verfassers Sui-yüan (bei Wieger Nr. 80)
wird ein armer Gelehrter Tsch’en-schcngt’ao gleichfalls von einer Fee zum Gatten
erkoren und lebt in ihrem Schloß in rherfluß; doch verläßt ihn die Fee (ähnlich
wie Melusine) öfter auf sieben Tage. Als er dann seinen Sohn aus erster Ehe nebst
dessen Frau zu sich einlädt, erscheint auch ein erwachsener Solm der Fee, der
seiner Schwägerin nachstelit. Der entrüstete Tschen enthauptet ihn und sieht
plötzlich statt des Leichnams einen toten Fuchs vor sich. Da wird ihm klar, daß
auch die Fee eine verwandelte Füchsin ist, und er flicht ans der Stadt. — Auch
das Motiv der im Jenseits unbemerkt verrinnenden Zeit verwertet Sui-yüan (bei
Wieger Nr. 200): ein Knabe, den ein Tuo-schen auf seinen Wunsch für einige
Augenblicke in den Himmel mitnimmt, erfährt bei der Rückkehr, daß inzwischen
Jahre verstrichen sind 4 ).
Berlin. Johannes Boltc.
Zu Goeüios Legende vom Hufeisen.
Woher Goethe 1797 den Stoff zu seiner Legende vom Hufeisen entnahm, ist
nicht bekannt. Da aber die Geschichte in verschiedenen Volkssagen des 19. Jahrh.
vorkommt, liegt die Vermutung nahe, daß der Dichter eine solche benutzt habe-
Vor *28 Jahren konnte ich mehrere Aufzeichnungen aus Schlesien und der Schweiz,
aus Belgien, Spanien und Galizien nach weisen 5 ), und seither sind noch andere aus
Italien und Ungarn zum Vorschein gekommen 6 ). Nur ist die Frage, ob nicht diese
Geschichten erst aus dem durch Schullesebücher und Übersetzungen weithin ver¬
breiteten Goetheseben Gedicht abstammen; und in mehreren Fällen läßt sich dies
sogar deutlich erkennen. Es hat deshalb vielleicht einigen Wert, wenn ich jetzt
eine Fassung des 17. Jahrh. vorführen kann, die statt der Kirschen Birnen nennt
und ausdrücklich auf eine noch ältere Überlieferung hinweist.
Der Dresdener Hofprediger Johann Lysthcnius erzählt in seinem ‘Lieblichen
Lustgärtlein. voller herrlicher, schöner vnd nützlicher Gleich- vnd Bildnisse’ (Leipzig
1631) S. 237:
Die Alten haben gar schön fingiret, wie einsmals der Herr Christus und S. Petrus
mit einander gewandert, da haben sie einen Pfennig gefunden, den habe der Herr
Petrum heissen aufflieben. Als aber Petrus solches nicht thun wollen aus Ver¬
achtung, so hat ihn der Herr selbst auffgehoben und dafür zwölff Birn gekaufft,
welche er alle hat neben sieh fallen lassen, und dieselben hat Petrus alle auff¬
gehoben. Darauff hat der Herr Petrum gestrafft und gesagt: Erst wolltest du dich
nicht einmal nach dem Pfennig bücken, und nun hast du dich zwölff mal nach
den Birnen gebückt.
Darumb heist es: Laß dirs gefallen, du hast wenig oder viel. Wer ein geringes
nicht zu rath heit, der nimpt für und für ab. Als das Wachs wolt ein Ziegel
werden, so zerschmelzete es. Also bleibe ein jeglicher in seinem Beruff. Was
deines Ampts nicht ist, da laß deinen Fürwitz, Syr. 3.
Berlin. Johannes Bolte.
1) Child, Englisb Ballads nr. 37.
2) Bolte-Polfvka 2, 239; J. Kollier, Melusinensage 1890 S. 1—31*
3) R. Köhler, Kl. Schriften 2, 239. 428. Lai de Guingamor hrg. von E. Lommatzsch
1922 S. VI. Hier steigt auch der Held entgegen dem Verbot vom Pferde oder genießt
irdische Speise.
4) Vgl. Wilhelm, Chinesische Volksmärchen 1914 Nr. 33 ‘Die beiden Scholaren 1 .
ö) Goethe-Jahrbuch 19, 307. 21, 257. Zitiert bei Dähnhardt, Natursagen 2, 282.
6) A. Harou, Revue des trad. pop. 20,402 (1911. Aus der belgischen Provinz Lim¬
burg). II. Zschalig, Die Jünger und die Steine, Volksdichtung aus Capri (Grenzboten
1911, 4, 503). R. Gragger, Ungarisches zu Goethes Legende vom Hufeisen (Ungarische
Rundschau 1915, 938). _
Kleine Mitteilungen.
181
Zum deutschen Volksliede.
(Vgl. oben 05, 25.)
07. Ein Soldatenliederbucli aus dem siebenjährigen Kriege.
Auf der Berliner Staatsbibliothek liegt als Mscr. boruss. oct. 93 die Brieftasche
eines Soldaten, der unter Friedrich dem Großen den siebenjährigen Krieg mitinachtc
und als Liederfreund unsre Aufmerksamkeit verdient. Der Feldwebel im Raminschen
Regiment in der Compagnie des Majors von Koschenbahr Christian Gottfried Weigel
hat dies Notizbuch nicht nur während der Jahre 1758 bis 1797 zu allerlei
persönlichen Eintragungen') benutzt, sondern auch auf Bl. 10b bis 42a in zierlicher
Schrift 05 Lieder aufgezeichnet, von denen zwei mit der Melodie versehen sind.
Bemerkenswert und als ein Zeugnis für die im preußischen Heere lebende Ge¬
sittung zu buchen ist, daß wir keine Verherrlichung kriegerischer Taten, keinen
soldatischen Übermut oder derbe Erotik antreffen, sondern neben einigen geistlichen
Trostliedern, Mahnungen zur Gelassenheit in Widerwärtigkeiten und einer Klage
eines Invaliden Liebes- und Gesellschaftslieder, wie sie uns auch in gleichzeitigen
handschriftlichen Sammlungen und Einzeldrucken begegnen. Von bekannten Autoren
sind vertreten Geliert, Hofraannswaldau, Günther. Stoppe, Patzke. Aus späterer
Zeit stammen, wie die nachlässigere Schrift zeigt, die Eintragungen von S. 30a ab,
unter denen Dichtungen von Sinapius, Miller und Wagner aus den Jahren 1775
bis 1781 erscheinen.
Ich lasse ein alphabetisches Register der Lieder und ein paar Proben folgen.
Ach wie bin ich so verlaßen, ach was hab ich doch gethan (4 Str.). S. 29a.
Als bey einer reinen Quelle Philis jüngst am Wasser schlief (S). S. 08 a.
Alß die Venus neulich säße (5). S. 27b. — A. Kopp, Deutsches Volks- und Studenten¬
lied 1S99 S. 1G1: Hofmannswaldau ^6 Str. .
Auf, mein Geist, liebe was beständig ist (5). S. 00b. — Kopp 1S99 S. 72 (8 Str.). Dit-
furth, 110 Volks- und Gesellsehaftslieder 1875 S. 27G.
Bis ich schlaffen werde unter kühlem Sand (5). S. 40a. — C. F. Sinapius 1775. M. Fried-
laender, Das deutsche Lied im IS. Jahrh. 2, 048 (1902).
Da lächelt nun wieder der Himmel so blau (7). S. 41b. — J. C. Wagner 17S1. M. Fried-
laender 2, 358.
Damötas war schon lange Zeit (11). S. 17b. — Geliert 1744. M. Friedlaender 2,54.
A. Kopp 1899 S. 40. 1900 S. 1S9. Ditfurth, Volks- und Gesellschaftslieder des 17.
und 18. Jahrh. 1S72 S. 20.
Denkt zwar nicht, daß in meinem Hertzen (5). S. 25b.
Die Macht des Glückes wechselt täglich, so stark mans auch (10). S. 11a.
Die Vögelein in den grünen Wald, die hört man singen bald (5). S. 23b. Unten Nr. 09.
Erhole dich, bedrängtes Herze, im Schoße der Gelassenheit (9). S. 03 b.
Es lebe durch des Himmels Gnade (4k S. 44 b. — Unten abgedruckt.
Es war einmal ein Gärtner, der sang ein traurigs Lied (7). S. 40b. — J. M. Miller 1770.
M. Friedlaender 2, 279. Böhme, Volkstümliche Lieder 1S95 S. 362.
Geliebtes Lehen, zürne nicht, wenn ich nun künfftig hin (7). S. 21 b.
Gestern hört ich in gar stiller Ruh einer Amsel in dem Walde zu (G\ S. 15a. - Erk-
Böhme, Liederhort nr. 522. Oben G, 298. Hoffmann-Prahl, Unsere volkstümlichen
Lieder 1900 nr. 492. E. K. Fischer, Das Lied von der Amsel ^19IG).
Getrost mein Geist, die letzte Stunde schlägt, sey unverzagt, nun endet sich dein
Leyden (3). S. 37b.
Hartes Schicksal, was verfolgst du mich! Alles Unglück rüstet sich (4). S. 35a.
Ich habe was gesehn, und das war wunderschön (3). S. 24b.
Ich kehre mich an nichts (G). S. 32b. — Unten Nr. 71.
Ich leyd und darff nicht klagen, die Kohlen glimmen noch (3). S. 29 b. — Kopp, Ältere
Liedersammlungen 1906 S. 179 teilweise abweichend.
Kein Mensche kennt und glaubt das Elend der Soldaten (5). S. 14 b. — Unten abgedruckt.
Kranke müssens nicht verschweigen (3). S. 25a. — D. Stoppe 1728. A. Kopp 1S99 S. 4G.
Laßt mich Ader, ach ich sterbe, holt den Doctor und Barbier her (9). S. 01a. —
Fliegende Blätter: Berlin Yd 7901, II, 55 nr. 2 und II, 61.
*) Z.B. am 22. April 1758: ,,In Mikewitz bey Neuße ist bey der Parole befohlen,
wer in dieser Campagne blessiret wird und keine Dienste mehr thun kan, soll doppelt
versorgt werden.“ — „Donnerstags als d. 17. Sept. 1761 hat mir die Frau Kühnen die
Kugel aus dem Beine genommen des Morgens um 9 Uhr.“ — Auf S. 47 b begegnet
sogar die Jahreszahl 1822.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925/26.
13
Holte:
1S2
Liebster Freund, kom trinck mit mir auf das Wohlsein unsrer Schönen (3). S 30a. —
Kopp 1906 S. 199.
Mama, ach sehn Sie doch den Knaben (7). S. 19b — J. S. Patzlcc 1752. M. Fried-
laender 2, Sl. Rühme, Yolkstüml. Lieder S. 279. Flieg. Blatt Berlin Yd 7901,
II, 4S nr. -L 1, 39 nr. 2.
So hab ich denn vergebens meine Lieb auf diel» ge wand (3) S. 2Sb. — Fnten Xr. 70.
Stürmt, reist und rast, ihr Unglückswinde (.">). S 20b.— J. C. Günther 1724. M. Fried-
laender 2. 9. A. Kopp 1S99 S. 03 und Zs. f dt. Phil. 27, 360.
Yon allen Schäfern, die ich kenne, spricht wohl Damöt am meisten an (5) mit Me¬
lodie. S. 13 a.
Was quält ihr mich, ihr bangen Sorgen ,4). S. 10b.
Was überzieht mich vor ein Wetter, wo stammet alle Mißgunst her (9). S. 16a.
Was wird doch jetzt mein Engel machen (S). S. 26 b.
Weiche, banger Schmertz, und laß in mein Hertz (4). S. 36a.
Weicht, ihr Nachtgespenster 1). S. 22b. — Unten Nr. 68.
Wie groß ist des Allmächtigen Güte (6) mit Melodie. S. 12b. — Geliert 1757. Fried-
laender 2, 56.
Wie lang soll ich mich quälen, bis ich dein Hertz gewinn 2. S. 36b. — A. Kopp 1899
S. 143. Mündel, Elsässische Volkslieder 1884 nr. 84 ‘0 Seele’.
* *
*
Eine Krieges Aria.
1. Kein Mensche kennt und glaubt das Elend der Soldaten,
Die bald vor Frost vergehn, bald an der Sonne braten.
Der Himmel deckt sie zu, das Erdreich ist ihr Pfühl,
So lange schlaffen sie, als Feind und Nachbahr will.
2. Wan andere, die daheim in vollen Gläsern kriegen,
Im Friede lustig seyn und auf der Mästung liegen,
So müssen wir getrost in vollem Feuer stehn,
Bald hungrig in die Schlacht, bald durstig schlaffen gehn.
3. Es sind nun 30 Jahre, daß ich mein Leib und Leben
Schon mehr den 20 mahl den Schicksal übergeben,
12 Schlachten haben mir den Degen stumpff gemacht,
9 Stürme manchen Feind vor diese Faust gebracht.
L Manch Schwerd hat mir mein Haubt, kein Schwert das Hertz
geschlagen,
Ich stand, wo Roß und Mann bey mir darnieder lagen,
Mein Fuß vergaß die Flucht, da es zum Lauffen kam
Und das verspielte Feld in unserm Blute schwam.
5. Das Trinkgeld hab ich nun für meine Müh bekommen,
Daß, da ich meinen Leib im Felde mitgenommen
L T nd mich für andere gleich als wie ein Licht verzehrt,
Stadt der Vergeltung mir solch Lhidanck wiederfährt.
C. G. Weigels Handschrift S. 14b.
Ein Gesundheits Reim.
Es lebe durch des Himels Gnade
Mein König, der mich schützen kan.
So schiegt er mit der Wach-Parade
Noch einmahl Hundert Tausend Mann.
Der zweyte.
So oft mich ein schönes Kind begegnet,
Daß Gott und die Natur gemacht,
So fält mir der Gedanke ein:
Der Gott, der so viel schöne Sachen
Aus lauter nichts hat werden laßen,
Der muß ja noch viel schöner sein.
C. G. Weigels Handschrift S. 14b. — Der Trinkspruch auf Friedrich den Großen
steht auch im Mscr. boruss. fol. 872, 30. Daselbst S. 55 noch ein andrer:
18:3
Kleine Mitteilungen.
Es lebe Friederich, der Preußen großer König!
Er ist für mich zu viel, ich für Ihn viel zu wenig.
Doch trinck' ich rasibus anl'f Friedrichs Wohlergehn.
Gott laße Deinen Duhm der Nachwelt wundernd sehn!
Gott stärcke Friedrichs Arm und seinen tapfern Degen,
So bleibt das Teutsche Reich im Flor, in Glück und Segen.
öS. AbeiidstäiHlchen.
1. Weicht, ihr Xachtgespenster,
Stört mich nicht in meiner Ruh!
Dort an jenem Fenster
Schaut mir mein Schätzchen zu.
0 ihr hellen Sterne,
Die ihr leicntet bey der Nacht,
Scheint Dnicht oder gebet nur von ferne,
ferne, ferne, ferne.
Auf mein Schätzchen acht!
2. Geht, ihr sanfte Winde,
Geht zu meinem Schätzchen hin
Und sagt ihr geschwinde
Sagt, das ich ihr Sklave 2 ) bin!
Und wen sie 3 ) im Schlaffe,
Stelt ihr meine Liebe für,
Sagt, daß ich ihr Sklave 4 )
Bleib bis in den Todt!
!). Geh ich 5 ) auf und nieder
Mit den Feiffchen in der Iland,
Denek 0 ) ich allzeit wieder
An das schön gelobte Land,
Da. wo nichts als Freude,
Ja die allerschönste Lust,
So uns allen beyden
Ist gantz wohl bewußt.
4. Gute Nacht, mein Schätzchen.
Weils die Zeit nicht läßet zu,
Dort auf jenen Plätzchen
Nichts mehr länger reden thu.
Schlaffe ohne Sorgen!
Das, was heute nicht kann seyn,
Werde ich schon morgen
Doppelt bringen ein.
i) Seyd - 2 ) ge.
Aus C. G. Weigels Handschrift S. 2*2 b. — Lesarten der Hs.
schlaffen — 3 ) sie auch — 4 ) gesdafe — 5 " Geht nicht — 6 ) Gedenck.
69. Liebesznversiclit.
1. Die Vögelein in den grünen Wald,
Die hört man singen bald;
Sie thun sich verpaaren in Jung und Alt,
Ein jeder nach seiner Gestalt.
Laß deine Gedancken auch so seyn
Und gib dich in den Ehstand ein,
Daß du nicht bleiben thust allein,
0 du mein Engelein!
2. Dein Lachen und dein Freundlichkeit
Daß steht mir ja woll an.
Wen ich gedenck zu jeder zeit,
Daß [? da] ist jar keine Zahl.
Die Wort, die ich nicht reden darf,
Die Liebe die brante mir so scharff^
Daß ich nicht weiß wo aus noch ein
Vor lauter Liebespein.
3. Dein rother rosinfarbener Mund
Der steht mir ja woll an,
Wan ich erfreu zu jeder Stund,
Das ist jar keine Zahl.
Wenn ich gedenck, wie manchen Kuß
Ich dir gegeben hab ohn Verdruß
Aus treuen Hertzen nur allein,
0 du mein Engelein.
4. Ich laß dich nun und nimmermehr,
Die Lieb die hat kein End.
Ich finde ja nirgends kein Plesir,
Wo ich mich nur hin wend,
Als nur bey dir, mein Kindelein.
Schenck mir dein Hertze nur allein,
Dein Hertze und die rechte Hand
Zum treuen Unterpfand.
5. Glaub nur, ich bin darauf bedacht,
Daß ich dein Hertz gewinn.
Ob du mich schonst hast ausgelacht
Hab ich doch alle mein Sinn
Auf dich gericht, mein junges Bluth.
Ich hab noch einen frischen Muth,
Daß du mein Eigen werden solt,
Ob du auch schon noch so stoltz.
Aus C. G. Weigels Handschrift S. 23b.
70. Liebesklage.
Melod.: Wie lang soll ich mich quälen.
1. So hab ich den vergebens Sind das Beständigkeiten,
Meine Lieb auf dich gewandt [1.gebaut], So du mir jederzeit
Daß Schifflein meines Lebens Geschworen hast zu halten.
Umsonst dir anvertraut. Bis das Blut in Adern kalt [!].
18*
184
Bolte:
2. Nicht wahr, du hast gantz willig
Genommen ein mein Hertz?
Warum den so unbillig
Erfiilst du es mit Schmertz?
Muß ich anstatt der Freuden
Nichts fiehlen als nur Leyden?
() Unbeständigkeit,
Du bringst mir nichts als Leyd.
3. Ach Schönste, laß diers gefallen,
Wen ich lieg in den Grab,
Die Schrifft an Grabstein mahlen,
So ich dir geben hab:
Hier unter diesen Stein
Verbirget sieh allein
Ein Hertz, das ganz ermordet
Von Gifft der Lieb allein.
Aus C. G. Weigels Handschrift S. 2Sb. — Str. 1 ähnlich oben KUSU. — Die vier
ersten Verse der *2. Strophe stehn in verkehrter Reihenfolge: 3, 1, 2, 4.
71. Gleichmut gegenüber Verleumdung.
1. Ich kehre mich an nichts
und laß die Leuthe klügeln,
Wer kan den jedermann
daß lose Maul verriegeln !
Ich müste jederzeit
in voller Rüstung stehn.
Da ichs nichts ändern kan,
so laß ichs imer gehn.
2. Ich kehre mich an nichts
und laß die Leuthe lügen,
daß auch die Lufft voll wird
und alle Balken bügen.
Sie mögen, was sie sehn,
wohl durch die Hechel ziehn,
Ich werde mich darum
nicht um ein Wort bemühn.
3. Ich kehre mich an nichts,
wenn falsche Zungen stechen
und sich aus Unvernunfft
an meiner Unschuld rächen.
Der Monden acht es nicht,
wan ihn ein Hund ansicht;
So mach ichs, wan man mir
ein falsches Urtheil spricht.
Aus C. G. Weigels Handschrift S. 32b.
4. Ich kehre mich an nichts,
wan man sich gleich beschwert,
daß meine Compliment
nicht lang genung gewehrt.
Es kost mir zwar kein Geld
und ist gar leicht verricht,
doch wers erzwingen will,
bekomt zum stoßen nichts.
5. Ich kehre mich an nichts,
will man mich gleich nicht lieben,
so werde ich darum
sehr wenig mich betrüben.
Denn spricht mein Herze mich
von allen Bösen frey,
so trift doch meinen Feind
gewiß zuerst die Reu.
6. Ich kehre mich an nichts,
drum schweig, Verleumder, stille!
Ich kehre mich an nichts,
daß ist mein ernster Wille.
Ist dieses nicht genung,
so pelfre immerhin!
Ich kehre mich an nichts
Und bleibe, wer ich bin.
72. Husar und 3Iiidchen.
1. Wann wird mein Mund das Glück genüßen,
Dich, Schönste, nur allein zu küßen?
Ach Liebste, halte doch mit länger Wägern ein!
Ich habe dich allen vorgezogen,
Mein Hertz bleibet ehwig dir gewogen
Und liebt dich nur allein ://:
2. So räd ein Husarr, wann er heuchelt,
Und glaubet, wenn er uns nur schmeichelt,
So sey ihm jede Gunst, die er nur wünscht, erlaubt.
Nein, Villis [1. Phyllis] last sich nicht betrügen,
Ob er schon meint sie zu besügen,
Mit lären Worten speist [1. Nicht leeren Worten glaubt]
3. Ich solte Villis hintergehen?
Eh solt man mich erblasset sehen,
Eh ich die Treu, die dir geschworen, brechen soll [!].
Ich schwere dir bey meiner Flinte,
Und mein Bluth soll anstatz der Tinte
Ein treuer Zeuge seyn ://:
4. Husarr, darff ich den Wohrten trauen,
Kan ich auf deine Treu auch bauen,
Weis auch dein Hertz davon, was mir dein Mund verspricht?
Vielst du in Lieben keine Reue,
So zweifle nicht an meiner Treue,
An Kuß und Liebe nicht
Kleine Mitteilungen.
185
5. Du marterst mich durch länger« Wägern.
Sprich, wozu dient dir dis Verzögern?
Erweichtt] kein Schwur, kein Flirnl [1. Flehn]. erbitten meinen
Schmertz [1. kein Bitten deinen Sinn]?
Noch eintz will ich zum letzten wagen,
Ich weiß gewiß, du wirst es sagen,
Daß ich beständig bin ://:
(5. Kom her, mein Husarr, nim zum Kunde
Den Kuß von deiner Liebsten Munde,
Den ihre Treu die ihr [1. Treue dir] so lang entzogen hat!
Nun stehet dir mein Hertze offen
Und alles, waß du hast zu hoffen.
Nun ktiße dich recht satt ://:
7. Womit soll ich die Großmuth lohnen?
0 hat ich itzo tausenfd] Krolmen,
Die solten nur allein, mein Kind, dein eigen seyn.
Mir reitzet nichts dan reines Lieben,
Und du bist mir ins Hertz geschrieben,
Du bist ja mein, ich dein ://:
Dieses etwas schwülstige Liebesduett entnehme ich einer mir von Herrn Prof.
Dr. W. Seelmann freundlich dargeliehenen Brieftasche eines andern preußischen
Soldaten, des Quartiermeisters Schultz von der Husaren-Esquadron des Majors von
Hohendorff, der in den Jahren 17(51 — Gf> in Pommern herumzog und gegen die
Küssen kämpfte. Schultz hat noch drei andre Liebeslieder aufgezeichnet: 1. Ach
was find ich doch für Plagen (5 Str A. Kopp, Volks- und Studentenlied 1S99 S. 131).
— 2. Will denn der Himmel stets, daß ich mich kränke (2 Str.). — 3. Schönste, ists
erlaubt zu bitten eine Gnad von ihr allein (13 Str.).
73. Nach beendeter Militärzeit.
1. Was wandert dort so fröhlich auf der Straße
Mit aufgerollten Achselklappen her?
Es sind gewiß entlassen die Soldaten,
Die ziehen froh nach ihrer Heimat hin.
2. Nun ade, Stargard, so leb denn wohl in Frieden!
Wir trennen uns gewiß recht herzlich gern.
Das größte Glück sei mir und dir beschieden.
Gedenken werd ich deiner in der Fern.
3. Hab öfter mal bei dir im Loch gesessen,
War als Gefangner wie ein junger Bär;
Doch dieses alles will ich gern vergessen,
Denn fürs Gewesne gibt der Jud nichts mehr.
4. Die Pritsche drückt 5 mir oftmals meine Glieder,
Der Hunger grault’ [quält] mich {manche Nacht],
Zum Zeitvertreib [spaziert’ ich auf und nieder,]
Drum sprach mein Herze; Immer frisch gewacht!
Aus einem neueren hsl. Soldatenliederbuche, das mir Herr Professor 0. Knoop
1917 übersandte. Auf dem Deckel steht: „Grenadier Wittek, 4. Comp. Colbergsches
Gren. Reg. Graf Gneisenau Nr. 9 Stargard“. Es enthält (recht im Gegensatz zu
Weigels und Schultzes Liederbüchern) fast nur Kriegs- und Soldatenlieder, wie ‘Ein
Schifflein sah ich fahren’, ‘Die Reise nach Jütland', ‘An der Weichsel gegen Osten’,
‘Die Sonne sank im Westen’ (A. Hartmann, Historische Volkslieder 3, ISO. John
Meier, Das Soldatenlied 191(5 S. 20), ‘Es war im rauhen Jura’ (Ditfurth, Histor. Lieder
von 1S70—71 1, 1G9: Gefecht bei Pontarlier), k O Straßburg’ (Ditfurth 2, 132), ‘Es war
einmal ein Gardehusar, der liebt sein Mädchen viele Jahr’, ‘Wir zogen mit einander,
Hornist und Grenadier’ usw.
74. Am Holderstrauch.
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1. Der Hol-der-strauch, der Hol-der-strauch, der blüht so schön im
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-lang ein klei nes Vö-ge-lein
ein Lied von Lieb’ und
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Treu, da Lied von Lieb’ und Treu.
- Am Iloldcrstrauch. am Holderstrauch S. Am Holderstrauch, am Holdcrstraueh
Wir saßen oft zu zwei, Da muß geschieden sein:
Wir waren dort, wir waren dort Kehr bald zuruck, kchi bald zuiuck,
Die glücklichsten im Mai. Herzallerliebster meiu!
4. Am Holderstrauch, am Holderstrauch
Da weint ein Mägdlein sehr;
Der Vogel schweigt, der Holderstrauch
Der blüht schon längst nicht mehr.
Beim K. Augusta-Regiment Ostern 1913 — 1914 gesungen. — Auch sonst, wähleud
des letzten Krieges verbreitet: A. Wirth, Beiträge zur Volkskunde in Anhalt b ‘
(lü24\ A. Lämmle, Volkslieder in Schwaben 1, Go nr. 49 (LL4) A. B 0 * 1 ™ 1
F. Burkhart, Fahrend Volk (1923) S. 1)2 (aus Siebenbürgen). Volksliederbuch fui
Männerchor nr. 490 (1907).
Das Lied mit der Melodie erschien, wie mir Herr Stadtpfarrer Dr A. Schullerus
in Hermannstadt freundlich nachweist, 1897 in H. Kirchners Siebenburgisch-sach-
sischen Volksliedern (Mediasch, G. A. Reissenberger). Der ursprünglich mundartli
Text ‘Bäm Hontertstreoclr ist gedichtet von dem Gymnasiallehrer Kail Rom er ^eb.
1860 in Zuekmantel, jetzt Stadtpfarrer in Mediasch). Der Komponist Muaikdiie t
Hermann Kirchner (geh. 1861 zu Wölflis im Thüringerwald) lebte damals in Mediasch,
gegenwärtig in Ratibor.
75. Die Woche des märkischen Bauern
Aus Eichstädt bei Cremmen (um 1S5G\
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1. Ick bin en lust-ger Bu - ers-mann
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ick he - we gue-den
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Mueth, ick span-ne mi - ne Os - sen an,
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Fuet, lop ne-ben- häe tue Fuet; der Witt - kopp is min Sattel-
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der Bliiß-ge geit tue Lien; ick ä - te, wat mei Gott be¬
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schert, dünn Woa-ter is min Wien, dünn Woa - ter is min V len
187
Kleine Mitteilungen.
2. Dät Sunndags lop ick noali die Stadt,
In'n Gasthof kehr ick in,
Un heb ick Geld, dann köp ick wat,
• : Heb ick nist, dann loat ickt sind. : |
Un wenn ick dann wedder tue Huse koam,
Stät Speck an Erften blank,
Dann rück ick mei dän Schemel ran
| : Kn äet, wat Gott verlangt. : |
3. Un heb ick mi gegetten satt,
Dann goäh ick nah dän Stall
Un gäwe mine Ossen wat,
• : Sünst koäm se mi tum Fall. : I
Un wenn ick dünn wedder nah die Stab rin koäm,
Un hebbe gueden Sinn,
Dann nehäm ick min klein Jung uppn Arm
| : Un döämle met äm rinn. : (
4. Dät Moandags geit die Arbeit los,
Wärt düchtig Maß geführt,
Dät Dinstags nahm ick meinen Flog
I : Un plö, wit sich gehört. : |
Dät Middewochs pussel ick uppen Hof
Un haue Holt un Kien,
Dät Dunnderstags lop ick nah dän Krog
j : Un hoäle Brännewien. : |
5. Dät Freidags führ ick nah die Hein,
Dar Jähr, dar deit mei kenn,
Dann nahm ick ens ne olle Tein,
i : Dänn kickt hä nich nah hän : |
Dät Sunnabens is die Woche ut,
Moak alles blink un blank,
Dänn mäst ick mine Ställe ut,
| : Un dänn legge ick mei die Banke entlang. : 1
Aus L. Erks Nachlaß 35, 337 (auf der Berliner Staatsbibliothek). Über die
Wochentage in der Poesie vgl. Bolte, Archiv f. neuere Sprachen 98, 83. 2S1. 99, 9.
100, 149 (1897-98).
Berlin. Johannes Bolte.
Nochmals „eni jodt/a“.
(Vgl. oben 2S, 128f. 30/32, G2— 05.)
ln den ‘Fliegenden Blättern’ Bd. 19 (1854), nr. 453, S. 107 steht unter dem
Titel „Der geschlagene Professor“ folgende Anekdote:
Ein reicher jüdischer Bankier erklärt eines Tages dem ebenfalls jüdischen
Hauslehrer seiner Kinder, er habe mit einem Professeur de la langue francaise,
einem geborenen Franzosen, Jlücksprache genommen, bei welchem nun die Kinder
Französisch lernen würden. Der Hauslehrer behauptet, diese Sprache besser zu
können, als der Professor, und verspricht dies dem Bankier zu beweisen. Beim
Abendtee fragt der Hauslehrer den Franzosen: „Sagen Se ’mal, Herr Professor,
wie heißt: Je ne sais pas!“ Der Professor antwortet: „Ich weiß nicht!“ —
und wird von dem erstaunten Bankier deswegen fortgewiesen. Letzterer fragt den
Hauslehrer, wie er es in aller Welt angefangen habe, besser Französisch zu können,
als der Professor. Die Antwort lautet: „Das is kein groß Kunststück! Ich hab’
mir gekauft den Meidinger, den Debonale und den Abbe Mozin. Das sin die
drei beste Grammatiken, was man im Französchcn hat. In alle drei steht
d’rin: Je ne sais pas, ich weiß nicht! Hab’ich mir gedacht, wenn es diese
drei berühmten Männer nicht wissen, weiß es der franzosche Gro߬
prahler gewiß auch nich!“
ISS
Anderson, Giimper, Martin:
Das jüdische Milieu und besonders die Scblußpointe beweisen, daß wir es hier
tatsächlich mit einer Bearbeitung des Schwankes r Eni jude*a tt zu tun haben, dessen
Existenz im Jahre 1854 damit bewiesen wäre.
Dorpat. Walter Anderson.
’s Vergelzget.
Eine Volkssage in proveiser Mundart.
Do ist ampl a Baierl vehi Morket huam gpng’n. Wail’s die Kua v’rkaft
hot, hpt’s an Haufn Geld kop; und wail’s finstr wfirtn ist, hpt’s sie ni e -amyr
wait'r gatraut, ’s ist za ne‘n uadlezn Honf hi gpng’n und hot um a Be i tt g’frog.
b r Xa, BeHt hob’r kua n s, ob’r we i nn di di neH fircht’n tuast, teHfsta af’n Hai lig’n . 44
— „Xa, na, fircbt’n tua i mi neH , 14 hpt’s Baierl drau gspg. Xph’r hob’n sa
’s Baierl \vo u ll af d’r Dill au-i gfi e rt. D’r Baur hpfc ben Stodlltouer nou a Lptfc fir
ga tpn, damit ihm jp neH eipys g’schicht. ’s ßaierl ist wo u ll afn Haisto u ck
au-i ga-kro^chn und ist tiaf inni geschlo u ffn. Kamm hot’s an Aug zua gatpn kop,
10 npehr tuats an taiflisch’n Timbler. Die Lpt fpllt um, ’s Touer gpat allua au, an
plt’s Mandl kimp inner, trog afn Buggl a Pur Ho u lz und an Raifuas und drp°
a Sackl p°gabund’n, in uaner Hond hot’s an Steckn, in dr pnd’rn an Ze^gger.
’s Baierl ist wo u ll taigelisch drschro u ck’n und aughupft. Ob’r ’s wor neH va
Schrickbichl. Sou hpt’s ampl gschaug, wos de*s Mandl p“fpngen weart. ’s Mandl
i 5 hot ampl ’n Ze’gger ausgappekt. Zelm ist drin g’wes’n ampl a Hpf’n vo u ll Rahm,
npehr Schmolz und ZintheHzer und Houblschqat’n. Xpchr zuichfr nou a Pfpnn
aus’r und zwpa Le ! fTI. Npch’r geat’r af’n Tennen mitt’it unt’rn Strpa und Hai,
deH dp umanpnd’r lig, a Fui’r o°mpch’n. — „Wos tuast a de’nn?“ schrait’s
Baierl ui, „Bista npret?“ — D’r pnder heart nicht. Schuan hpt’r a groaßes Fui’r.
20 Ob’r ’s brinnt nicht o n . ’r stellt n Raifuas afn Fui’r aui, tuat die Pfpnn drau,
wirft Schmolz inni und lot’s drgian. Noch’r schittet’r Rahm inni, riart und sa n t
Mehl inni und ko u cht a Rahmmuaß. Wiar feHti ist, hpt’r ’s ogato n und schrait
aui: „Gpa or und iß mit !* 4 ’s Baie.rl ist wo u ll ui gongen und hpt mitgessn. —
Guat is gwes’n. — ’s hpt lai a sou gapatscht. ’s Mandl hpt gor kua Wert! gspg,
25 ’s Baierl a neH. Wia sa ferti wpr’n, ist’s Baierl mearamol aui gpng’n und’s Mandl
hot sai n Zuig zommagappekt und ist awek gpng’n. ’s Tou’r ist allua zuagpng’n
und die Stitz hpt si allua aui galnant. Oft’r en Wail hpt’s mearampl gaklumpert.
Nouampl ist’s Mandl keHne*n und hpt Rahmmuaß gakoucht und nou a dritts mpl.
Wia sa ’s drittmpl gess’n hob’n, hpt’s Mandl pllawail gschnufflt und die Aug’n
30 ausgariblt. Wia sa gess’n heHt’n, hpt’s o n gfong’n za rearn und za bler’n und hot
gspg: Draimpl hpn i diar zess’n geb’n und du hpst neH uampl v’rgeltsget g’spg.
Sou muas i sou Ipng umanpndr gian und im Fegfuier laid’n, bis miar ua c s Yer-
geltsgyt spg . 44 Und npch’r is a schlaini v’rschwunt’n. — ’s Baierl ob’r hpt
z’morgest gonz waißa Hpr kop. —
Anmerkungen: o u. e = geschlossener Vokal; p u. e = offen; o« = genäseltes o:
oii us\fc Diphtong, o u gef. Vokal. Z. 2 Mprket Markt. Z. 4 uadlez einzeln, einsam.
Z. 7 wo u ll wohl: Dill Diele, Tenne. Z.S Lptt Latte, Stange; firgaton vorhingestellt.
Der Sinn ist: Der Bauer hat das Tor mit einer Stange gestützt, damit es nicht zu
leicht aufgelht. Z.10 taiflisch gewaltig; Timbler Schlag. Z. 12 Pur Bündel; Raifipaß
Dreifuß. Z. 13 Zeigger aus Stroh geflochtene Handtasche. X 14 Schrickbichl soll eine
Fraktion (kleines Dörfchen ohne Kirche, aber mit Schule und Vorsteher) iu Eppan
(Überetsch, zwischen Bozen und Kaltem) sein Z. 17 Hpublschpat’n Hoelspäneb;
zuicht’r zieht er. Z. 19 npret närrisch. Z. 23 Rahmmuaß Rahmmuß, eine Speise, die
m. W. nur in Proveis und den umliegenden Almen bekannt ist und als seltener Lecker¬
bissen gilt. Am Johannistag (24. Juni) bekommen es die Hirten. Sie wird aus Rahm,
Mais und Weizenmehl bereitet, ogatpn vom Feuer gestellt. Z. 25 gapatscht ge¬
schmatzt (?) Z.27 awek weg; Stitz Stütze. Z. 28 gaklumpert gelärmt (?) Z. 30 gschnufflt
geschluchzt (?) Z . 31 rearn und blern weinen [Steigerung]. NB. Die Ausdrücke patschn,
klumpern u. a. haben in der Schriftsprache kein deckendes Wort, r^ar'n ist stilles
blefn lautes Weinen, vgl. blärren.
Graz.
Josef Gamper.
Kleine Mitteilungen.
189
Etwas vom Abtritt.
Bequemlichkeit und Rücksichtnahme auf die Mitmenschen schufen den Abtritt,
entweder als kleinen Raum im Wohnhause oder als einzelnes Häuschen.
Das ‘heimlich Gemach 1 bezeichnet nicht immer den Raum innerhalb des Hauses,
denn nach Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (11(14—1475), Bibi,
d. litter. Ver. in Stuttgart LXIV, Stuttgart 1*62, hat der städtische Baumeister alle
Jahr ‘die gemeinen [öffentlichen] heimlichen gemach, die auf der Pegnitz sein do
die mann und frawen auf geen’ ausräumen und säubern zu lassen. Umgekehrt befand
sich in Zürich das Sprach hus im 1. Stock des Hauses. Von der Laube führte ein
schmaler Flur zu ihm. Es befand sich über dem
an den Rückseiten zweier Häuserreihen hin¬
laufenden Egraben (Kloake). (A. Nüscheler-
Usteri, Das zürcherische Wohnhaus im 16. Jahr¬
hundert Zürcher Taschenbuch 1879, N. F.
2. Jg.) Die Literatur kennt nur diese 2 Arten,
die durch eine Tür oder wenigstens durch einen
Vorhang verschließbar waren 1 ). Gregor von
Tours berichtet im 6. Jahrhundert von einem
Priester, der auf dem Abtritt vom Schlage ge¬
rührt wurde, während sein Diener mit einer
Kerze yor dem durch einen Vorhang abgeschlos¬
senen Eingang wartete (J. Hoops, Reallexikon d.
germ. Altertumsk. Bd. 1J.
Beifolgendes Bild zeigt eine 6. AU. Es ist
ein Ausschnitt aus einer Handzeichnung der
AVickiana’ (Zürich, Zentralbibliothek, Mscr.
F. 12). Der Text sagt, daß der Mönch Baschi
Hegener am Morgen des lü Novembers 1561
in Rapperschwyl aufgestanden, ‘er zum heim¬
lichen gmach, ein notturfft halb zethun gangen’
und von der Magd tot liegend gefunden wurde.
Das ganze Bild zeigt den Mönch, wie er eine
vom Haus in den Hof führende Stiege hinunter
gestürzt ist und vor dem Abtritt liegt. Hier ist
ein Gemach überhaupt nicht vorhanden. Der
Abtritt mit einem zweilöcherigen Sitz steht an
der Wand frei im Hofe, hat ein kleines Dach
über sich, unter dem eine Raufe mit zerknitter¬
ten Halmen angebracht ist. Über den Inhalt der
Raufe gibt uns der schon genannte Nüscheler-
Usteri Auskunft. Im Sprachhaus des Züricher
Wohnhauses befand sich ein Vorrat von Mies
(Moos) oder dürrem Gras, später von Schrentz-
bappyr. (Nach Sanders-Wölfling, Handwörter¬
buch d. deutschen Sprache, 8. Aufl., ist Schrenz- Abtritt in einem städtischen Hof 1561.
papier — Löschpapier). Die Raufe mit dem
Heu. aber in einem geschlossenen Häuschen, dessen vordere Hälfte weggenommen
ist, um den Inhalt zu zeigen, finden wir auch auf einem Holzschnitt in Murner’s
‘Von dem großen Lutherischen Narren’ beim Abschnitt ‘Wie dem lut her sein leibfal
mit einem katzenschrei begangen wärt’. (Abbildung in J. Scheible, Das Kloster, 10.Bd.,
Stuttgart 1848, S. 185 und in Murners Deutschen Schriften hsg. von F. Schultz 9, 267.
1918i.
l ) Auf Pieter Bruegels Sprichwörterbild v. J. 1559 ist das heimliche Gemach,
ans dem zwei Insassen ihre Gesäße herausstrecken, wie ein Erker an einem Turm
angebracht (oben 25, 293 und 302 nr. 52. W. Fraenger, Der Bauern - Bruegel 1923
Taf. 26). Ähnliche Gestalt haben die ‘Danzker’ an den Deutschorclensburgen Liv¬
lands. (J. B.
Bad Nauheim.
Alfred Martin.
190
Schreinert, Huhn, Polivka:
Mine neue Variante zu Grimms Aliircken Nr. 115.
Zu dem Grimmschen Märchen „Die klare Sonne bringt’s an den Tag“. das
bekanntlich die Quelle zu Chamissos „Die Sonne bringt es an den lag“ abgegeben
hat, findet sieh im 2. Stück des 5. Bandes (Leipzig 18010 des „Museums des Wunder¬
vollen oder Magazin des Außerordentlichen“ (hrsgb. von J. A. ßergk und F. G. Baum¬
gartner) S. 1:221'. eine Variante, die von einem Mag. G e y c r eingesandt worden ist und
die in den von Bolte-Polivka herausgegebenen „Anmerkungen zu den Kinder- und
Hausmärchen“ (Lpzg. 1913—1918) Bd. 2, S. 531 11. nicht verzeichnet ist. Sie lautet
folgendermaßen:
Einem jungen Burschen wurde die Tochter eines wohlhabenden Bauers im Dorfe
wegen seiner Armuth versagt. Jener verschwand, und es vergingen mehrere Jahre,
während deren man durchaus nichts von ihm hörte. Endlich nach sechs Jahren
kommt er wohlgcklcidet zurück und findet seine Geliebte noch unverheiratet. Er
kauft sich bald nach seiner Zurückkunft ein Guth und alles hierzu nöthige Vieh
und Geschirr. Seine Wohlhabenheit wird allgemein bekannt, und ihm versagt man
nicht mehr das, was man ihm vor mehreren Jahren mit Stolz abgeschlagen hatte.
Die Trauung und alles ist vorbei, und er schläft in dem weichen Pflaum mit an¬
scheinender Ruhe. Die Morgensonne wirft ihren ersten Strahl durch die Bettvor¬
hänge, wo der bis jetzt unerkannte Verbrecher nichts von Gewissensbissen fühlt.
Kaum aber erreichten die Sonnenstrahlen dessen Gesicht, so fuhr er erschrocken
in die Höhe, wagte sich jedoch nicht aus dem Bette. So blieb er in der größten
Angst und Unruhe bis gegen den Mittag liegen, wo sein junges Weib herbeigeschlichen
kam, und sich um die Ursache seines Liegenbleibens erkundigte. — „Ach! die
Sonnenstrahlen, der Sonnenstaub! hat er’s doch gesagt, daß“ — hier wurde er durch
Geheul seiner Gattin, welche von ihrem Gatten nichts Gutes ahndete, unterbrochen.
Jeder Tag verdoppelte des Verbrechers Unruhe. Die Sache wurde laut, aber noch
lauter dadurch, daß ein gewaltsamer Mord eines Juden in den Zeitungen öffentlich
bekannt gemacht, und der junge Ehemann, welcher sich hie und da noch verdächtig
machte, eingezogen wurde. Er gestand sein Verbrechen sehr bald, und sagte unter
andern aus: daß der von ihm getödtete Jude, welchen er in die nächste Stadt hätte
fahren sollen, mit folgenden Worten hingesunken wäre: „Die Sonnenstrahlen, der
Sonnenstaub wird mein Rächer seyn“.
Berlin. Curt Schreinert.
Nachschrift. Bereits 1804, also zwei Jahre vor Geyers Aufzeichnung, erschien
aIs‘Bcyspiel von merkwürdigen Entdekkungen geheimer Verbrechen’ folgende Variante:
Ein Fleischermeister hatte sich mit seiner Frau zur Ruhe begeben. Der Mond
leuchtete ihnen so hell in die Augen, daß sie nicht einschlafen konnten. Dieses
gab Gelegenheit, daß der Mann sagte, erdenke jetzt an etwas, das er keinem Menschen
sagen könne. Diese Worte erregten die Neugier der Frau; und sie drang mit Bitten
und mit Versicherungen von ihrer Verschwiegenheit so lange in den Mann, bis er
ihr nachgab. 'Das Geld’, fing er an, ‘womit ich vor dreyßig Jahren meine Wirtschaft
anfing, nahm ich einem Reisenden ab, den ich todtschlug, um nicht verrathen zu werden.
Der Mond schien damals gerade so hell, wie er jetzt scheint. Da sagte der Reisende,
der Mond werde mich verrathen. Aber’, setzte der Fleischer lächelnd hinzu, ‘der
Mond hat es doch nicht gethan,’ — Nach einiger Zeit entstanden Mißhelligkeiten
zwischen beyden Eheleuten; die Frau offenbarte das Geheimniß, und der Mann
empfing seinen Lohn. — (Entdekkung und Strafe geheimer Verbrechen. Eine Samm¬
lung merkwürdiger Beyspiele der göttlichen Gerechtigkeit. Halle 1804 S. 1. — Ab¬
gedruckt von C.G.v.Maassen, Der grundgescheute Anticjuarius 1, 154. München 1922).
Auf beide Fassungen weist bereits der von mir zitierte C. W. Götzinger, Deutsche
Dichter 5 2, 53s hin.
Johannes Bolte.
Zur Pflege der Volkskunde in Oberschlesien.
Wir müssen mit Freude für unsere Wissenschaft seit dem großen Weltkrieg
ein wachsendes Interesse feststellen, an das vor 1914 wohl nur ganz wenige glauben
mochten. So ist denn auch in dem allerdings immer noch am stärksten bedrohten
Kleine Mitteilungen.
191
südöstlichen Winkel des alten Preußens, im Beuthener Lande, ein wahrhaft vor¬
bildlicher Aufschwung zu verzeichnen. Die ‘Heimatkundliche Bibliographie des
Beuthener Landes für das Jahr 1924’ von Alfons Perlick umfaßt nicht weniger als
19 Seiten und als erstes Heft der ‘Beiträge zur Heimatkunde der Stadt Beuthen’
ist schon wieder ein Heftchen von 19 Seiten erschienen, das recht beachtenswert
ist, da es annähernd 40 Sagen umfaßt. Läßt sich doch nicht verkennen, daß hier
neben all den gewöhnlichen Sagen vom ewigen Juden, von der Mahr, hier Mora,
von dem versunkenen Kloster auch ein eigener, besonders durch die Bergwerks¬
beschäftigung der Bevölkerung gegebener Ton durchklingt; so die Sage von dem
Auf hören des alten Silberbaus und dgl. mehr. Ganz eigenartig begegnen sich Fort¬
schritt und alte Vorstellung in der Sage vom verstorbenen Milchmann, der ge¬
spenstisch läutend zum Friedhof fährt, vielleicht weil in seiner Todesart irgend
etwas die Phantasie des Volkes anregte. Auch diese Sagen hat A. Perliek zu¬
sammengestellt. Daneben erscheinen noch zwanglose Mitteilungen des Beuthener
Geschichts- und Museums-Vereins und endlich als stattlicher Band ein ‘Jahrbuch
für Heimatgeschichte und Volkskunde’. So dürfen wir überzeugt sein, daß unsere
Wissenschaft in diesem so gefährdeten und bedeutungsvollem Grenzgebiet in treuen
Händen liegt und hier ihr Teil für die Erhaltung des Deutschtums beitragen wird.
Berlin. Eduard Hahn.
Zur slavischen Volkskunde.
I.
1. Neuere serbische Märehensaimnlnngeii. Aus der Zeitschrift Kica für
Volksüberlieferungen und Witz, die wir für die Anmerkungen der Grimmschen
KHM ausniitzen konnten, wurden die Erzählungen, größtenteils Schnurren, nun
selbständig herausgegeben Kicine price, 5 Hefte (Belgrad 1923), was um so
dankbarer zu begrüßen ist, da diese Zeitschrift auch in den südslavischen Biblio¬
theken eine große Seltenheit ist; vgl. meine ausführliche Besprechung in der Zs.
Slavia Bd 4. Die beste Anthologie der serbischen Volksmärchen besorgte neuestens
Dr. Vojislav M. Jovanovic, Belgrad 1925,16 und 382 S. Sie enthält 25*2 Nummern
aus den verschiedensten Sammlungen und Zeitschriften aus allen Ländern Südslaviens,
auch ans solchen Werken, die sehr schwer zugänglich sind. Durchweg sind die
Quellen gründlich angeführt, in den Anmerkungen der Ursprung jeder Erzählung,
auch das Datum ihrer Aufzeichnung. Sehr willkommen sind sprachliche, lexikalische
Anmerkungen, besonders bei den dialektischen Texten. Der Herausgeber hatte frei¬
lich fast ausschließlich ästhetische Zwecke im Auge, er wollte eine ‘Blütenlesek
kein ‘Herbarium’ vorlegen. Er ist sich bewußt, daß die prosaischen Erzählungen
großenteils nicht ganz treu wiedergegeben, sondern vielfach nur nacherzählt sind,
daß ihre Erzähler sogar nicht selten die Volkssprache wenig beherrschten, sie also
unrichtig Wiedergaben. Die Reinheit der Sprache war das leitende Motiv des
Herausgebers. Freilich mußten da nicht selten sogar solche Sammler ausgeschaltet
werden, die der Stolz der serbischen Literatur sind; machte sich doch die Forderung
stenographisch treuer Reproduktion erst sehr spät geltend. Man liest etwas be¬
fremdet da auch Texte aus dem südwestlichen Mazedonien, wo unstreitig kein
echtes Serbisch gesprochen wird.
Xovica Saulic gab den 1. Rand seiner serbischen Volkserzählungen heraus
(Belgrad 1926, S. 221, 221 Nummern). Für die Anmerkungen zu den Grimmschen
KHM benützte ich seine erste kleine Ausgabe (Podgorica 1922). Nun folgt eine
viel umfangreichere Sammlung. Leider suchen wir vergeblich irgend eine Be¬
merkung, wo und von wem er seine Erzählungen aufgezeichnet hat. Sie stammen
wohl alle aus Montenegro, wie das erste Bändchen. Es sind fast sämtlich kleine
Erzählungen, meist Schnurren, Anekdoten, Fabeln, einige Legenden u. a., vielfach
in einigen wenigen Zeilen. Wenig Märchen, z. B. vom weisen Mädchen zu Bolte-P. 2,
351 no. 94. Der Bartlose und die Riesen, S. 33 no. 32, 33 die Riesen überlistet,
teilweise zu Bolte-P. 1, 15* no. 20. Zur Geschichte vom Pagen der hl. Elisabeth
S. 39 no. 37, vgl. Cosquin, Etudes folkloriques 73 ff. — Polyphem S. 42 no. 38. —
Tierschwäger u. a. S. 48 no. 48 vgl. Kubin-Poli'vka, Podkrkonosi zäp. 578 no. 23,
Polivka:
1U2
hieran »»geschlossen zu Bolte-P. 2, 516 no. 11 *> — zu Holte-P. 1,398 no. 46 S. 59 1
no. 57. — 8. Gl no. 58 zur Legende von Üidipus-Judas. — S. 04 no. G*2 von der
Bezähmung der bösen Braut. — S. G8 no. G5 Das böse Weib und der Teufel,
macht den Mann zum Doktor. — S. 71 no. G7 Pepeljuga d. i. Aschenputtel, so heißt
der jüngste Bruder. Bolte-P. 1, 184. — 8. 75 no. G9 das dumme Weib, der Mann
sucht noch dümmere zu Bolte-P. 1, 339 no. 34. — S. 79 no. 76 zu Bolte-P. 1, 306
no. 91. — S. M ro. 78 Ilalbhühnchen Bolte-P. 1, 258. — S. 90 no. 80 Lügenmärchen
zu Bolte-P. 2, 509. — S. 91 no. 81 Kaiser und Abt. — S. 99 no. 93 Der Bauer
am Felde, sein Knecht und die treulose Frau zu Chauvin 6, 179. — S. 110, no. 107
die Frau zeigt dem Manne ihre List, er pllügt am Felde Fische aus, Chauvin 8, 69.
- S. 117 no. 121 Chauvin 8, 159, Wesselski M. d. Mittelalters 100, 222 no. 37. —
S. 121 no. 120 Der wahre Freund zu Petri Alfonsi no. 2. Weiter erzählt, wie der
Vater sein Vermögen vergrub, und seinem Sohne sagte, er soll sich an dem und
dem Nagel erhängen, vgl Chauvin 8, 93 no 65, 147 no. 146. — S. 146 no. 174 zu
Bolte-P. 3, 494 no. 217 (A 1 C 3 ). der Tote ist dann Gevatter, ladet schließlich den
Freund in sein „ewiges Haus u , Marter im Jenseits. — S. 152 no. 179 Vom reichen,
glücklichen und armen, unglücklichen Bruder, Einleitung wie Zs. f. Volkskunde 2. 21 e
(alban), Revue des trad. pop. 4, 530 no. 5. Der Arme findet endlich sein Glück,
von ihm geprügelt. Heiratet schließlich ein taubes Mädchen, darf nie sagen, sein
wäre das Vermögen, Archiv f. slav. Philol. 5, 69 no. 56, Köhler, Klein. Sehr. 1, 465.—
S. 161 no. 196 Die 3 Ratschläge des sterbenden Vaters: dem Gevater gieb keine
trächtige Stute, besuche nicht oft die Schwester, die Frau laß nicht viel arbeiten. —
S. 165 no. 201 zu Wesselski M. d. Mittelalters 227 no 39. — S. 167 no. 203 Ein¬
leitung zu Bolte-P. 1, 27‘» no. 24, weiter Archiv f. slav. Philol. 5, 20, Köhler 1, 432,
Sklarek 2, 194 no. 16. — S. 170 no. 208 vom Barbier, der dem König den Hals ab-
sehneiden soll, Köhler 2, 559. — S. 172 no. 209 zu Köhler 1, 394 no. 13, 407 no 1,
Bd.2, 340. — S.183—199 no.219 Tierschwäger, Drache, Adler, Ameise. Eingeschaltet
die Geschichte vom gelernten Jäger, Bolte-P. 2, 503 no. 111. — S. 199 no. 220 Meister¬
dieb, Schatz des Rhampsinit, Bolte-P. 3, 395, Kubin-Polivka, Podkrkonosi zäp. 621
no. 56. — S. 204 no 221 Schlange ans dem Feuer gerettet, sein Vater beschenkt
den Helden mit einem Zaubersäckchen, dieses umgewechselt für einen Stock, Mantel
und Tarnkappe, und so eine Prinzessin gehütet, die jede Nacht verschwindet, zu
Boltc-P. 3, 78 no. 33.
2. Mark Asadovskij: Skazki verehno-lenskogo kraja. (Märchen aus dem
oberen Flußgebiete der Lena.) Irkutsk 1925, XLV, 14t S. Der Herausgeber,
Professor an der histor.-philol. Fakultät in Irkutsk, hat im Sommer 1915 in den
Dörfern des oberen Flußgebietes der Lena eine sehr reiche Anzahl von Märchen
aufgezeiehnet, in einer Gegend, deren Besiedelung in die 2. Hälfte des 17., haupt¬
sächlich in das Ende dieses Jahrhunderts fällt. Er hat etwa 100 Erzählungen ge¬
sammelt. Leider ist die Hälfte davon in den Stürmen des Bürgerkrieges vernichtet
worden. In dem vorliegenden Hefte ist eine stattliche Anzahl, 22 Nummern, erzählt
von einer etwa 60-jährigen Greisin, gedruckt, ln der Einleitung lesen wir eine sehr
genaue Analyse dieser Märchen, besonders ihrer formalen Seite. A. s. Bemerkungen
sind sehr lesenswert, besonders wo er zeigt, wie die Individualität der Erzählerin
sieh geltend macht. Doch möchten wir seine Hochscbätzung dieser Erzählerin nicht
überall unterschreiben. Ihre Kunst ist bedeutend geringer als die anderer russischer
Erzähler, und ihre Technik zeigt einen unzweifelhaften Verfall in der Kunst der
Wiedergabe und Reproduktionsfähigkeit.
Zur \ ervollständigung der Anmerkungen zu den KHM der Brüder Grimm
wollen wir kurz die Nummern anfiihren, und hierbei noch aus anderen neueren
Sammlungen russischer Märchen die, welche von uns in diesem Werke nicht berück¬
sichtigt werden konnten.
No. 1 Einleitung: Maus und Sperling wirtschaften zusammen, Krieg der Tiere,
der Adler verwundet wie bei Afanasjev no. 125 b. c. f. Vasiljev Pamjatniki tatar.
nar. slov. No. 30a, b. Der Adler bringt den Helden zu seinen drei Schwestern, von
der jüngsten bekommt er endlich die Schlüssel, heiratet sie, und der Adler-Prinz
zieht weiter in die Welt, kommt zum unsterblichen Koscej, knüpft ein Liebesver¬
hältnis mit dessen Frau an, von Koscej geköpft. Die Frau setzt ihr Kind in einem
Fäßchen aus. Der Schwager des Adler-Prinzen erbeutet das Fäßchen. Der Knabe
sucht seine Mutter bei dem Koscej, und überredet sie ihn auszufragen, wo sein
Kleine Mitteilungen.
193
Leben ist, vgl. Bolte-P. 3,434. Hinzugefügt, der Knabe geht seinen N'ater suchen,
gräbt ihn aus und belebt ihn mit diesem Ei — Aus verschiedenen Motiven wurde
so ein neues Märchen geschaffen. — Xo. 2 zu Bolte-P. 2, 3M> no. 96, Kubin-
Polivka, Podkrkonosi 593 no. 2b, Sokolovy Skazki belozer. kraja 03 no. 42, Zelenin
Perm 292 no. 1. Smirnov Sbornik velikorusskich skazok no. 157, 234, 331.
Javorskij Pam. gal. nar. slov. 164 no. 64. Vasiljev Pani, tatar. 97 no. 32, wo auch
die Literatur angeführt ist. — No. 3 zu Bolte-P. 1, 322 no. 33. Smirnov Sbornik 29 1
no. 72, 314 no. 85. Zelenin Yjatka no. 30. — No 4 zu Bolte-P. 1, < 0 no. 68,
Sokolovy Sk. belozer. no. 1*25, Zelenin Perm. 337 no. 57, Yjatka 123 no. 30. Smirnov
Sbornik 141 no. 24, 292 no. 72. Javorskij Pam. 97 no. 36. Sbornik kavkaz. 6, 2,
S. 197 no. 2. Bd. 7, 1, 125-8 no. 2, S. 110. Bd. 10, 2, S. 319 no. 2. Kubin-Polivka.
Podkrkonosi no. 29, 116 S. 609. 684. — Xo. 5 von der treulosen Mutter anstatt
der Schwester, zu Bolte-P. 1,551, Kubin-Polivka, Podkrkonosi <00 no. lol,^ Zelenin
Perm. 4 2 no. 5, 273 no. 41, 304 no. 2. Yjatka 30 no. 6. Smirnov Sbornik 70 no. 7,
624 no. 229. Vasiljev Pam tatar. 14 no. o. 5a. — No. 6. Ein Jäger beim Trinken
am Barte gefangen, verspricht, wovon er zu Hause nichts weih, Bolte-P. 2, 329.
Die Schwester begleitet ihren Bruder, es folgt nun der Stoff von der treulosen
Schwester, wie no. 5. — No. 7. Zwei Prinzessinnen vom Winde entführt. Die
Magd entilieht, nach dem Genüsse von Äpfeln im Waide gebiert sie 3 Helden. Zu
Bolte-P. 2, 297 no. 91. Andere: Sokolow Sk. belozer. 190 no. 105, Zelenin Perm. 193
no. 22, 278 no. 43. Yjatka 170 no. 45,“239 no. 84 , Smirnov Sbornik 450 no. 160.
Kubin-Polivka, Podkrkonosi 677 no. 79. — No. 8. Eine Prinzessin auf einem
Schiffe, das bei einem plötzlich ausgebrochenen Sturm versinkt. Ein Soldat sucht
sie, weiter wie Grimm no. 91. Der Zwerg betrunken, wird vom Soldaten geköpft.
Er findet bei ihm 2 goldene Schlüssel zu geheimen Türen, hinter denen die
Prinzessin. Er bringt sie in einem Kahn zum Schiff, auf dem er gekommen ist.
Da erinnert er sich, daß er den von ihr geschenkten Ring am FMnster vergessen.
Das Schiff fährt vor seiner Rückkehr ab, der Kapitän will sich mit ihrer Rettung
brüsten. Der Soldat erleidet noch einen Schiffbruch, nach langem Irren nimmt
sich seiner ein Junge an, bringt ihn zu seinem Herrn, dort soll er das Haus und
den Garten hüten, nicht aber den Keller u. a aufsnehen. Dort findet er ein Hclden-
roß, gibt sich zu erkennen, der Herr beschenkt ihn noch, als er sein Schicksal
erfahren, mit einem Schwerte und einem Zaubertäschehen. So kommt er in^ die
Stadt der Prinzessin, als sie die Hochzeit mit dem Kapitän feiern soll. — No. 9
von dem goldene Eier legenden Vogel, Bolte-P. 1, 52* no. 60, Zelenin Yjatka 419
no. 134, Vasiljev Pani, tatar. 12 no. 4 (Bruchstück), Die Geschichte hat eine be¬
sondere Einleitung von dem Schicksal zweier Brüder, das Schicksal des unglück¬
lichen geprügelt, schenkt ihm eine Kopeika, mit dem er eine Ente kauft. — No. H».
„Das weise Weib“, unrichtig betitelt. Die Einleitung dem Stoffe vom dankbaren
Toen entnommen, der Knabe fährt zu Schilf mit seinen Onkeln in ein fremdes
Land. Er kauft ein Mädchen, das ihr Vater mit gebundenen Händen und ver¬
bundenen Augen führt. Das Mädchen mietet Arbeiter, die eine 100 Klafter tiefe
Grube ausgraben, bis zu eisernen Türen, hinter welchen Schätze und ihr Bruder
— ein Drache — ist. Dort liegt ein Ring auf einem Teller; wer ihn zuerst erlangt,
dem gehört sie. Mit diesem Ringe erbaut er ein Schiff und ein Haus. Bei der
Meerfahrt entführt sie ihr Vater. Der Held kommt zu einem Gehöfte, wo auf
jedem Pfahl ein Kopf steckt: ein in der Volksüberlieferung ungemein beliebtes
Motiv bei allen Völkern, z. B. Bolte-P. 3, 368, in der russischen Epik (Vs. Miller
Ocerki rusk nar. slov. 3, 265) wie im Kalevala (20, 315), Zelenin Perm. 534 no. 20,
Sokolovy Sk. belozer. 123 no. 66 u. a. in. Der Held bekommt das Mädchen, wenn
er sich dreimal verstecken kann, zu Bolte-P. 3, 365 no, 191, Zelenin Perm. 10
no. 1, 303 no. 1. Er verläßt sein Versteck, bis der Alte die Zauberbücher ver¬
brannt und den Spiegel zerbrochen hat. — No. 11 zu Bolte-P. 2, 454 no. 104a.
Sokolovy Sk. belozer. 9 no. 6, 219, no. 120, no. 146, Zelenin Perm. 285 no.^46,
416 no. 87, Yjatka 44 no. 9, 365 no. 117. Smirnow T Sbornik 188 no. 34, <35,
no. 283, 771 no. 301. Vasiljev Pam. tatar, 43 no. 13. Der Held kauft ein Kätzchen,
ein Hündchen und eine Spindel, aus der entsteht ein nacktes Mädchen, das ihn
mit einem Ring beschenkt. — No. 12. Zwölf Jungen aus der Tabakdose. Lin
Soldat befreit durch drei qualvolle Nächte eine verzauberte Prinzessin — zu Bolte-
P. 2, 330 — von ihr bekommt er ein Tischtuch, dieses umgewechselt für eine Tabaks-
Polivkii:
1114
do>e zu Boltc-P. 1, 4(5-1 no. 54. Der Soldat bewirtet den Zar und sein ganzes
Heer, der Zar kann nicht ihn und seine zwölf düngen sättigen und verliert die
Wette. No. KJ zur Placidus-Legende, zu Bolle-P. 2, 2(54 Anmerk. Zelenin
Vjatka 1 19 no 29. Javorskij Pani. gal. nar. slov. 2<>, 2*5 no. 15. Wesselski M. d.
Mittelalters 121b *2 -(5 no. (7. Einleitung von den bei der Taufe verlobten Kindern.
— So. 14 zu Bolte-P. 1,50.4 no. 57 Javorskij 45 no. 23, Gnedic Materialv Heft 4,
b no .*>. — No. 15 zu Bolte-P. !, 27G no. 2t), Sokolovy 21G no. 118, 28G no. 154,
Zelenin Perm. 2vJ no. 45. 356, no. G4 Smirnov 795 no. -09. — No. IG. Das Weib,
ein Vampir, verzehrt Leichname auf dem Friedhof, verwandelt den Mann in einen
Hund, wird selbst dann von ihm in eine Stute verwandelt. S. Archiv f. slav. phil. 31,
2M no. 247, Chauvin G, 198 no. 371, Sachmatov Mordov. 371, Bleichsteiner, Kaukas.
Forschungen S. rüm. 141, Smirnov 503 no. 180. Hinzugefügt ein anderer Stoff:
das Weib kehrt nach Hause zurück, nachdem es von der Yerwandelung in eine
Stute befreit worden, bereitet mit ihren Schwestern einen Festschmaus vor, sie
zünden das elektrische (!) Licht an, stecken ‘Magnete’ aus, die Männer in die Stube
zogen. Die Hexen wollen ihnen die Köpfe abbauen. Doch sind zwei Lahme zu¬
gegen, der eine erzählt seine Geschichte bis zum Hahnenschrei, eine nicht uninter¬
essante Parallele zu den bekannten Motiven von der Bearbeitung des Flachses, Zu¬
bereitung des Brotes u. a, Bolte-P. 1,222, 331. — No. 17 Gespenstergeschichte
von einem grausamen Gutsbesitzer. Ein Soldat befreit ihn, kann ihn begraben, als
er das ganze, den Bauern abgenommene Geld unter diese verteilt hat. Sein Neffe
will ihm seinen Anteil abnehmen, veranstaltet ein Fest, der Gutsherr erscheint,
wieder und bewirkt, daß alles mit den Gästen in die Unterwelt versinkt bis auf
den Anteil, der dem Soldaten zugewiesen. — No. 18 eine mir unbekannte Geschichte
von einem Fräulein, das ihren Liebhaber in einen Koffer versteckt, wo er erstickt*
weiter von ihrem Verhältnis mit dem Kutscher, der betrunken mit ihr prahlt,
es soll jeder seine „Madam" in die Gesellschaft der Kameraden mitbringen. Das-
Mädchen zündet mit einein Brennglas (!) das Haus an, so daß alle verbrennen. —
No. 19 von der Wette um die Treue der Frau, A C. Lee Decameron 42 (2 Tag
no. 9), Sklarek 2, 299 no. 26, Sokolovy 34 no. 17, 22', no. 121. — No. 20. Von
der Braut des Räuberhauptmanns zu Bolte-P. L 370 no 40, Zelenin Perm. 380
no. 71 Smirnov Sbornik 391 no. 127, 445 no. 156, 642 no. 237, Gnedic Materialy
Heft 4, s 29 no 2. — No. 21. Eine Parallele zur Geschichte von dem unter¬
irdischen Gang zur Geliebten. Chauvin 8, 95 no. 87, Archiv f. slav. Philol 31, 265
no. 15. Sokoiovy 106 no. 60, Smirnow 886 no. 357, 118, Zelenin Vjatka 397*
Serov Novgorod. skazki 64 — die Episode mit dem unterirdischen Gang ist in den
großrussischen Versionen vielfach vergessen. — No. 22 zu Bolte-P. 2, 10 no. 61,
es sind da die Motive DBG 1 , daran ein anderes Motiv geknüpft: der Bursche hat
alle Geistlichen, die er überlistet hat, erschossen, ein Soldat bittet um Nachtlager
und trägt nun alle Leichen in den Fluß, eine Reminiszenz also aus dem franzö¬
sischen Fabliau, das sonst vollständiger erzählt wird, Arch. f. slav. Philol. 19, 256
no. 99, 29, 452, no. 340, 344.
3. Fregled na blgarskire narodni pesiii (Übersicht der bulgarischen Volks¬
lieder) Redigiert von Prof. St. Romanski. I. Sofia 1925 (Berichte des Seminars f.
slav. Philol. an der Universität Sofia Bd. 5), 16 und 631 S. — Unter Anleitung des
Prof. St. Romanski stellten die Mitglieder des Seminar f. slav. Philologie in Sofia
aus den zahlreichen, kaum irgendwo vollständig vorhandenen Sammlungen und in
vielen Zeitschriften zerstreuten Liedern ein Verzeichnis zusammen mit ziemlich
ausführlichen Auszügen ihres Inhaltes. Die Lieder sind stofflich gruppiert. Zuerst
kommen religiöse Lieder, die zu gewissen Feiertagen und Festen gesungen werden
(1—236, 10<s6 Nummern). Dann folgen mythische, über mythische Wesen: Heirat
der Sonne, Wilen u. ä., Drachen, Pest, Vampir (236—266, no. 1—90), Aberglauben
(268—281, no. 91—145), Legenden (280—362, no. 146—329). Der 2. Teil des
Buches enthält Lieder aus dem persönlichen Leben, fast durchgehends Liebeslieder
(S. 363—631, no. 683). Das Buch beschränkt sich auf vollständige Zitierung der
bulgarischen Quellen, auf Hinweise auf anderssprachliche Varianten, von nur slavischen,
besonders südslavischen, wurde abgesehen; natürlich entfielen Hinweise auf die
vergleichende Literatur. Nichtsdestoweniger sind wir sehr dankbar, daß durch
dieses Werk die Benutzung und Bearbeitung des bulgarischen Liederschatzes für
vergleichende Studien ungemein erleichtert wurde.
Kleine Mitteilungen.
195
4. Mark Asadovskij — Lcnskijc prnitanija Klagelieder aus dem Gebiet
der Lena) Sep. aus den Trudy Gosudarstvennogo instiluta narodnogo obrazovanija
v Cite (Arbeiten des staatl. Inst, der Volksbildung in Cita) Bd. L 1*21—248, 1922.
— Großrussische Klagelieder sind bisher in recht ungenügender Anzahl gesammelt
und herausgegeben, aus Sibirien ist dies die erste Publikation, ln der Einleitung
(S. 1—72) lesen wir eine Übersicht der ganzen einschlägigen Literatur und eine
eingehende Analyse dieser Klaglieder mit steter Rücksicht auf die schon bekannten
Lieder. Der Verfasser hebt stark hervor, wie die Persönlichkeit der Dichterinnen
sich geltend macht, wie die Lieder aus verschiedenen Gegenden sich unterscheiden,
nicht nur kleinrussische und weißrussische, sondern auch großrussische unterein¬
ander; in den sibirischen fehlt z. B. vollständig das religiöse Element. Sie sind im
ganzen ziemlich blaß und bringen nur den persönlichen Schmerz zum Ausdruck.
Es sind 08 Lieder von 38 Frauen abgedruckt, darunter auch Klagen über Rekruten
und in den Krieg ziehende Männer und Söhne. — Derselbe Gelehrte hat in dem
9 Band der Arbeiten der Professoren der Universität in Irkutsk 192') ein bibliogra¬
phisches Verzeichnis der sibirischen Volksüberlieferungen veröffentlicht (S. 143- 103).
5. Mark Asadovskij — Besed sobiratelja (Gespräche eines Sammlers). Zweite,
vermehrte Aullage. Irkutsk, 1925, S. 110. — Eine sehr lesenswerte Anleitung für
angehende Ethnographen. Der Verfasser zeigt ganz richtig, wie wichtig und not¬
wendig es ist, mit dem Sammeln aller Arten von Volksüberlieferungen fortzufahren,
ohne Rücksicht auf die schon jetzt schwer zu bewältigende Masse des Materials.
Alle Ausführungen und Ratschläge werden aus der Praxis anderer Sammler, wie
auch der eigenen reichlich illustriert, und in den zahlreichen Beispielen aus den
Volksüberlieferungen liegt auch für den Fernerstehenden der Reiz des Büchleins.
Besonders führt der Verfasser aus, wie im Liede, Märchen u. s. w. neue Vor¬
stellungen, Begriffe sich geltend machen, so z. B. ein Klagelied auf den Tod Lenins
aus dem Munde eines Mädchens aus einem Dorf 250 Werst von Irkutsk (35), oder
ein Faschingsfest, das den Gottesdienst ausführlich parodiert (50). Überall wird
gezeigt, wie tief die Revolution das Leben des Dorfes umgewälzt hat Natürlich
beziehen sich die Ausführungen des Büchleins auf Sibirien, es wird nachgewiesen,
wie wenig dieses Land noch erforscht ist, und wie hohe Zeit es ist, diese Forschungen
energisch zu betreiben.
6. Sibirskaja Zivaja Starina. Sbornik statej po obscemu krajevedeniju i
etnografii. Pod redakeijej M. K. Asadovskogo i G. S. Vinogradova. (Das sibirische
lebende Altertum. Eine Sammlung von Aufsätzen zur allgemeinen Heimatskunde
und Ethnographie.) Wypusk (Heft) 3 — 4 Irkutsk. 1925. 503 S. — Nachdem die
beiden führenden ethnographischen Organe, Etnograf. Obozrenije und Zivaja Starina
eingegangen sind, wecken umso größeres Interesse andere Publikationen auf diesem
Gebiete. Die ost-sibirische Abteilung der Russischen Geographischen Gesellschaft
ist vor einiger Zeit an eine Ausgabe dieser Studien in Sibirien gegangen. Uns liegt
nun ein stattlicher Band vor, dessen Inhalt reich und interessant ist. Wir wollen
die Aufmerksamkeit der Fachgenossen auf dieses Unternehmen lenken und es etwas
eingehender besprechen, da es kaum so leicht in Mittel-Europa zugänglich sein
wird. Aus dem Titel sehen wir, daß diese Publikation besonders der Heimatskunde
gewidmet ist. Es ist das eine Bewegung, die sich erst in den letzten Jahren in
Rußland geltend machte und in kurzer Zeit großartig anwuchs. Es hat sieh bereits
in Leningrad und Moskau ein Zentral-Bureau für die Heimatskunde gebildet, bisher
wurden schon zwei große Kongresse veranstaltet, zahlreiche heimatkundliche Ge¬
sellschaften und Museen gebildet, an 300 kleinere Gesellschaften und.40u Museen,
und diese Bewegung ist noch lange nicht beendet, fortwährend entstehen in den
verschiedensten Teilen Rußlands neue, nicht nur in den größeren Städten der
Gouvernements, sondern auch einzelner Kreise, ja sogar auch in Dörfern, es er¬
scheinen bisweilen in ganz kleinen Orten sogar Bücher, wie wir in dem einleitenden
Aufsatz vom Ende 1924 lesen. Auch in Sibirien ist diese Bewegung stark und die
ost-sibirische Abteilung der Russ. Geograph. Ges. gibt zu diesem Zwecke ein eigenes
Bulletin heraus. Im Januar 1925 fand ein solcher Kongreß in Irkutsk statt, und
fast die Hälfte dieses Bandes bringt Protokolle seiner Sitzungen (S. 241—414).
Natürlich umfaßt das Programm der Heimatskunde alle Wissenschaften, die zur
näheren Kenntnis der Heimat, ihres Bodens u. s. w., sowie ihrer Bevölkerung bei-
19(J
Kuziela, Findeiben:
tragen. Gleichzeitig wurde auch eine kleine Ausstellung veianstaltet, auf der auch
die Ethnographie vertreten war. Interessant war besonders eine Sammlung von
Kinderzeichnungen, von denen das Heft eine Anzahl reproduziert, in der 1. .Ab¬
teilung lesen wir einige Aufsätze, die allgemeineres Interesse wecken, ln einem
Artikel zum Andenken an den Dekabristen Nikolaj Bestuzev sind 3 burjatische
.Märchen abgedruckt: S. 30 zu Bolte-P. 2, no. dl (Motive E 1 , G 2 und H), S. 31 zu
Bolte-P. 2, 3U0 no. 91 (Motive B 1 , DE), S. 39-40 eine entfernte Parallele zu Doktor
Allwissend, Bolte-P. 2, 401 no 93- Angeknüpft eine andere Geschichte von der
zauberischen Frau, die ihre Freier tötet, der Doktor hört zufällig das Gespräch
einer Kuh und eines Stiers, die sich in Menschen verwandelten, der Todkranke
könne gesunden, wenn ihr Ring an seinen Finger gesteckt wird. Der Alte läßt sie
in 6u Stücke zerhauen und verbrennen und steckt ihren Ring dem Kranken an.
Es folgt noch eine dritte Geschichte, eine Version des bekannten Stoffes von der
Indankbarkeit der Menschen, die Schlange aus dem Feuer gerettet, Hund, Pferd,
Fuchs (Bolte-P. 2, 4:0). — Recht nierkwüidig sind einige Lieder, in die bereits
die neue politische Terminologie eingedrungen ist, so in ein ehemaliges Weihnachts¬
lied (S. 41), anstatt das Haus des Zaren heißt es nun „sovetskij dom u das Haus
der Räte, überhaupt werden diese Weihnachtslieder stark vergessen (S. 47 f). Sehr
interessant ist ein Klagelied auf den Tod Lenins aus dem Januar 1924 aus einem
235 Werst von Irkutsk entfernten Dorfe, es ist freilich unter Einfluß der s. g. Kom-
somolci, d. i. der Organisationen der Kommunistischen Jugend, entstanden
(S. 50 f. s. o.). Ferner wird die Aufmerksamkeit dem Kinder-Folklore zugewendet,
besonders den Spottliedern der Kinder (S. 05—106). Außerdem sind da abgedruckt
einige Aufsätze zur Ethnographie der Burjaten, Jakuten und Goloden (S. 113—130,
137—144, 145—160).
7. ivnn D. >R»mnov — La Science franeaise et le A^eda Slave. S. A. aus
dem Sbornik gewidmet dem Andenken an Louis Leger. Sofia 1924 70 S. — Im
Anschluß an einen Aufsatz im 25. Bd. des Archiv f. slav. Philol. „Glück und Ende einer
berühmten literarischen Mystifikation, A^eda Slovena“ (580—611) wird auf Grund
authentischer Nachweise genau geschildert die ganze Polemik, an welcher in her¬
vorragender Weise französische Gelehrte bis auf L. Leger neben einigen slavischen
Anteil hatten.
Prag-Weinberge. Georg Poh'vka.
11 .
Jakiv Pavlovyc Novyckyj *f\
Im Sommer des vorigen Jahres starb der bejahrte und bekannte Ethnograph
und Geschichtsschreiber des Katerynoslaver Gebietes Jakiv Pavlovyc Novyckyj.
J. Novyckyj gehörte zu der alten Generation der ukrainischen Ethnographen und
Lokalhistoriker und tritt zum ersten Male in den von M. Drahomanov im Jahre 1875
herausgegebenen “Kleinrussischen Volksüberlieferungen und Erzählungen’ (Malo-
russkija nar. predanija i razskazy) auf. Seither hat er jährlich zahlreiche Arbeiten
und Materialien aus dem Gebiete der Ethnographie und der Lokalgeschichte des
Katerynoslaver Gebietes in ‘Sbornik Chafkovskago Istoriko-Filologiceskago Obscestva’
(z. B. Bd. VI), ‘Letopis' der Katerynoslaver Archivkommission, ‘Kievskaja Starina’,
‘Ekaterinosl. gubernsk. A^edomosti’ und anderen Sammelschriften und Zeitschriften
veröffentlicht. Als Resultat seiner zwanzigjährigen (1875—1894) Sammeltätigkeit
ist im Jahre 1894 in Cbarkov ein stattlicher Band historischer A^olkslieder (Malo-
russkija pesni, preimuscestvenno istoriceskija) erschienen (2. AuÜ. 1908). Aus seiner
Feder stammt noch eine Monographie v über Alexandrovsk und eine Reihe von
pädagogischen Artikeln in 'Narodnaja Skola’, ‘Russkija A r edomosti’ und anderen
Zeitungen und Zeitschriften. J. Novyckyj war korrespondierendes Mitglied der
Allukrainischen Akademie der AVissenschaften in Kiev.
Charl otten bürg.
Zeno Kuziela.
Kleine Mitteilungen.
197
Die ‘Ethnographische Gesellschaft' in Kie\.
Im vorigen Jahre wurde in Kiev die "Ethnographische Gesellschaft’ gegründet,
die es in kurzer Zeit verstanden hat, die ukrainischen Ethnographen zu organisiert n
und zur Mitarbeit heranzuziehen sowie eine sehr rege und umfangreiche Tätigkeit
zu entwickeln. Die neue Gesellschaft hat bis jetzt eine Reihe von Zusammen¬
künften abgehalten und mehrere öffentliche Diskussionen und Voitiäge verunstaltet.
Um jüngere Kräfte heranzubilden, hat sie begonnen, besondere Aufklärungsschriften
und kommentierte Fragebogen v (bis jetzt 3 Hefte, als letztes ein A olkskalonder
über die Osterbräuche von A. Snl’hina: Narodnij kalendar, velykdeh. Kiev 19*25,
25 S.) herauszugeben, ständige Referate über die westeuropäischen (besonders
deutschen) Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Volkskunde zu veranstalten und
praktische Kurse für Sammler der ethnographischen Materialien einzurichten. Der
erste v Kursus wurde Mitte April eröffnet und von 7 Professoren und Lektoren (u. a.
Prof.Seerbakivskyj, Hancov, Kvitka, Onyscuk) geleitet. Im Programm waren u. a.
folgende Vorträge enthalten: 1. Der gegenwärtige Stand der ethnographischen
Wissenschaft und ihre wichtigsten Aufgaben; 2. Sammeltechnik der ethnographischen
Nachrichten; 3. Technik der ethnographischen Zeichnungen und Photographien;
4. Erforschung der besonderen Gebiete der Volkskunde: Sprache, Lieder, Musik,
Ernährung, Wohnung, Kleidung, Ornamentik. \ olkskunst, Sitten und Bräuche,
Aberglaube, Verkehr, Volkstechnik usw.; 5. Sammlung von ethnographischen Ob¬
jekten für die Museen; (>. Neue Sitten und 7. Über die Organisierung und Führung
der ethnographischen Exkursionen, Vor kurzem ist die Gesellschaft auch mit eigenem
wissenschaftlichen Organ ‘Zapysky’ (Mitteilungen der Ethnographischen Gesellschaft,
Kiev 1925, I.) hervorgetreten,* in welchem eine Reihe von interessanten Abhand¬
lungen veröffentlicht wurde (z. B. Onyscuk, Über die monographische Behandlung
des Dorfes; Hancov, Über die Aufgaben der ukrainischen Dialektologie: Rychlik,
Über tschechische Kolonien in der Ukraine; Kvitka, Aus dem Gebiete der ^ olks-
musik; Dahkivska, Über Opfergebäck usw.).
Charlottenbürg. Zeno Kuziela.
III.
Dem Gedächtnis N. F. Katanows.
Soweit der Unterzeichnete gesehen hat, ist man in Westeuropa stillschweigend
über den Tod Nikolaj Fjodorowitsch Katanows hinweggegangen. Diese Tat¬
sache hat ihren Grund natürlich darin, daß der Verstorbene die meisten seiner
Arbeiten in russischer Sprache veröffentlicht hat. Die A ölkerkunde aber sowie die
Sprachwissenschaft haben in Katanow einen ihrer bedeutendsten Förderer verloren,
und wir, die wir uns mit der Völkerkunde Rußlands und Sibiriens beschäftigen,
gedenken voll Trauer des Verewigten, dessen vielseitige Interessen und dessen un¬
geheure Arbeitskraft uns mit so vielem Neuem aus dem Gebiet der ostrussischen,
sibirischen und ostasiatisehen Völkerkunde bekannt gemacht haben. Nach dem
Tode Radloffs war Katanow die führende Persönlichkeit besonders in der \ ölker¬
kunde der Türkstämme, und während Radloff sich in seinen späteren Jahren fast
ausschließlich mit sprachwissenschaftlichen Problemen beschäftigte, so zeigen Katanows
Arbeiten einen größeren Interessenkreis auf, in dem wohl die Sprachwissenschaft
ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt, aber auch die Literaturkunde, Geschichts¬
wissenschaft, Ethnographie, Archäologie und Museumskunde bis zuletzt berücksichtigt
erscheinen. Burjatische Gelehrte, die in der heimatlichen Volkskunde eine bedeutende
Rolle gespielt haben, sind schon verschiedene bekannt geworden; Katanow ist neben
Käsern Beg einer der ersten Tataren, der es in der modernen Wissenschaft zu
internationalem Ansehen gebracht hat.
Am 6. Mai 1862 wurde er im Gouvernement Jenissejsk geboren, und nachdem
er das Gymnasium zu Krasnojarsk besucht hatte, bezog er die Orientalische Fakultät
der Petrograder Cniversität (Arabisch-persisch-türkisch-tatarische Abteilung). Nach¬
dem er diese beendet hatte, wurde er von der Russ. Geogr. Ges. und der Akademie
•d. Wiss. zum Studium der Türkstämme Sibiriens und Chinas ausgesandt, durch¬
forschte auch Chinesisch-Turkestan und blieb bis zum 1. Januar 1893 auf Reisen.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925 , 26 . 14
198
Fi n deisen:
Das J ihr 1893 wurde zur Verarbeitung des gesammelten umfangreichen ethno¬
graphischem und sprachlichen Materials sowie zur Vorbereitung auf das Magister¬
examen verwandt. Am 9. Nov. 1893 wurde Katanow zum Lehrer der östlichen
Sprachen an der Universität Kasan ernannt, und von Anfang 1891 war Kasan sein
ständiger Wohnsitz. Von dort aus unternahm er dann weitere wissenschaftliche
Reisen in das Gebiet von Minussinsk in den Jahren 1890, 1899 und 1909, in das
Gebiet der Baschkiren (Gouv. Ufa) in den Jahren 1897 und 1898, nach Innerrußland
im Jahre 1911 und im Jahre 19(10 ins Ausland. Der Tod am 10. März 19*22 riß
den Sechzigjährigen mitten aus seiner Arbeit, seinen Plänen und einem tätigen und
frischen Leben.
Die Zahl der gedruckten Arbeiten Katanows beträgt über 380, doch ist sein
handschriftlicher Nachlaß ebenfalls sehr umfangreich. So sind z. B. noch 30000 Seiten
in 4 0 von seinem sprachlichen Material vorhanden, das er auf seinen Reisen ge¬
sammelt hat. 1049 Seiten umfaßt auch sein - Versuch zur Erforschung der Urjangchai-
Sprache, mit dem Nachweis der hauptsächlichsten Verwandtschaftsbeziehungen
zu den anderen Sprachen des Türkstammes u (russisch), Kasan 1903 Neben dem
Magistertitel erhielt er (im Jahre 1907) auch den Titel eines Doktors der ver¬
gleichenden Sprachwissenschaft honoris causa von der Universität Kasan. 34 Arbeiten
Katanows behandeln volksliterarische Fragen, Sagen, Märchen, Lieder usw. der
Tobolskisehcn, Minussinskischen, Kasanskisehen usw, Tataren, aber auch Arbeiten
über die gedruckte Literatur, besonders der Wolgatataren, sind vorhanden.
22 Arbeiten gehen den Sitten und Gebräuchen der verschiedensten Türkstämme
nach, der Volksmedizin der Baschkiren und der getauften Tataren des Gouv. Ufa,
dem Frauenschmuck der Tataren usw. Historische Studien sind ebenfalls 22 vor¬
handen, darunter Zugänglichmachungen tatarischer Geschichtswerke über Kasan und
das Bulgarenreich, chronologische Untersuchungen, Referate und die redaktionelle
Tätigkeit an dem Werk -Die Sagen über den Beginn des Kasaner Zarenreiches^,
Kasan 1902.
Archäologischen Inhalts sind gleichfalls 22 No. seiner Druckschriften. Vier
Aufsätze über östliche Metallspiegel, Mitteilungen über Neuerwerbungen der Kasaner
Ges. f. Arch., Gesch. u. Ethnogr. u. a.
Die literarische Arbeit bildete jedoch nur eine Seite der Tätigkeit Katanows;
an der Universität las er Tatarisch, Türkisch, Arabisch und Persisch, Arabische
und Allgemein-Tatarische Literatur sowie Geschichte der türkisch-tatarischen Völker
An der Kasaner Östlichen Musikhochschule las er seit 1919 über die Geschichte
des Liedschaffens bei den türkisch - tatarischen Völkern. Seine Stellungen als
Sekretär und ^ orsitzender der Kasaner Ges. f. Arch , Gesch u. Ethnogr., als Museums¬
leiter, im Kriege als Zensor usw. usw. waren ebenfalls mit einer Menge Arbeit
verknüpft. Mit besonderer Hingabe war Katanow für das Kasaner Museum tätig,
und die vielseitigen musealen Aufgaben wußte er ebenso zu meistern wie die
anderen, die an ihn herangetreten waren.
Katanow war auch selbst ein bedeutender Sammler, und seine Sammlungen
gehen bis in das Jahr 1888 zurück, wo der Grundstock seiner Bücher- und Karten¬
sammlung entstand. Gegenstände aus der Bronze- und Eisenzeit der Abakansteppe
kamen in den Jahren 1890, 1899 und 1909 in seinen Besitz. Ethnographica. wie
Fausthandschuhe, Schamanentrommeln. Schamanenröcke, Messer, Feuerstahle usw-
gelangten in das Kasaner Heimatmuseum. Silber- (954 No.) und Kupfermünzen
(317 No.) der Chane der Goldenen Horde (XIII.—XIV. Jhdt) konnte er bei seinem
Besuch Bulgars sammeln, und von der großen Reise durch die Mongolei, Dsungarei,
lli und Chines. Turkestan (1888—1892) konnte er viele chinesische Münzen der
Dynastien Yüan, Ming und TsO'ng (XIII.—XIX. Jhdt.) heimbringen und sie dem
Asiatischen Museum in Petrograd überweisen Der größte Teil seiner Bücher-
sanimlung (3600 Bände) gelangte im Jahre 1912 in die Türkei. Gegen 2500 Bände
sind noch in Kasan. Farbenlithographien (Wandschmuck der Tataren) sowie geogra¬
phische Karten des XV.—XV1H Jahrhunderts bildeten ein weiteres Feld der
Sammeltätigkeit des Gelehrten.
Es soll hier jetzt nicht näher auf das Schaffen und Leben Katanows einge¬
gangen werden; es sei nur noch gesagt, daß auch seine menschlichen Eigenschaften
so liebenswürdig waren, daß er als Gesamterscheinung zu denjenigen Menscheu
gerechnet werden muß, deren Dasein allen denen einen bleibenden Gewinn ver-
Kleine Mitteilungen.
199
schallt, die mit ihnen in Berührung 1 gekommen sind. Er war nicht nur ein hervor¬
ragender Gelehrter, nicht nur ein unendlich fleißiger Forscher, Schriftsteller und
Museumsmann, sondern auch das Beispiel eines edlen, hilfsbereiten Menschen.
Literatur: Katanow, Xeskolko slow o kazanskich kollekcionerach; Kazanskij
Muzejnvj Westnik, Bd. I, 19*2U, Xo. 7—8, S. 40. (Einige Worte über die Kasaner
Sammler; Kasaner Museumsbote.) — K. Charlampowic, Prof. X. F. Katanow (Nekrolog),
ebenda, Bd. III (1922), Xo. 1, S. IST—195. — Mit Bild und kurzer Bibliographie.
Berlin. Hans Find eisen.
Das Heimatmuseum der Stadt Kostroma an der Wolga 1 ).
Das museale Leben Rußlands ist in Westeuropa so gut wie gar nicht bekannt
und auch die Schätze, die die russischen Museen bergen, kennt man meistens
weniger als es angebracht ist. Museumspublikationen sind deshalb immer mit
Freuden aufzunehmen, denn für die Kulturwissenschaft, die beschreibende, histo¬
rische und vergleichende, bieten gerade die in den Museen aufbewahrten Materialien
die sichersten Grundlagen, deren Zugänglichmachung ja eine der Aufgaben ist, die
von den Museumsfachleuten neben der technisch - organisatorischen Seite ihrer
Tätigkeit und der Sammelarbeit selbst gelöst werden muß. ln Rußland ist man
augenblicklich sehr stark mit solchen Arbeiten beschäftigt 2 ), auch gelangen neue
Inventarbeschreibungen und Museumsführer zur Ausgabe, von denen einer im fol¬
genden besprochen werden soll. Es handelt sich dabei um eine neue Schrift des
Vorsitzenden der ‘Kostromer Gelehrten Gesellschaft zur Erforschung des Heimat-
gebietes’, Herrn W. I. Smirnows, der die ethnographische Wissenschaft mit einer
großen Reihe wertvoller Studien bereichert hat. Ich nenne von ihnen hier nur:
Aus den Problemen und Tatsachen der Ethnologie des Kostromer Landes (Arbeiten
der K. Gel. Ges , Bd. XXXIII, 1924, S. 134— 161) — Schätze, Pane und Spitzbuben.
Ethnogr. Skizzen aus dem Kostromer Laud (Arbeiten . . . Bd. XXVI, 1921) usw.
In dem vorliegenden Heft 3 ) erhalten wir nun eine dankenswerte Übersicht
über die Kostbarkeiten, die das Kostromer Heimatmuseum birgt. — Das Museum,
ein Dreietagenbau, enthält folgende Abteilungen: 1. eine naturwissenschaftliche
Abteilung, 2. eine vorgeschichtliche Abteilung, 3. eine ethnographische Abteilung,
4. eine Abteilung für Hausindustrie, 5. eine Waffenabteilung, 6. eine historische
Abteilung, 7. eine kirchenhistorische Abteilung und 8. eine Kunstabteilung.
Die Geschichte des Museums geht bis in das Jahr 1885 zurück, wo die Archiv-
Kommission gegründet wurde, von derSammlungen, hauptsächlich örtlichen Charakters,
herrühren. Im Jahre 1917 gelangte das Museum unter die Leitung der Kostromer
Gelehrten Gesellschaft, die ihre eigenen, seit 1912 bestehenden Sammlungen den
Mnseumssammlungen angliederte. Die Sammlungen des Museums für Hausindustrie
des Gouvernementszemstwo wurden als Hausindustrie-Abteilung ebenfalls dem sich
nunmehr schnell vergrößernden Hauptmuseum eingeordnet; dazu kamen noch einige
Sammlungen aus dem Naturwissenschaftlichen Museum des Gouv.-Zemstwo, die mit
den naturwissenschaftlichen Kollektionen der Gelehrten Gesellschaft die jetzige
Naturwissenschaftliche Abteilung bilden. Die letztere übergehen wir hier.
Die ältesten Spuren des Menschen im Kostromer Lande gehören dem Xeolith
an. Gefunden sind Pfeilspitzen, Messer, Meißel, Beile, Hämmer, Keile, Schaber,
Hacken usw. Seltener sind Knochengeräte. Die Fundplätze liegen in der Haupt¬
sache bei den Seen des Kostromer Landes. Keramik ist ebenfalls vertreten. Als
besonders erwähnenswert bezeichnet Smirnow zwei Hacken aus der Nähe des
1 Für die Erklärung verschiedener in keinem der gebräuchlichen Wörterbücher
aufgeführten Sachbezeichnungen bin ich Herrn Dmitrij Gaiworonskij zu herzlichem
Dank verpflichtet.
2^ Vgl. meine Übersicht über die in dem ‘Kasaner Museumsboten’ (seit 1920
erschienenen Arbeiten in: ‘Neue russische Literatur zur Kultur- und Völkerkunde’, ‘Asia
Major, Festgabe für Prof. Dr. F. W. K. Müller, Jg. 1925, Heft 2, S. 324-336.
3 Kostromer Staatliches Provinz - Museum. Kurzer Führer. Bearbeitet von
W. I. Smirnow. Illustriert von X. P. Beljaewa. Photographien von F. O. iwanskij,
Kostroma 1925. 23 S. Russisch .
14*
2(11)
Findeisen:
Dorfes Kumkow und Tschernnja Zawoda. Ein Steinbeil (Fatjanowo-Typ) ist vor
kurzem mit Scherben von feinen Ilundbodengefäßen bei dem Dorfe Gowjadinowo
gefunden worden. — Es ist fraglich, ob man im Kostromer Gebiet von einer be¬
sonderen „Bronzezeit 1, reden darf, denn nach Smirnows Mitteilungen hätte sich die
Bronze nicht lange gehalten, oder Bronzegeräte kamen zu einer Zeit auf, als auch
das Eisen schon zur Verarbeitung herangezogen wurde. Aber auch dann hörte die
Verwendung von Stein keineswegs auf. Eine spätere Kulturepoche wird durch die
‘Gorodischtschi' (Burgwälle; charakterisiert, von denen folgende angeführt seien:
Tschernozawodskoe gorodischtsehe. Karimowskoe gorodischtsehe, Minskoe g. u. a.,
deren Standort die Flußufer sind, denn auf den Flüssen vollzog sich wohl hauptsächlich
der Handelsverkehr. Gesondert steht das Warmiwinskoe Bogorodskoe-Beberinskoe g.
(an der Wetluga), wo man unter Mengen von Küchenabfällen zahlreiche Geräte aus
Knochen gefunden hat, dabei auch einige Bronze- und Eisengegenstände, wie Angel¬
haken, Lanzenspitzen usw. Ein Bronze-Idol von dort bildet Smirnow neben einigen
Knochengeräten ab. Diese Burgwall-Kultur gehört den ersten nachchristlichen
.Jahrhunderten an; einige Burgwälle reichen sogar bis ins b. nachchristliche Jahr¬
hundert. Weiterhin folgen die Hauptmenge der Kurgane (8. —14. Jhdt.), in denen
die Toten beigesetzt wurden. — Modelle von Kurganen und kleinen Gräbern geben
die notwendige Anschauung. Die Kurganbevölkerung im Kostromer Gebiet ist wohl
als zur finnischen Sprachgruppe gehörig zu betrachten, wie denn auch die vor dem
Erscheinen der Slawen vorhandenen Dorf- und Flußnamen finnische sind. Die
Kultureinllüsse, denen die Kurganbevölkerung ausgesetzt war, haben ihren Ursprung
in den verschiedensten Gebieten; so sind Einflüsse aus dem Kama-Gebiet, aus dem
Baltikum, Südrußland (slawische Altertümer), vielleicht auch byzantinische und
endlich sind viele Schmucksachen der slawischen Kriwitschen festzustellen. Einige
Bronzesehmucksachen aus Kurganen sowie eine Sichel und Äxte bildet Smirnow ab.
Die Ethnographische Abteilung wird auf S. 9—12 behandelt. Ziemlich
reichhaltig sind Trachten vertreten. Eine Vitrine enthält die Teile der tatarischen
Vorstadtstraeht und vier weitere Vitrinen die tscheremissischen Trachten des Kreises
Wetluga. Am Fenster angebrachte Diapositive erläutern die Kultur jenes finnischen
Volksstammes. Eine ganze Reihe von Vitrinen birgt alte russische Trachten aus
dem Kostromer Lande. Wir sehen die zwei Sarafanformen, den weiten aus etwas
grober Leinewand, mit Pelzkragen (Schugaj); daneben den schmalen mit Knöpfen,
vorn einem Ausschnitt, den man auch heutzutage noch manchmal antritft usw. Sehr
reichhaltig sind die Bestände an Spitzen und an bestickten Handtuchenden. Mit
Hilfe von geschnittenen Holztäfelchen bedruckte Leinwand (‘nabojka’; die Stempel
heißen ‘manery’) ist viel vorhanden, und die Stempel zählen nach Hunderten. —
Damit kommen wir zur Holzbearbeitung: Kämmen, Spinnrocken, Pfefferkuehen-
brettern, Salznäpfen, Spielzeug, Krummhölzern vom Pferdegeschirr, Waschbleueln
usw. Interessant ist die Bemerkung Smirnows, daß die Pferdekrummhölzer ‘Char-
kower’ genannt werden, ein Zeichen dafür, daß sie vielleicht vom Süden her Ein¬
gang in das Kostromer Land gefunden haben. Die breiten Unterteile von Woll-
kümmen sind mit komplizierten geometrischen Ornamenten oder szenenhaften Dar¬
stellungen geschmückt, Konturenzeichnungen von Teetrinkern, Kavalieren und Damen;
die Wetlugaschen, die besonders schmuck sind, mit Reiterfiguren.— Kleinere Samm¬
lungen von Birkenrinde, Lindenbast und Wurzel werk (Körbe, zylindrische Birken¬
rindegefäße, Bastkörbe usw.) sowie von Ton vervollständigen das Bild der Kultur¬
güter der Landbevölkerung. Unter den Hausmodellen sei besonders auf die Pfahl¬
bauten des Miskowsehen und Schungenschen Gebietes hingewiesen, wo wegen der
Frühlingsüberschwemmungen nicht nur Wirtschaftsgebäude, sondern auch Wohn¬
häuser auf Pfählen errichtet werden. Smirnow weist noch auf das Modell einer
großen Hütte aus dem Kowerninschen Lande mit zwei bewohnten Stuben sowie
einer ‘guten Stube’ hin.
Was das geistige Leben der Kostromer Landbevölkerung betrifft, so enthält
die Sammlung nicht viele Gegenstände, in denen sieh dieses spiegelt. Smirnow
sagt aber, daß trotz Krieg und Revolution, die in die Volkskultur viele neue Ele¬
mente hineingetragen haben, die Leute in den versteckteren Winkeln des Landes noch
immer nach ihren alten Sitten und Gebräuchen lebten, Besprechungsformeln an¬
wendeten, Volkslieder, Sagen und Legenden wie früher wüßten. — In einer Vitrine
brfinden sich z. B. ‘Hühnergötter’ und Ernteschlußgarben. Erstere bestehen aus
Kleine Mitteilungen.
201
einem Stein mit einem Loch und werden über die Sitzstange aufgehängt, als Schutz¬
mittel für die Hühner; die zweiten, aus Getreide geflochtene, Mann und Weib dar¬
stellende Figuren, bei der letzten Garl>e hergestellt. Abbildungen von beiden gibt
Smirnow bei.
Erzeugnisse handwerklicher Kunsttätigkeit zeigt die Abteilung für Haus¬
industrie. Diese Wirtschaftsform ist von großer Bedeutung für das Leben des
ganzen Kostromer Landes. Eine besonders hervorragende Stelle nimmt dabei die
Juwelierknnst ein, die in den fünf zusammenhängenden Amtsbezirken der Kreise
Kostroma und Nerechts blüht, und deren Mittelpunkt das Dorf Krasnyj ist; im
ganzen sind mehr als *2000 Hauswirtschaften darin tätig. Verarbeitet werden in
der Hauptsache Silber, Kupfer und Legierungen. Hergestellt werden Ringe, Uhr¬
gehänge, Denkmünzen, kleine Ketten, kleine Kreuze, Silbergeschirre usw. Die
meisten Sachen werden noch vergoldet und mit Gravierungen versehen, manche
emailliert, andere mit künstlichen Steinen geschmückt. Die einzelnen Entstehungs¬
phasen werden durch die Sammlungen gleichfalls vorgeführt, wie auch eine Karte
Aufschluß über die Verbreitung der einzelnen Handwerke in den Dörfern gibt.
Von besonderer Schönheit sind die aus der früheren Lehrwerkstatt hervorgegangenen
Arbeiten, die unter der Leitung tüchtiger Meister nach den Zeichnungen guter
Künstler angefertigt wurden. Die berühmte Hausweberei u. ä. des Gouv. Kostroma, die
sich auf der Grundlage der Hausweberei unter dem Einlluß der Manufaktur- (’Festungs- : ;
krepostnoj) Weberei des 18. Jahrh. entwickelt hat, ist im Museum durch gemusterte
Handtücher, grobe Leinewand, Rohleinewand, buntgestreifte Leinewand, Besätze,
Stickarbeiten und andere weibliche Handarbeiten vertreten, wie Plattstichnähereien,
Goldstickereien, Spitzenklöppeleien usw. Die Holzverarbeitung, die überall im Lande
verbreitet ist, liefert Löffel, Schalen, kleine Kellen, Lackarbeiten, Geräte und Möbel
aus dem Makarjewschen Kreis. Auch Böttcherarbeiten sind vorhanden. Holz¬
schnitzereien zu Kultzwecken und die Herstellung von Heiligenbildern müssen als
bedeutsam ebenfalls angeführt werden. Entwickelt ist auch die chemische sowie
die trockene Destillation des Holzes. — Überall im Lande ist die Korbflechterei
verbreitet, auch werden Korbmöbel, Reisekörbe u a. hergestellt. Bastschuhe werden
ebenfalls übeiall gearbeitet. Die Museumssammlungen erläutern die Stadien des
Herstellungsprozesses, ergänzt durch Photogramme, Keramischen Arbeiten widmen
sich im Kostromer Lande mehr als 1090 Personen, deren Erzeugnisse im allge¬
meinen einen ziemlich hohen Grad der Entwicklung aufweisen.
Die Historische Abteilung wird in der Hauptsache aus Stücken gebildet,
die besonders der Kultur- und Kunstgeschichte des 18. und 19. Jahrh. angehören.
Kleinere Gegenstände, wie Tabakspfeifen verschiedener Art. Pfeifenrohre aus
Vogelkirschholz und Knochen, Tabaksbüchsen, Schatullen, Kästchen und Kopf¬
schmuck bilden den Inhalt einiger Vitrinen. Gut sind auch die Sammlungen von
Perlenstickarbeiten: Geldbeuteln, Brieftaschen, Teeglasuntersätzen und die Samm¬
lung von Fächern, unter denen sich ein Exemplar aus dem LS. Jahrh. befindet, das
mit feinen Knochenschnitzereien und Brüsseler Spitzen verziert ist. Bemerkenswert
sind auch reiche Bestände von bemalten Kacheln mit Aufschriften aus dem 18. Jahrh.
In einer besonderen Vitrine befindet sich das Grundbuch von Kostroma aus dem
Jahre 1028 und ein ähnliches Werk aus dem Jahre 1064 — 05, worin das da¬
malige Kostroma und die Beschäftigungen seiner Einwohner genau beschrieben sind.
Dieselbe Vitrine enthält auch die Tintenfässer der Amtsschreiber des 17. Jahrh.;
aus dem 18. und 19 Jahrh. sind Monogramm- und Wappenstempel der Zunft¬
ältesten vorhanden. Eine weitere Vitrine enthält Kupfer- und Zinnsachen. Kupfer¬
römer, Humpen und ähnliche Trinkgefäße. Eine kupferne Wasserkanne in Form
eines Löwen bildet Smirnow ab. Gußeiserne Maße für Wein aus dem Anfang des
19. Jahrh. sind ebensowohl vorhanden wie eine schöne Kupfertür (vielleicht zu
einem Kamin) mit Reliefdarstellungen. Eine Vitrine ist der Schriftstellerin Ju. B.
Zadowskaja (Sewen) gewidmet. Daneben sind Freimaurerhandschriften und andere
Zeichen von deren Wirksamkeit vorhanden. — Möbel sind wenig zahlreich ver¬
treten, dagegen sind Porzellane aus England, Sachsen, Wien, Frankreich, dem Elsaß,
China und Japan neben guten russischen Stücken da. Das Modell eines Schafottes
sowie Peitschen, Knuten und Stempel für Brandmale ergänzen das Kulturbild, das
man sich auf Grund der Museumsmaterialien bilden kann, in erwünschter Weise.
Findeisen; Kleine Mitteilungen.
-02
Auf die kulturgeschichtliche Abteilung folgt die Waffe nsaminlung, die
mancherlei interessante Bestände, auch in ethnographischer Hinsicht, aufweist. Die
Anordnung der Materialien ist etwa chronologisch, mit Pfeil und Bogen beginnend;
Armbrüste, Schwerter und alte Hellebarden folgen. Von Sehutzwatfen sind vorhanden:
Ringpanzer, Helme, Schilde und zwei andere Panzer. Aus der Reihe der Feuer-
wallen sind vertreten: Feuersteinflinten und Zündhiitchenllinten. Eine Windbüchse
(Wiener Arbeit, 16. Jahrh.) sowie eine polnische Flinte mit Goldaufschrift, eine
andere, mit Gold eingelegt und arabischer Aufschrift, sind besonders wertvolle
Stücke. Ein schwedischer Kupferhelm aus dem Jahre 1689 ist ebenfalls vorhanden.
Auch die Pistolensammlung weist gute Stücke auf. Die Geschichte des Revolvers
wird in einer anderen Vitrine ziemlich eingehend dargestellt. Groß ist die Samm¬
lung von kalten Waffen, von denen Smirnow einen persischen Säbel und einen
japanischen aus Elefantenelfenbein erwähnt. Eine andere Sammlung veranschaulicht
die Geschichte der Gewchrbewaffnung der russischen Armee seit 1846; die Waffen
des letzten Krieges sind ebenfalls vertreten.
Schließlich sei noch auf die Kirchliche Abteilung eingegangen, während
die Kunstabteilung hier unberücksichtigt bleiben kann. Diese Abteilung, die ihre
eigene Geschichte hat, enthält gute Bestände von Heiligenbildern der verschiedensten
Maler und Schulen seit dem IG. Jahrh.; die Mehrzahl jedoch gehört dem 17. Jahrh.
an. Hervorgehoben sei das Bild des heiligen Christophorus mit einem Hundekopf
und das des klugen Räubers Chazdim. Große Marienglaslaternen aus dem Jahre
R*» 13 sind an derselben Wand angebracht. In Vitrinen befinden sich alte Minia¬
turen von Heiligen und auch zusammenklappbare kleine Heiligenbilder auf Holz;
in einer anderen drei kostbare Handschriften in einem großen kirchenslawischen
Duktus, reich verziert. Es handelt sieh um den „Godunowsehen“ Psalter (1594)
und zwei Evangelien (1603 und 1605), alle in prächtigen Einbänden. Ein alter
illustrierter Evangeliendruek liegt ebenfalls dort aus. In weiteren Vitrinen und an
der Wand sind alte Stücke russischer Stickerei zu betrachten, ein altes gesticktes
Heiligenbild der Dreieinigkeit (1603), ein Geschenk G. 1. Godunows, gestickte
Kirchenfahnen, Kelehdeeken, u.a. auch ein perlengestickterSchulterumhang (opletsche)
zu einem Heiligenbild, das dem Bogojawlenschen Kloster von dem Fürsten Pozarskij
geschenkt worden war. Gut vertreten sind auch kirchliche Schnitzereien, besonders
volkstümliche, wie die heilige Paraskewa Pjatnica, der Kopf Johannes des Täufers,
Christus im Gefängnis, Nikolai der Wundertäter u. a. Dazu kommt eine Dar¬
stellung des letzten Gerichtes aus dem 18. Jahrh. und geschnitzte Türen von der
Altarwand, die nur der Priester durchschreiten darf (carskie wrata), auch hölzerne
Kronleuchter. Eine besondere Vitrine enthält Steinbildnereien des 13. und 14. Jahrh.,
kleine steinerne taurische Kreuze, griechische Holzkreuze mit feinen Schnitzereien,
Muttergottesbilder Panhagion, russ. panagija) und verschiedene andere, z. T. mit
Silber verzierte Kleinigkeiten. Zwei Vitrinen enthalten Zinngefäße aus dem Gebiet der
Kostromer Eparchie: Kelche, Hostiengefäße (Ciborien. Russisch: daronosiey), Mon¬
stranzen und Heiligenschränke, auch eine kleine Glocke aus dem Jahre 1590. Weiterhin
seien genannt Bußketten, eine geschnitzte Darstellung von Christi Grablegung, eine
Sammlung von Abendmahlsdecken (Antimensien; russ. antimins) aus dem Anfang
des 17. Jahrh. und endlich Kupfergüsse, verschiedene Arten von Kreuzen. Heiligen¬
bildern und zusammenklappbare Heiligenbildchen. In zwei Vitrinen befinden sich
Ornate aus dem 17. Jahrh., Ornate aus Kattun, und schließlich sind in der Ab¬
teilung auch noch Hochzeitskronen vorhanden, darunter aus Wurzeln geflochtene,
solche aus Rinde und auch aus Holz geschnitzte.
Das Büchlein Smirnows, für das ihm alle an russischer Museums- und Kultur¬
arbeit Interessierten dankbar sein werden, enthält 42 Abbildungen, Zeichnungen
und Photogramme, Wiedergaben typischer und besonders wertvoller Stücke, worüber
wir um so mehr erfreut sind, als bekanntermaßen die eingehendste Beschreibung
eines Gegenstandes diesen niemals selbst oder eine Abbildung ersetzen kann. Wir
geben uns der Hoffnung hin, daß nunmehr nach Erscheinen des allgemeinen Führers
die Sammlungen der einzelnen Abteilungen des Museums eine systematische und
ebenfalls mit guten Abbildungen versehene Veröffentlichung erfahren werden.
Berlin. Hans Findeisen.
Besprechungen.
203
Besprechungen.
Viktor Geramb, Volkskunde der Steiermark, ein Grundriß mit 4 Karten und
46 Abbildungen. Wien, Haase. 7 2 S. (Heimatkunde der Steiermark, Heft 10).
Der Vorsitzende des steirischen Volkskundemuseums hat in diesem Büchlein
eine wissenschaftliche Einführung in die Volkskunde des ihm persönlich unter¬
stellten Gebietes gegeben, die wahrscheinlich darauf berechnet ist, die Bedeutung
dieser neuen und bis heute oft recht vernachlässigten Wissenschaft für die weiten
Kreise der engeren Heimat ins rechte Licht zu setzen. Die Steiermark ist ja räum¬
lich eine der größten Provinzen des deutschen Anteils des ehemaligen Großstaates
Österreich und zugleich eine auch jetzt noch, nachdem die fremdsprachlichen Be¬
standteile und darüber hinaus leider auch große andere Teile abgerissen sind, ein
außerordentlich vielseitiges Gebiet vom Hohen Dachstein bis zu dem schon in die
freie Ebene hinaustretenden Teil des Murtales, von den Seen des steiermärkischen
Anteils an Salzkammergut bis zu den Ufern der Save. Innerlich ist das Gebiet
dafür doch vielleicht einheitlicher; denn auch wenn wir die große Bedeutung der
steiermärkischen Eisenindustrie, die sich in der Hauptsache um den Spateisenstein
von Eisenerz dreht, in ihrer geschichtlich hohen Wichtigkeit vom Mittelalter bis in
die Neuzeit gebührend hervorheben, so sind doch die Verhältnisse Steiermarks
wesentlich auf Wald und Feld eingestellt. Hier hatte sich bis in die Neuzeit
hinein eine Kleinindustrie erhalten, die eigenartige, fast bäuerliche Verhältnisse
festhielt und dabei doch durch weite Räume Europas außerordentlich geschätzte
Äxte, Sensen und Sichelklingen schickte. Leider wurden aber durch die wirtschaft¬
lich ungünstige und unsichere Lage auch diese früher recht festen Verhältnisse
schon vor dem Kriege hier und da fast bedrohlich ausgestaltet. Lag doch auf den
deutschen Ländern im Gesamtstaat durch die eigenartige politische Entwicklung
eine viel größere Steuerlast, als die angeblich vom alten Österreich so ungeheuer
bedrückten und unterworfenen Slawen, Ungarn und Italiener sie zu tragen hatten.
Es ist nicht verwunderlich, wenn die Nachfolgestaaten in ihrer neuen Entwicklung
durch die Erkenntnis dieser ihrer früher für sie so viel günstigeren Lage erheblich
gehemmt werden, zumal die Ansprüche der neuen Nationalitätsstaaten, wie Wilson
sie so ungünstig geschaffen hat, mit den Lasten für Militär, Universitäten und dergl.
die ,Befreiten’ nun sehr viel stärker in Anspruch nehmen müssen, als es dem
Steuerzahler der Jetztzeit trotz alles Nationalstolzes gefallen kann.
Die erste der beigegebenen Karten stellt die Flurtypen dar. Sie gibt uns ein
großes Bild von der Verteilung der verschiedenen Formen des bäuerlichen Anbaus,
der hier durchaus überwiegt. Es hätte aber vielleicht zur besseren Vergleichung
eine Karte der Verteilung der Bevölkerung dabei sein können; denn bei der aus¬
gesprochenen Gebirgsnatur des größten Teiles des Landes ist natürlich die Einöds¬
flur, die auf dem Kartenbilde den allergrößten Teil deckt, zugleich ein Gebiet
außerordentlich dünner Besiedelung, ebenso wie es sich bei dem Dominika!- (Groß-)
besitz, der an der Nordgrenze so viel an Ausdehnung gewinnt, wahrscheinlich doch
nur um ungeheure Wald- und Jagdherrschaften handelt, die sogar noch eine
sinkende Bevölkerung aufweisen. Stehen hier doch oft genug viele Quadrat¬
kilometer nur unter einem Förster und einigen Wildhütern, Mit Recht klagte
daher der alte Peter Rosegger uns gegenüber auf das beweglichste: es würden
gar zu viele Bauernhäuser wegen der drückenden Steuern abgedeckt, die Bebauung
aufgegeben, und die Hirsche und Gemsen irgend eines Kapitalisten könnten dann
die so viel leichtere Steuerlast, die den Bauern erdrückte, ohne Beschwerde tragen.
Die 2, Karte, die gerade die im Nordteil zwischen dem Hochgebirge nur sehr
spärlich auf die Täler verteilten Siedelungen hervorhebt, gibt dann ein lebendiges
Bild ihres Auftretens in der Steiermark, bei denen aber Geramb vielleicht doch
noch ältere Anschauungen vertritt, als wir sie jetzt für das Kolonialgebiet z. B.
Ostdeutschlands mit guten Gründen aufstellen und als gültig ansehen. Ich möchte
die slawische Besiedlung nicht irgendwie unterschätzen, glaube aber, wir müssen
auf die eigentümlichen Verhältnisse achten, unter denen ,Slawen’ gegen Westen
vordrangen; stellt sich doch die slawische Welle des ältesten Vordringens als nicht
sehr bedeutend dar. Die Tschechen besiedelten z. ß. das Talgebiet der Elbe und
Besprechungen.
*J()4
Moldau, das die Markomannen leer gelassen hatten, wie mir scheint, in einem
einzigen Zuge und breiteten sich dann erst recht allmählich aus. Die eigentüm¬
liche Siedelungsform der Deutschen auf den Randgebieten, der Tschechen auf der
Ebene gegenüber, in der Weise, wie sie die jetzige Verbreitung der Sprachen, die
sich durchaus nicht immer mit der Stammeszugehörigkeit decken müssen, erklärt
sich so sehr gut. Vermutlich aber blieben unter den Tschechen hier, wie bei uns
im Osten Deutschlands, genug Deutsche sitzen, die dann die Überlieferung z. B.
der Gräber usw. an die neuen Nachbarn Weitergaben. Die Siedelung im übrigen
Teil der Steiermark zeigt aber doch recht eigenartig ein Abfließen der neuen Ein¬
wanderer von der Höhe in die Täler. Daß auch hier das obere Ennstal mit dem
verhältnismäßig einfachen Ebergang nach dem Tal der Mur und der Mürz und
die Mur hinab ungefähr den Verlauf des neuen deutschen Vorstoßes im Südosten
noch jetzt einigermaßen deutlich darstellt, mag vielen Slawen unbequem sein: das
Ergebnis wird doch stimmen. Hier mögen sich auch kleinere slawische Siedelungen
vorgefunden haben, vielleicht zersprengte Reste, die der hunnischen und avarischen
Flut in die Berge ausgewichen waren: aber von einer zusammenhängenden und
ausgedehnten slawischen Besiedelung im frühen Mittelalter ist auch hier ebenso wenig
zu sprechen, wie nach der neuen Auffassung im Nordosten Deutschlands davon die
Rede ist. Die Periode seit dem Auftreten der Slawen, von etwa 200 bis nur etwa
1000 n. Chr., ist aber für eine weitgehende geschichtliche Auswirkung viel zu kurz.
Der Teil, den Geramb am meisten ausführte und der ihm auch am besten
liegt, ist die folgende Abteilung ,llaus und Hof’. Hier wird dem Forscher viel
wichtiges Material für die Vergleichung mit anderen deutschen Landschaften ge¬
boten, so für die eigentümliche Entstehung des Ofens, die nach den Aufstellungen
Meringers so erfolgte, daß eine Mehrzahl Kacheln, also ursprünglich Gefäße, zum
Ofen zusammengesetzt wurde. Als sprachliches Zeugnis für diese Entwicklung
läßt sich anführen, das wir im Norden immer noch den ‘Töpfer’, im Süden den
‘Hafner’ als Gewerbe haben, während der Ofner uns fehlt. Aber ob wirklich
eine so durch und durch deutsche Einrichtung wie der Ofen, mit dem, wie das
englische c stove’ beweist, die deutsche Stube auf das engste zusammenhängt, nach
slawischem Muster ausgestaltet und eingerichtet sein soll, erscheint mir keineswegs
so unumstößlich sicher, wie es G., wohl nach dem sonst so verdienten Rhamm, zu
vertreten scheint. Besonders möchte ich noch darauf aufmerksam machen, daß die
so eigentümliche Einrichtung der Schwarzküche, in der der Herd zum Kochen sich
in einem nur durch künstliche Beleuchtung einigermaßen zu erhellenden Raum be¬
findet, sich nicht nur in allen alten Häusern Lübecks, sondern auch in dem kleinen
Örtchen Salzdetfurth bei Hildesheim findet, das etwa 1550 von braunschweigischen
Herzogen als Saline eingerichtet wurde, und hier sogar in den Pfännerhäusern, also
besseren Bürgern gehörigen Wohnungen.
Der nächste Teil, der vom volkstümlichen Gerät, ist außerordentlich dankenswert,
weil hier in einem alten Bauernlande, wie es die Steiermark so ausgesprochen ist,
auch zurückgebliebene Verfahren und deshalb alte Geräte in großem Umfange er¬
wartet werden dürfen und Vorkommen werden. Häufig wird nur der Forscher, der
darnach zu suchen versteht, die interessantesten Geräte aufzufinden wissen. So
finden wir z. B. eigenartige Übergänge zwischen den beiden Verfahren, entweder
den runden Kessel über das Feuer zu hängen, wie bei den Germanen und oft noch
bei den Deutschen, oder den Kessel wie bei den Romanen auf Füßen ins Feuer
zu stellen, indem hier ein eigentümlich ausgebildetcr Untersatz, der über dem
Feuer steht, den runden Kessel aufnimmt. Eine ganz besonders dankenswerte
Zusammenstellung bringt das Bild 38 über volkstümliche Press- und Stampfgeräte.
Wir selbst haben mit Erstaunen gesehen, welch ungeheure Rolle der Anbau des
Kürbis in den heißeren Tälern des Unterlandes spielt, wohin er wahrscheinlich
zugleich mit dem Mais gekommen ist und doch, wie es scheint, in der Er¬
nährung des Volkes nur als Ölfrucht eine Rolle spielt, während z. B. in Bosnien
unter ähnlichen Verhältnissen im Herbst ausserordentlich viel Kürbis gebacken
gegessen wird. Wir sahen hier, wie eine alte Bäuerin aus einem ungeheuren
Haufen Kürbisse nur die Kerne löste, die nach Geramb dann erst geröstet werden*
um schließlich aus ihnen das Öl zu pressen. Dieses grünlich-schwarze Kürbis-ö)
wird ähnlich wie das Leinöl für kurze Zeit als Delikatesse geschätzt: nachher
nimmt man es notgedrungen.
Besprechungen.
205
Wer einmal die Steiermark aufmerksam bereist hat, weiß, daß in ihrem Volk
ausgesprochene künstlerische Talente schlummern; kein Wunder, daß daher auch
in Gerambs Sammluugen sich alte und neue Dinge aus der Volkskunst erhalten
haben, unter denen er mit besonderer Betonung ein Paar Ölkrüge aus dem 10. Jahr¬
hundert abbildet, auf denen Ornamente, die auf prähistorischen Gefäßen genau so
Vorkommen, doch vielleicht auf ältere, bisher kaum erkannte Zusammenhänge
deuten. Für die Nahrungs- und Lebensweise ist, wie G. selbst zugibt, fast noch
alles zu erforschen, ln einem so urtümlichen Lande werden wir noch große Ent¬
deckungen erwarten können; wurden wir doch erst durch Rosegger darauf auf¬
merksam gemacht, daß das Sauerkraut hier in einer sonst ganz verschollenen Weise,
die aber entwicklungs-geschiehtliehe Betrachtung voraussetzen mußte, aufbewahrt
wird, nämlich in sorgfältig, am liebsten mit Lärchenholz ausgesetzten Gruben, ln
einem einzigen Hofe in der Nähe von Admont fanden wir nicht weniger als drei
solcher Aller (das ist der alte Name, der auch für den Brunnen gilt), und die
Grube war 6 bis 8 m tief und 3 m breit. Aus einem solchen Hauptaller wird
dann immer nur in Pausen der Bedarf für einen längeren Zeitraum in ein anderes
Gefäß übergefüllt, Sauerkraut ist aber in den alten Verhältnissen die Hauptnahrung
des steiermärkischen Bauern, die er gewohnt ist mit Fisolen, d. h. unseren ge¬
wöhnlichen, ursprünglich amerikanischen Bohnen zusammen zu essen, während die
alte Bohne, die Vieia faba, hier zum Unterschied von Deutschland, wo sie freilich
auch nur noch hier und da eine Rolle spielt, ganz verdrängt ist.
Nur kurz ist das Kapitel über die Trachten und ein Kapitel über Volks¬
glauben. zu dem die eigentümlichen, oft gänzlich prähistorisch anklingendeu eisernen
Rinder-Weihbilder abgebildet sind, und ein ebenso kurzes über Sitte und Brauch,
bei dem wir den Samsonumzug ans der Murau zu sehen bekommen. Endlich
schließt das schöne Heft, das noch eine ausgewählte Bibliographie über das ganze
Gebiet bringt, mit einem Schlußkapitel über Volksdichtung. Hier wird auf ein
weststeirisches Paradeisspiel hingewiesen, ein, wie es nach der beigegebenen Ab¬
bildung scheinen will, sehr originelles und originales Stück Bauerndramatik.
Berlin. Eduard Hahn.
Deutsche Volkheit, hsg. von Paul Zaunert. Jena, Diederichs 11)25/26. Jeder
Band kart. 2 M.
Daß das Wesen der Volkskunde nicht mit der Sammlung, Sichtung und Be¬
arbeitung des Materials erschöpft ist, daß sie vielmehr auf Grund solcher Synthese
zu einer Erkenntnis der tiefsten Wurzeln und Eigenart des Volkstums führen und
diese Erkenntnis zu einer Verstehen, Leben und Gedeihen weckenden inneren
Gewißheit vertiefen soll, haben seit Jacob Grimm gerade die Besten unserer
Wissenschaft, wenn auch meist ohne große Worte, in Schrift, Wort und Tat ver¬
treten. Wer die zahlreichen volkskundlichen Bücher des Jenaer Verlages kennt,
weiß, daß hinter den langen Reihen der Thule-Bücher, der Sagen- und Märchen-
Sammlungen, die von den ersten Fachgelehrten bearbeitet und zu unentbehrlichen-
Hilfsmitteln der Wissenschaft geworden sind, dieser Gedanke richtung- und ma߬
gebend steht. Aber nicht jeder ist imstande oder hat den Mut, diesen umfänglichen
Werken näher zu treten, nicht gar leicht finden sie trotz aller äußerlichen Ge¬
fälligkeit den Weg aus Bibliotheken und Studierstuben in die weiten Kreise des
Volkes. So hat denn der Verlag mit der Reihe ‘Deutsche Volkheit’ einen großen
Wurf gewagt. In hoher Auflagezahl und zu einem für die außerordentlich solide
und geschmackvolle Ausstattung sehr geringen Preise, läßt er in rascher F’olge die
Bändchen erscheinen; bis zum Hei bst 1926 sollen es deren 100 sein, demnach
dürften außer den 16 mir vorliegenden, bereits zahlreiche weitere erschienen sein.
Die Absicht ist, vor einem möglichst großen Kreise Stimmen aus den ver¬
schiedensten Zeiten, Bevölkerungsschichten, Stämmen und Landschaften Deutschlands
ertönen zu lassen, nicht um einen Einklang deutschen Wesens vorzutäuschen,
sondern um jedermann, der guten Willens ist, die Besonderheiten der Individuen
und der Gemeinschaften erkennen und anerkennen und die allen Abwandlungen zu
Grunde liegende Urmelodie vernehmen zu lassen. Nicht etwa ist es an dem, daß
hier bequeme Auszüge aus den erwähnten größeren Werken geboten werden. Man
Besprechungen.
20()
vergleiche z. B. im i. Bund ‘Allgei manisches Frauenlebcn’ hsg. von Ida Naumann,
die Erzählungen mit den entsprechenden Stücken aus der Sammlung ‘Thule’, der
sie entnommen sind, und man wird finden, daß zwar z. B. die oft schwer ver¬
ständlichen eingestreuten Skaldenstrophen fortgelassen sind, im übrigen aber hier
an die Aufmerksamkeit des Lesers last größere Anforderungen gestellt werden, als
dort, wo Anmerkungen und ausführliche Einleitungen helfen; vielleicht ist gerade
in diesem Bande die Knappheit bisweilen zu groß. Die beiden folgenden Bände
bringen Nordische Heldensagen und Dänische Heldensagen nach Saxo Grammaticus.
Um ihn wieder lebendig zu machen, hat sieh der Herausgeber, Paul Herrmann, zu
einer ziemlich kühnen, aber zugleich wirkungsvollen und das Verständnis er¬
leichternden Umgießung der Form bei der rbersetzung entschlossen. Im 4. Band
erzählt Friedrich Sieber Wendische Sagen, in dem er die meist den bekannten
Sammlungen (Graesse, Haupt, Czerny, Veckenstedt, Schulenburg, Meicheu. a.) ent¬
nommenen Stücke unter dem Gesichtspunkte eines einheitlichen, übrigens schlichten
Erzühlungsstils zusammen faßt. Band 5 bringt Plattdeutsche Märchen von Paul
Zaunert, ebenfalls größtenteils aus klassischen Sammlungen wie Müllenhoff, Bartseh,
Strackerjan (im Quellennachweis behairlieh zu Strackerjau verdruckt), Woeste, Kuhn
n. a. m. ausgewählt hat, wogegen Stücke aus Grimm, Wisser und den ‘Deutschen
Märchen seit Grimm’ absichtlich, vielleicht doch nicht ganz im Sinne der Gesamt¬
unternehmung fortgelassen sind. Zum großen Teil aus de Monts, de Cocks und
Teirlincks Sammlungen gibt Georg Goyert in Band ö eine Zusammenstellung von
vlämischen Märchen, die selbst als eine Ergänzung zu den in den ‘Märchen der
Weltliteratur’ erschienenen deutschen Märchen, sowie den von ihm den ‘Vlämischen
sagen’ (‘Deutscher Sagenschatz’) angehängten bezeichnet. Die Schwankliteratur ist ver¬
treten durch Landsknechtssehwünke (Band 7, Hsg. Fritz Worteimann) und Bauern-
Schwänke (Band 8, Hsg. Hermann Guinbel). In beiden Sammlungen ist der
Wortlaut der Quellen (Pauli, Wiekram, Frey, Montanus, Kirchhof usw.) in
ein archaisierendes Hochdeutsch übertragen; ob man den Lesern nicht doch
die Urform zumuten könnte ebenso wie die z. T. unterdrückten Derbheiten?
Sehr gut gelungen ist Band !>, in dem Paula Zaunert nach alten nieder¬
ländischen, nicht leicht zugänglichen Quellen Marienlegenden in schlichter Sprache
nacherzählt. Band 10, Hsg. Erna Barniek, bringt in etwas modernisierter Form
das Volksbuch vom Kaiser Barbarossa und Sagen um Friedrich II. aus ver¬
schiedenen Chroniken und anderen literarischen Quellen, Den Pflanzen im deutschen
A'olksleben hat Heinrich Marzell den 11. Band gewidmet; wir kennen seine gründ¬
liche und unterhaltsame Art aus vielen anderen Veröffentlichungen ähnlichen Inhalts.
Ein nicht ganz einfacher Vertreter deutscher Volkheit, Friedrich der Große, wird
von Alfred Weise im Band 12/13 vorgeführt. Band 14 betitelt sieh ‘Vun wilde
Keerls in ’n Brook’. Neue plattdeutsche Märchen vertelt von Hans Freerk Blunek.
In seiner hier öfters charakterisierten Art, bietet er frei erfundene, natürlich mit
alten Märehenmotiven und lokalen Überlieferungen vermischte, bisweilen in modernen
Kulturverhältnissen spielende Geschichten, die als dichterische Erzeugnisse z. T.
gut wirken, aber als Exponenten deutscher Volkheit doch nur in bedingtem Maße
gelten können. Rübezahlsagen enthält der von Will-Erich Peuekert besorgte
15. Band; aufgenommen wurden vor allem aus Praetorius sämtliche von de Wyl
als echt bezeichnete und einige als echt vermutete Sagen, ferner einzelne Stücke
aus Lindners ‘Vergnügten und unvergnügten Reisen’ u. a. m. In Band IG erzählt
Hans Watzlik, der Dichter und Schulderer des Bohmerwakls, Geschichten von dem
sonderbaren Waldkobold Stilzel; auch hier handelt es sieh, wie bei Blunek, um
eine selbständige literarische Schöpfung, wenn auch bei Watzlik die Anlehnung an
volkstümliche Überlieferung ohne Zweifel enger ist. — Die meisten Bändehen ent¬
halten ein kurzes Nachwort und knappe Literatur- und Quellenangaben und sind
mit Abbildungen, z. T. nach Darstellungen der Zeit, z. T. Originalarbeiten, geschmückt
Werden Verleger und Herausgeber ihr hohes Ziel erreichen? Ein Rund¬
schreiben des Verlegers gibt interessanten Aufschluß über den bisherigen Erlolg.
Aus den mitgeteilten, nicht eben hohen Absatzzahlen und den beigefügten Einzel¬
heiten ergibt sich, daß die großen Städte, wie Berlin und Hamburg, nicht gerade
glänzend abschneiden, während kleinere Orte z. T. einen überraschend guten Ab¬
satz aufweisen, was der Verleger zweifellos mit Recht als eine Wirkung besonders
eindringlicher persönlicher Empfehlung durch Buchhändler und Leser erklären.
Notizen.
207
Mögen recht viele zu diesen Bündchen greifen, die zum größten Teil auf fester
wissenschaftlicher Grundlage lebendigen und belebenden Inhalt, nicht zuletzt volks¬
kundlicher Art, in schöner Schale bieten. Vor allem: Deutsche Jugend, greife zu!
Berlin-Pankow. Fritz Boehm.
Notizen.
P. Alp ers, Alte deutsche Schwänke lisg. Leipzig, Teubner 1926, 18 S. (Beiheft
7 zu ‘Wägen und Wirken’). — 15 Nummern aus Pauli, Wickram, Montanus, Kirchhof,
H. Sachs mit kurzen Wort- und Sacherklärungen, als Einführung in die Welt des
lü. Jahrh. sehr brauchbar. — (J. B.)
P. Alpers, Das deutsche Volkslied. Nürnberg, C. Koch [1926]. 79 und <S S.
(Kochs Schülerbücherei zur Deutschkunde, Bd. 9). — 75 Liedertexte mit kurzen An¬
merkungen, dazu in der Beilage für den Lehrer treffliche Winke für die Behandlung
des Volksliedes im Unterricht mit Literaturnachweisen. — (J. B.
Badische Heimat. Zeitschrift für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege,
Heimat- und Denkmalsschutz. 13. Jahrgang. Jahresheft 1926: Der Untersee. Hsg.
von H. E. Busse. Karlsruhe, Braun 1926. 215 S. — Die Volkskunde im engeren
Sinne ist nur mit einem ganz kurzen Aufsatz von Jos. Merk, Sagen aus der Höri,
vertreten. Das reich illustrierte Heft füllen im übrigen zahlreiche Aufsätze über
'Geschichte, Kunst und Natur des Unterseegebietes. — (F. B.)
Bela Bartök, Das ungarische Volkslied. Versuch einer Systematisierung der
ungarischen Bauernmelodien, mit 320 Melodien. Deutsche Übersetzung der Lieder¬
texte von Hedwig Lüdeke. Berlin, W. de Gruyter & Co. 1925. IV, 236, 87 S. 12 51k.
Ungarische Bibliothek, hsg. von R. Gragger, 1. Reihe, 11. Bd.)— Die umfassende und
genaue Untersuchung von mehr als 8000 Volksweisen der Ungarn, die B. nach dem
System von Ilmari Krohn ordnete, führt zu dem bemerkenswerten Ergebnis einer
Gruppierung in drei Klassen. Während der Text stets regelmäßig aus vier gleich¬
langen Zeilen von 8 — 11 Silben besteht, sind die Melodien des alten Stiles zwei-,
drei- oder vierzeilig im Parlando-rubato-Rhythmus oder im (unveränderlichen oder
veränderlichen) Tempo-giusto-Rhythmus. Charakteristisch ist besonders die penta-
tonische Scala: b g c d f. In den Melodien der zweiten Gruppe, des neuen Stiles,
wird die Silbenzahl bis auf gelegentlich 25 erweitert und unter dem Einfluß der
(westlichen?) Kunstmusik eine geschlossene architektonische Struktur und die Dur-
und Moll-Tonleiter eingeführt; von hier aus wurde die neuere slowakische und
ruthenische Bauernmusik stark beeinflußt. Einen gemischten Stil zeigt die dritte
Gruppe, die fremde, z. T. cechisch-slowakische Elemente aufgenommen hat. Dieser
Untersuchung folgt als zweiter Teil und notwendige Illustration eine Auswahl von
320 nach jenen drei Klassen angeordneten Melodien mit genauer Angabe von Ort
und Zeit der Aufzeichnung; die Texte sind, was wir besonders dankbar begrüßen,
auf S. 117 — 207 nochmals vollständig abgedruckt und mit einer vortrefflichen
metrischen Verdeutschung von Hedwig Lüdeke versehen. Da der Vf., dem es nur
auf eine Betrachtung der Singweisen ankam, nirgends auf den Inhalt der Texte zu
sprechen kommt, möchte ich alle Freunde der Volksdichtung ausdrücklich auf diese
reiche Fundgrube aufmerksam machen. Wir finden hier sowohl kurze Liedchen und
einfache Vierzeiler aus dem Leben der Liebenden, der Hirten, Räuber, Gefangenen,
Soldaten, als auch längere Ausführungen bekannter Motive und vollständige Balladen:
Nr. 40. 293 Vogel als Bote, 209. 252 Freierwahl, 105. 163 Brautwahl, 26 Waisen am
Grabe der Mutter (oben 34, 105;, 309 geistliche Zahlendeutung (oben 11, 391), 171 Tanze
Mönchlein (oben 35, 35), 257 Wie der Bauer sät (Böhme, Kinderlied S. 496), 157 Nur
der Liebste rettet (Erk-Böhme, Liederhort nr. 78), 34. 161. 165 Ritter und Magd ^ebd.
nr. 110), 307. 315 Der Mädchenräuber (ebd. nr. 41), 260a Der betrogene Ehemann
(ebd. nr. 900', 29 Anna Feher (oben 12,64. Bolte-Breslauer, Acht Lieder für Liliencron
1910 nr. 5). — (J. B.)'
H. F, Blunck, Von klugen Frauen und Füchsen. Märchen von der Niederelbe.
Neue Folge. Jena, E. Diederichs 1926. 2 Bl., 261 S. — Ebensowenig wie Bluncks
erste, oben 34, 154 angezeigte Sammlung darf ihre Fortsetzung als eine volkskundliche
Quelle angesehen werden. B. hat sich viel von holsteinischen und hamburgisclien
Leuten erzählen lassen, hat auch, wie er im Vorwort sagt, versucht, einige Geschichten
aufzuzeichnen; „es gelang aber nicht sie wörtlich wiederzugeben, das ist Gelehrten-
arbeit“. Vielmehr läßt er seine Phantasie mit überkommenen mythischen Gestalten
wie Fro, Hans Donnerstag, Frau Holle und Frau Gode, mit Riesen, Wichten und
Tieren frei schalten und spielen: er gibt also Neuschöpfungen, Kunstmärchen, die
teilweise ganz lustig anzuhören sind. — (J. B.)
Notizen.
2U8
Vnlon Böhm und Franz Burkhart, Fahrend Volk. 250 deutsche Volkslieder
mit Lantenbegleitung. im Aufträge der studentischen Verbände Jungösterreich und
Neuland hsg. Wien, Volksbundverlag 1925. 502 S. kl. 8°. — Die ansprechende Samm¬
lung mit einfacher Lautenbegleitung läßt das österreichische Lied im Rahmen des
allgemein deutschen Volksliederschatzes hervortreten und schöpft bisweilen aus unge¬
druckten Materialien von F. Großmann und M. Pfliegler. Da sie keine wissen¬
schaftlichen Ansprüche erhebt, sollen ihr einzelne Versehen (Unechtes S. 20S, 210
und Druckfehler ^S. 50 Ostara, 00 Mußmann, 175 Richter usw.) nicht zu schwer ange¬
rechnet werden. — J. B.
.1. Brahms, Neue Volkslieder, 32 Bearbeitungen nach der Handschrift aus dem
Besitze Glara Schumanns, zum ersten Male hsg. vou Max Friedlaender, Berlin,
Verlag der deutschen Brahms-Gesellschaft 1926. 63 S. Querfolio. — Auf keinen
unsrer großen Musiker hat das deutsche Volkslied eine größere Anziehungskraft aus-
geiibt als auf Johannes Brahms. Zu deutschen Volksliedertexten schuf er 40 eigene
Kompositionen, und fast doppelt so groß ist die Zahl seiner Harmonisationen von
Volksliedmelodien für den Chorgesang oder für Klavierbegleitung. Freilich schöpft
er seine Kenntnis des Volksliedes zumeist aus der Sammlung von Kretzschmer-
Xuccalmaglio, die noch jüngst Friedlaender als eine getrübte Quelle erwiesen hat
^oben 29, 0S\ und gelangte daher nie zu einer gerechten Würdigung der Verdienste eines
so gewissenhaften Forschers wie Ludwig Erk. Aus Zuccalmaglio stammen auch die
32, zum Teil noch ganz unbekannten Volksliedbearbeitungen mit Klavierbegleitung,
die uns jetzt Friedlaender. der Vorsitzende der deutschen Brahms-Gesellschaft, mit
einem vortrefflichen Nachwort und ausführlichen Anmerkungen vorlegt. Sie sind in
einer seit kurzem der Berliner Staatsbibliothek gehörenden Handschrift enthalten,
die Brahms allem Anschein nach im Jahre 1S58, also 25 jährig, niedergesehrieben
hat. — (.1. B.)
Georg Busch an, Illustrierte Völkerkunde in zwei Bänden. Unter Mitwirkung
von A. Byhan, A. Haberlandt u. a. hsg. II, 2. Teil: Europa und seine Randgebiete.
Von A. Byhan, A. Haberlandt, M. Haberlandt. Mit 43 Tafeln, 708 Abbildungen
und 6 Karten. Stuttgart, Strecker & Schröder 1926. XXIV. 1154 S. 8°. Gebd. 32 Mk.
— Von den 3 Bänden dieses nun zum Abschluß gekommenen monumentalen Werkes
umfaßt der erste Amerika und Australien, der 1. Teil des zweiten Asien, der 2. Teil
Europa mit Randgebieten. Die allgemeine Völkerkunde, den Kreis der indo¬
germanischen Völker des Erdteils, behandelt in diesem hier vorliegenden Teile
Michael Haberlandt, die volkstümliche Kultur Europas in ihrer geschichtlichen Ent¬
wicklung Arthur Haberlandt, der von den Randgebieten die Mittelmeerlandschaften
Nordafrikas und die Kanarischen Inseln übernommen hat, während Arthur Byhan Kauk-
asien, Ost- und Nordrußland und Finnland bearbeitet hat. Man sieht: ein Triumvirat, das
auch in der Volkskunde den allerbesten Namen hat. Eine kritische Würdigung des
Werkes im einzelnen übersteigt die Kräfte eines einzigen Beurteilers, und selbst eine
bloße Inhaltsangabe würde Seiten füllen. So müssen wir uns auf das Allerwichtigste
und eine allgemeine Charakterisierung beschränken. Nach einer ganz kurzen Ein¬
leitung, in der z. B. die Rassenfrage mit größter Zurückhaltung nur gestreift wird,
geht M. Haberlandt zur Behandlung der einzelnen Völkergruppen über, von denen
der Abschnitt über die Germanen für uns von besonderem Interesse ist. Kurz, aber
treffend wird deren Eigenart in körperlicher, geistiger, sozialer und volkskundlicher
Hinsicht durch zahlreiche Einzeltatsaehen in Gestalt Siedlung, Tracht, Sitte, Brauch
und Glauben dargestellt. Der Gesamtkultur Europas ist der von Arthur Haberlandt
verfaßte 2. Hauptteil gewidmet, der die Wirtschaft, Siedlungen, Hausgeräte und Hand¬
werk, Volkskunst, gesellschaftliche und Weltanschauung zusammenfassend behandelt.
Darauf folgen die Teile über die Randgebiete, ein fast 50 Seiten füllendes Literatur¬
verzeichnis und zwei ausführliche Register. Als Repertorium, und nicht allein als
solches, ist das Werk für die Volkskunde von höchstem Werte und wird sieh bald
als unentbehrlich erweisen, zumal für den Weiterforschenden das Literaturverzeichnis
für jedes Kapitel auf die Quellen verwaist. Von besonderer Bedeutung sind die
zahlreichen Abbildungen, zum größten Teil bisher unveröffentlicht und den Text
wahrhaft illustrierend. Mit Dankbarkeit und Bewunderung wird jeder, der in das
Gebiet der speziellen oder der vergleichenden Volkskunde Einführung sucht oder
darauf arbeitet, das Prachtw T erk aus der Hand der drei Verfasser, des Herausgebers
und des Verlegers entgegennehmen. — (F. B.)
H. E. Busse, Der Enz- und Pfinzgau. Im Aufträge des Landesvereins Badische
Heimat herausgegeben. Karlsruhe, Braun 1925. 300 S. 4°, geb. 6 Mk. — An volks¬
kundlich bemerkenswerten Aufsätzen enthält das inhaltreiehe und mit schönen
Bildern reich versehene 12. Jahresheft des rührigen Badischen Landesvereins:
M. Walter, Verschwundene Dörfer und verlassene Wege um Pforzheim (Flurnamen,
Ortssagen); B. Weiß, Die bauliche Erscheinung der Ortschaften zwischen Pforzheim
Notizen.
209
und Durlaeli (treffliche Handzeichnungen des Verf.); R. Gerwig, Pforzheimer
Flößerei und Holzhandel (Zunftgebräuche und A. Weltz, \ on der Pforzheimer
Mundart (Lautlehre und Wortschatz . — (F. B.)
Elfriede Cario, Alte und neue Volkstänze; Klaviersatz von Lotte Schulz; Bild-
schmuck von H. Gicsccke. 4. und 5. Auflage. Leipzig - Berlin, Tcubner 1925. 64 S.
Quer 8°. 1,20 Mk. — Die neue Auflage der prächtigen Sammlung stimmt mit der
voraufgehenden, die oben 114, 155 empfohlen wurde, überein. — J. B.)
Walter Diener, Hunsnicker Volkskunde. Mit 83 Abb. auf Tafeln und im Text
sowie 2 Karten. Bonn und Leipzig, Kurt Schroeder 192.). XV, 284 S., geb. 8,50 M.
Volkskunde Rheinischer Landschaften, hsg. v. A Wrede.) — Ein zusammenfassendes
wissenschaftliches Werk über die Volkskunde des Hunsrücks fehlte bisher, so daß
es zu begrüßen ist, wenn neben die in derselben Reihe schon erschienene Pfälzer
und Eifeier Volkskunde i^oben 34, 1<7. 35, 58) nun dieser stattliche Band tritt. Die
Gliederung des Stoffes ist in allen drei Bänden bis auf den Wortlaut der Kapitel¬
überschriften genau übereinstimmend, eine für die Übersichtlichkeit des ganzen
praktische, der Eigenart der einzelnen Verfasser aber doch wenig Rechnung tragende
Maßnahme. Der Verfasser hat, wie sein Quellenregister beweist, die seit Anfang des
Jahrhunderts reichlicher fließenden Quellen der Einzelpublikationen sehr fleißig be¬
nutzt; er selbst hat besonders auf dem Gebiete der^ literarischen Volkskunde des
Hunsrücks gearbeitet (seine Dissertation, Straßburg 1917. behandelt den Volkserzähler
Wilh. Oertel = W. O. v. Horn *1798), und mit Glück zitiert er oft die älteren volks¬
tümlichen Dichter des Gebiets, vor allem den 1799 geborenen Joh. Peter Rottmann
(s. 8. 91 in H. Kaufmanns sehr unübersichtlicher ‘Dichtung der Rheinlande’. 1923;.
Das Buch liest sich gut und wird nicht verfehlen, das Interesse für dies noch immer
verhältnismäßig unbekannte Gebiet Deutschlands zu verstärken. Die Ausstattung
jst ebenso lobenswert wie bei den schon erschienenen Bänden. — ,F. B.)
Max Ebert, Vorgeschichtliches Jahrbuch. Für die Gesellschaft für vorgeschicht¬
liche Forschung hsg. Band 1: Bibliographie des Jahres 1924. Berlin, de Gruyter & Co.
1926. 157 S. geh. 15 M. — Bei den engen, gerade in letzter Zeit öfters behandelten
Beziehungen zwischen Volkskunde und Vorgeschiclitsforschung sei auch an dieser
Stelle auf diese, vor allem durch ihre umfangreiche Bibliographie wichtige Erscheinung
hingewiesen. Die meisten bibliographischen Angaben sind von einer kurzen Inhalts¬
angabe begleitet. Der Band ist geschmückt mit einem Bildnis des am 1. 4. 1925 in
Padua verstorbenen berühmten Prähistorikers Luigi Pigorini, dem F. v. Duhn S. 131
bis 142 einen ausführlichen Nachruf widmet. — ( F. B.)
Die Edda, übertragen von Karl Simrock, herausgegeben von G. Neckel-
Berlin, Deutsche Buch-Gemeinschaft 1926. 435 S. geb. c. 4 M. — Simrocks Edda-
Übersetzung, die zuerst 1851 herauskam, ist durch die späteren von Gering und
Genzmer verdrängt worden, in denen sich die Fortschritte der Wissenschaft und
eine andere Betrachtungsweise geltend machen. Trotzdem erscheint Simrocks Arbeit
wegen ihrer dichterischen Haltung einer Erneuerung, die den Text von Übersetzungs¬
fehlern und Mißverständnissen reinigt, würdig, und wir freuen uns, daß sie durch
einen so trefflichen Kenner wie Xeckel unternommen worden ist. X. gibt die 37
der Götter- und der Heldensage zugehörigen Lieder (ohne Stroplienzählung, läßt
aber die der Snorra Edda entlehnten Stücke fort, die ja kürzlich in seiner vollstän¬
digen Verdeutschung erschienen sind. In der Neuformung schwieriger Stellen schließt
er sich bisweilen an Genzmer an. Vollständig neu ist seine S. 7 —162 einnehmende
Einleitung, die ohne gelehrten Apparat in gemeinverständlicher, anschaulicher Weise
die Ergebnisse der bisherigen Forschungen über die Entstehung der Eddalieder zu-
sammenfaßt. N. zeigt, daß sie großenteils auf verlorene Heldenlieder der Dänen,
der Goten, der Rheinfranken und Xiedersachsen zurückgehen, daß sie teils umge¬
bildet, teils (wie die Völundarkvidha, BrynhildarkYidlia, Atlakvidha, Hamdismal) fast
unverändert übernommen wurden, daß somit ein Teil der Edda wirklich an der
Spitze auch der deutschen Literaturentwicklung steht. Er skizziert ferner den Stil
der stabreimenden Dichtung und gibt für jedes Lied eine besondere Einführung,
die nach Möglichkeit auf die oft schwierigen Probleme eingeht, andres aber wie die
Vorgeschichte der Völuspa absichtlich als zu weit führend übergeht. — Das Buch
ist erschienen in der Deutschen Buchgemeinschaft (Berlin SW bl), die ihren Mit¬
gliedern gegen einen vierteljährlichen Beitrag von 3,90 M. eine Halbmonatsschrift
x Die Lesestunde’ und eins von ihren 130 Werken in Halblederband anbietet. — V J. B0
Die jüngere Edda mit dem sogenannten ersten grammatischen Traktat, über¬
tragen von Gustav Xeckel und Felix N i e d n e r. Jena, E. Diedericlis 1925. 358 S.
10 M. (Thule Bd. 20). — Die hier zum ersten Male vollständig verdeutschte Edda
des Snorri Sturluson, die um 1220 in Irland aufgezeichnet wurde, ist die älteste ger¬
manische Poetik. Ihre drei Teile (Gylfis Betörung, die Dichtersprache und das
Strophenverzeichnis) sollen jüngere Skalden in ihrer Kunst unterweisen. Doch gibt
210
Xolizen.
Snoiri nicht bloß prosaische Erörterung, «omlern flicht als Beispiele Strophen der
alten Eddalieder und zahlreiche Götter- und Heldensagen zur Erklärung der dichte¬
rischen Umschreibungen (Kcnningar) ein. Zugleich schließt er den ersten Teil in einen
künstlerischen Rahmen: der schwedische König Gylfi wandert als Gangleri verkappt
zur Asonburg und fragt die drei dort sitzenden Häuptlinge nach den einzelnen
Göttern. Auch der zweite Teil beginnt als ein Gespräch zwischen der Meergotte
Agir und dem in Asgard aufgenominenen Dichter Bragi. Der dritte Teil (Hättatal)
endlich ist nicht bloß eine Aufzählung der verschiedenen Strophenformen, sondern
gleichzeitig ein Preislied auf den norwegischen König Hakon und den Jarl Skuli.
Xeekels Einleitung (S. 3 —48) gibt über die Entstehung und Zweck dieser Poetik aus¬
führliche Auskunft: er geht dabei auf die Gestalt der altnordischen Schilde (S. 31)
und die Wundermiihlo S. 3S) näher ein und erklärt das Wort Edda, das man lange
als 'Sagenbuch' deutete, als ‘Buch von Oddi’, dem Musensitze. Wie stark die ge¬
lehrte lateinische Literatur des Mittelalters schon lange vor Snorri auf die Isländer
einwirkte, zeigt das Beispiel seines gelehrten Vorgängers Sämund auf Oddi (S. 9) und
der auf S. 334 angchängte Traktat des 12. Jahrh. über isländische Rechtschreibung
und Phonetik. — (J. B.)
Es ton um carmina populaiia ex Jacobi Hurt aliorumque thesauris ediderunt
M. J. Eisen. K Krohn, V. Alava, O. Kallas, W. Anderson, V. Grün¬
thal. volnmen primum. (Eesti Rahvalaulud). Tarbati, Societas litt, estonica 192G.
LXXIII. 4Ss S. — Dieser stattliche Band beginnt ein Monumentalwerk, dessen Voll¬
endung wohl erst in Jahrzehnten erfolgen wird. Es soll sämtliche bei den Esten
jemals aufgezeichneten Volkslieder enthalten mit Ausschluß der bereits 1904 — 1907
von J. Hurt veröffentlichten ^Lieder der Setukesen' (vgl. oben 20, 345), und dazu
liegt ein riesiges Textmaterial bereit. Den Anfang machen die im alten nationalen
Versmaß, den reimlosen vierfüßigen Trochäen, gedichteten, nichtstrophischen Lieder,
in denen Alliteration und altertümliche Sprachformen herrschen; und zwar stehen
die epischen Lieder voran. Man darf sich aber unter diesen keine Heldenlieder
vorstellen, wie sie bei den Finnen und Großrussen anzutreffen sind, sondern eine
Reihe phantastischer Traumbilder, in denen die Stimmung, das poetische Bild das
Wichtigste ist. Im vorliegenden Bande sind zwölf solcher epischen Lieder enthalten
mit ihren sämtlichen Varianten, deren Zahl zwischen 31 und 195 schwankt: 1. Die
Entstehung der Harfe, 2. Die Eier des Wundervogels (Sonne, Mond, Stern), 3. Die
aus Gold geschmiedete Frau, 4. Maretas Kind, 5. Der getaufte Wald, G. Die Eiche
wird Schiffsbaum, 7. Der Knecht im Himmel und sein Herr, S. Der ertrunkene
Bruder, 9. Der ins Meer gefallene Kamm, 10. Der ungeheure Ochse (urspr. finnisch,
wie auch nr. 7\ 11. Der Wundertäter (Christuslegende;, 12. Die Klage der verkauften
Jungfrau. Den Texten geht vorauf ein Eingangswort von O. Kallas (S. V), eine Ein¬
leitung von K. Krohn, der über das Versmaß der estnischen Lieder, über die Ver¬
gleichung der Varianten und die Methode der Untersuchung handelt (S. XVI), eine
Inhaltsangabe der zwölf Lieder von Krohn und O. Loorits (S. XXXVD, ein Bericht
über die Publikationsweise von V. Grünthal (S. LXI), ein gleicher über den Plan
des Werkes und die Editionsgrundsätze von W. Anderson (S. LXVI), Verzeichnisse
der Kreise, der Kirchspiele, der Abkürzungen, endlich folgt S. 4S5 ein Schlußwort
von M. J. Eisen. Glücklicherweise ist der von Anderson herrührende Teil und
großenteils auch der von Krohn und Loorits in deutscher Sprache abgefaßt; auf
ihnen fußt das vorstehende kurze Referat. — (J. BO
Josef Feldmann, Ortsnamen. Ihre Entstehung und Bedeutung. Unter be¬
sonderer Berücksichtigung der deutschen Ortsnamen. Halle a. S., Buchhdl. des
AVaisenhauses. 1925. 143 S, gebd. 4 M. — Das Buch ist gewiß die Frucht eines
jahrelang betriebenen Studiums. Der hier aufgehäufte Stoff, der durch ein sorg¬
fältiges Register leicht zugänglich gemacht wird, ist überraschend groß und erstreckt
sich über das deutsche, romanische, slawische und klassische Sprachgebiet, selbst
auch asiatische, amerikanische u. a. Völker. Freilich ist die Erklärung nicht immer
einwandfrei. Xur ausnahmsweise spricht der Verfasser davon, daß neben der von
ihm bevorzugten Deutung auch noch andere möglich sind; dazu kommt die Neigung,
der altgermanischen Mythologie einen Einfluß einzuräumen, der bei Ortsnamen wohl
kaum berechtigt ist. Wenn er z. B. den Gerichts- und Opferstein, den Blauen oder
Blutigen Stein (S. 14), der an und für sich zweifelhaft ist, mit dem städtischen Stein¬
weg zusammenbringt (S. 21), dann ist das naiv oder zeugt davon, daß er in der
städtischen Kulturgeschichte recht wenig zuhause ist. Seite für Seite kann man
Fragezeichen machen. Xur ein paar Beispiele seien herausgehoben. Die Zurück¬
führung des Roland auf (W rog, rok = Gerichtsstätte ist zwar alt, aber doch sehr
fraglich. Tuom(tum) ist wohl häufiger auf domanium, dominium zurückzuleiten als
auf Gerichtsstätte. In thüringischen Dörfern ist der ‘Dom 5 in diesem Sinne nicht
selten. Ob die mit -witten zusammengesetzten Ortsnamen (S. IS) nicht besser mit
‘Weiß’ zu erklären sein werden als mit ‘Wied’ = heiliger Wald, Malstatt? Wer die
Notizen.
211
hellen Inlanddünen bei Wittenberge gesehen hat. wird kaum zweifelhaft sein können.
Bei Bremen ist die Erklärung von Jellinghaus-brim - Band einleuchtender als dte
Zurückführung auf brame - Brombeere. Bei der Stadt Düren sei auf Sehoop, Ge¬
schichte der Stadt Düren ^Düren 1901 verwiesen. Durchaus fraglich ist die Her-
leitung des Namens Kölln a. Spr. von sl. kolna - Blockhaus, Pfahlbaute (S. öl). Gründe,
das uckermärkische Strasburg (1277 Straceburg) mit dem sl. stroza = Waehe zu-
sammenzubringen anstatt mit Straße, die hier tatsächlich vorüberführte, liegen nicht
vor. Überhaupt vermißt man häufig eine Berücksichtigung der örtlichen Lage. Das
schwarzwäldische Horben kann nicht mit ahd. horo Sumpf (S. 50^ Zusammenhängen,
weil es auf einer trockenen Hochfläche liegt. Die Dung- und Dongorte (S. 51 hängen
nur unmittelbar mit Sumpf zusammen, denn ihre Lage weist nach M. Buyt. Die
untere Niersgegend und ihre Donken (Nieukerk 18G7) fast immer auf eine Land¬
zunge, engl, tongue. Ein Irrtum des Verfassers ist es, den Dörfern die Befestigungs¬
mauer abzusprechen (S. 27\ Angesichts der vielen befestigten Dörfer im Elsaß, in
Baden, Hessen, Franken und Thüringen ist diese Anschauung nicht mehr zu halten.
Das ältere Lübeck Linbiee) lag nicht sö., sondern n. der heutigen Stadt. — Diese,
ziemlich wahllos gemachten Beanstandungen ließen sich leicht vermehren. Hier
sollen sie nur das Schlußurteil bestätigen, daß eine solche Arbeit verfrüht ist, daß
noeh viele Einzeluntersuchungen nötig sind, bevor allein über das deutsche Sprach¬
gebiet eine einigermaßen abschließende Zusammenfassung möglich ist Das Literatur¬
verzeichnis, dem die Arbeiten von Kötzschke, Seelmann. Schröder, .Tullinghaus (nur
die westfälischen Ortsnamen sind angeführt), Schoof fehlen, das auch die Ztschr. f.
deutsche Mundarten und den Teuthonista nicht heranzieht, zeigt, daß die neuere
Forschung dem Verfasser nicht zugänglich war. Was sie hätte geben können, be¬
weist die von dieser Stelle vor kurzem besprochene Schrift von Wallner, Altbairische
Siedelungsgeschichte. — (R. Mielke.)
Hans Findeisen, Neue russische Literatur zur Kultur- und Völkerkunde. (S-A.
aus Asia Maior, Jg. 1925: Festschrift für F. W. K. Müller. Leipzig 1925. S. 323— 344).
— Erinnerungen an Hiddensee. Rügenscher Heimatkalender 1925. — Von allerlei
Menschen auf der Insel Hiddensee; ebd. 1926.
K. W. Fischer, Die Passionsspiele in der Stadt Hohenelbe. Reichenberg,
F. Kraus 1920. 28 S. (Sammlung gemeinnütziger Vorträge hsg. vom Dt. Vereine z.
Verbr. gemeinnütziger Kenntnisse in Prag nr. 495—497). — Eine anschauliche Schil¬
derung einer Aufführung von 1770 wird abgedruckt, dazu der Text eines 1762 dar¬
gestellten Schäferspiels in Alexandrinern und Inhalt eines Jonasdramas, das diesem
voraufging. — (J. B.)
G. Fittbogen, Was jeder Deutsche vom Grenz- und Ausland-Deutschtum wissen
muß. 4. Aufl. München u. Berlin, R. Oldenbourg 1924. VI, 66 S. mit drei Karten.
- Die trefflich über die Zahl und gegenwärtige Lage unserer Volksgenossen im
Auslande orientierende Schrift, die wir schon oben 34, 157 warm empfahlen, ist in
der neuen Auflage mit einigen Zusätzen versehen. — (J. B.)
Gustav Frey tag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. In einem Bande
hsg. von Kurt Schmidt. Königstein i. Taunus, Langewiesche 1926. 335 S. 3,.*10 M.
(Die Blauen Bücher). — Die Volkstümlichkeit, die Freytags unvergleichlichem Werke
zukommt, wurde bisher durch den Umfang und den Preis des fünfbändigen Buches
erschwert. Man darf sich nicht verhehlen, daß eine Beschränkung, wie sie in der
vorliegenden Ausgabe durchgeführt ist. nicht ohne Gefahr ist, muß aber doch dem
Verleger soweit beipflichten, daß künstlerisch das Gebotene an Eindruekskraft und
Geschlossenheit dem Originalwerk mindestens nicht nachsteht und nur auf diese
Wege eine wirkliche Popularisierung möglich ist. Ein hübscher Schmuck sind die
kleinen Randzeichnungen, die Fritz Ulrich nach alten Vorlagen gefertigt hat. In
unserer Zeit des „Kulturunterrichts“ seien besonders Lehrer und Schüler auf diese
Auswahl hingewiesen. — (F. B.)
Leo Frobenius, Dichten und Denken im Sudan. Jena, E. Diederichs 1925.
385 S. 7 Mk. (Atlantis 5). — In dieser Einleitung zu den bereits erschienenen
Bänden 6—9 der Atlantis faßt F. die wesentlichen Züge des Geisteslebens der Sudan¬
völker zusammen, die ihm als die Höhe afrikanischen Volkstums erscheinen. Er
unterscheidet die staatlich belanglosen, primitiv lebenden Splitterstämme der Tief¬
sudaner von den durch mächtige Königreiche, Fürstenhöfe und große Städte ausge¬
zeichneten Hochsudanern. Beide Gruppen haben aber im Laufe der Jahrhunderte
mehrfach ihre Rollen vertauscht, und der Vf. sueht nun auf Grund einzelner Ge¬
bräuche, Einrichtungen und Überlieferungen in die Urgeschichte dieses Völker¬
gewirres einzudringen. Bezeichnend sind die Stellung des Priesters, des Königs, des
Schmiedes, die Ausführung der Opfer, der Beschneidung, der Bestattung, die Spuren
des Totemismus, der Königstötung usw. Von Märehenmotiven notiere ich das
heilende Schlangenkraut (S. 26), die Fesselung des Tages (S. 38. 70) die von der Frau
Notizen.
•212
verratenen Namen des Mannes S. 16S. *211»), den vom Adler geheilten Geblendeten
S. 209), die undankbare Schlange (S. 225;, Auswerfen von Hindernissen (S. 308),
Zeieheiibotsohaft (S. 32-1 , Kind und Schlange (S. 3b2 . — (.1. B.)
A. van Gonnep, Le cyele de mai dans les contumes populaires de la Savoie.
Bruxelles 1025. 53 S. aus Revue de l’Institut de sociologic 0, 1). — Eine sorgsame
Statistik zeigt, an welchen Orten Savoyens der 1. Mai durch Umzug eines Laub-
uinhiillten (feuillu, mossu oder Setzen eines Maibaurnes gefeiert wird und wie man
das Fest der Kreuzfindung (3. Mai und die Feldprozessionen von Himmelfahrt mit
Einpflanzen von Haselruten begeht. — V J. B
A. van Gennep, Le cyele eeremoniel du carnaval et du careme en Savoie III.
(Journal de Psychologie 22, 728—737). — Ergebnisse eines an die einzelnen Ortschaften
versandten Fragebogens.
V. Gera mb, Der Samson. Der Pflug 1920, 02—78. Wien, Krystall-Verlag), —
Die Riesenfiguren, die in Tamesweg und anderen Orten des Lungau an sommerlichen
Festtagen herumgetragen wurden, entstammen geistlichen Prozessionen, reichen aber
möglicherweise, da wir in Frankreich. England und den Niederlanden Seitenstücken
begegnen, bis ins keltische Altertum zurück. - (J. B.)
Franz Giehrl, Heimattünze, ein Lehrbuch zum Erlernen der im bayerischen
Oberland beliebten Tänze, Dreisteyrer, Achtertanz, Sechsertanz, Bandltanz. München,
Pössenbacher Verlag 1924. 92 Bl. Quer 8°. 0 Mk. — 50 Schuhplattler und Volks¬
tänze, eine Sammlung aus dem bayerischen Oberland. Noten für eine Stimme, ebd.
1925. 0>4 S. 2,50 Mk. — Mit Eifer pflegen die bayrischen Traehtenvereine, die aus
einer Anregung des Lehrers Joseph Vogel (18S3) hervorgingen, die heimischen Volks¬
tänze. Daher wird die von G. veranstaltete handliche Sammlung von fünfzig bayrischen
Tanzweisen sowohl den Wissenschaftlern als den ausübenden Vereinen willkommen
sein. Für vier Tänze, die durch die Mannigfaltigkeit der Figuren besonders an¬
ziehend wirken, (darunter den oben 35, 37 besprochenen Bandltanz) liefert er in dem
an erster Stelle genannten Hefte eine durch 70 treffliche photographische Aufnahmen
unterstützte genaue Beschreibung. — (J. B )
Emil Goldmann, Die DuenosTnschrift. Mit 2 Tafeln. Heidelberg, Winter 1926.
XIII, 170 S., geh. 10 Mk., geb 12 Mk. (Indogermanische Bibliothek, lisg. von H. Hirt
und W. Streitberg 3. Abt. 8. Bd.) — Es gehörte kein geringer Mut dazu, an eine neue
Untersuchung der auf dem bekannten Drillingsgefäß vom Quirinal erhaltenen rätsel¬
haften Inschrift heranzugehen; haben sich doch von Dressei (18S0) bis Cocchia (1924)
nicht weniger als 37 Gelehrte mit diesem ’Pfahl im Fleische des Latinisten* geplagt,
darunter nicht wenige der hervorragendsten Forscher, wie Btieheler, Jordan, Lindsay,
Meringer, Kretschmer u. a. m Vor allen früheren Behandlungen zeichnet sich das
vorliegende Buch zunächst durch eine bewundernswerte Vollständigkeit in der Auf¬
zählung und Kritik aller Deutungsversuehe der Vorgänger aus. um so bewunderns¬
werter, als der Verf. in erster Linie Reehtshistoriker ist. Neu ist ferner — wenigstens
in diesem Umfange — die Heranziehung der Volkskunde, die G. ja auch in zahl¬
reichen anderen Veröffentlichungen mit großem Glück verwendet hat. Er sieht in
dem Gefäß ein zum Rauch-Liebeszauber dienendes Gerät, gefertigt um 450—400
v. dir., und zwar schließt er auf magische Verwendung aus der Linksläufigkeit, der
Buciistabenumkehrung und der zauberischen Ringform der Inschrift und der in dem von
ihm rekonstruierten Text nachzuweisenden typischen Motive, wie Offensive, Defensive,
Salvierungsklausel u. a. Einstimmige Anerkennung wird auch seine, immerhin
gewisse Dunkelheiten enthaltende Lesung kaum finden. Als lückenlose und außer¬
ordentlich klare Übersieht über den ganzen Komplex und als Frucht des Zusammen¬
wirkens der Volkskunde mit ihren Nachbarwissencliaften ist das Buch von größtem
Werte. — \F. B.)
Hans F. K. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes Mit 27 Karten und
541 Abb. 10. Auflage. München, J. F. Lehmann 1926. VIII, 504 S., geh. 9,50 Mk.,
Leinenbd. 12 Mk., Halbleder 16 Mk. — Die schnell ansteigende Auflagenzahl des
oben 34, 160. 35, 64 ausführlicher besprochenen Werkes beweist, welches Interesse
heute Rassenfragen vorfinden. Bei allen grundsätzlichen Bedenken, die wir oben
gegen das Buch geäußert haben, verdient der Fleiß des Verfassers hohe Anerkennung.
Auch die vorliegende Auflage ist sorgfältig durchgearbeitet und ergänzt worden,
besonders die Abbildungen sind z. T. durch Auswechslungen weniger geeigneter mit
charakteristischen Stüeken verbessert worden (zu Abbildung 192 S. 103 s. unten Hefeles
Schrift, in der naehgewiesen wird, daß der dinarisehe K. M. v. Weber nicht öster¬
reichischer Abstammung ist). Der Grundcharakter des Buches ist unverändert ge¬
blieben. Man möchte ihm vor allem aufmerksame und kritische Leser wünschen,
die über die vielen vom Verfasser selbst gesetzten Fragezeichen nicht hinweglesen
und sieh vor eigenen nicht scheuen. Freilich wagt man dies bei der unheilvollen
Verquickung von Rassen- und parteipolitischen Fragen, die man täglich beobachten
kann, vorläufig kaum zu hoffen. — (F. B.)
Notizen.
213
A. Haas, Sagen des Kreises Grimmen, Greifswald. Abel J925. ]2G S. — ln
der vorliegenden Sammlung legt uns Haas nach literarischen und mündlichen Quellen
ein umfangreiches Material von 151 verschiedenen Sagen, allein aus dum pommerschen
Kreise Grimmen, vor; wahrlieh eine achtunggebietende Leistung. Der Inhalt des Ruches
gliedert sich in 18 verschiedene Gruppen, beginnend mit den Spukeischeinungen u>w .
der Mahrt, Irrlichtern, Hausgeistern, Erd- und Wassergeistern, denen sieh Sagen über
die alten Götter, über Riesen, Korn- und Wasserdämonen, über den Teufel. Hexen
nsw. ansehließen. Wundersagen, Glockcnsagcn, Sehatzsagen, Tier- und Pfhmzen-
sagen führen zu den geschichtlichen und örtlichen Sagen, den Familiensagen, während
10 Ortsneckereien das Buch beschließen. Fast 00 Sagen aller Art haben darin ihre
erstmalige Veröffentlichung gefunden, so daß die neue Frucht der eifrigen Rettungs¬
arbeit des großen Sagen- und Volksforschers der Wissenschaft wiederum neues und
erwünschtes Urmaterial liefert. — Hans Findeisen.)
Friedrich Hefele, Die Vorfahren Karl Maria von Webers. Neue Studien zu
seinem 100. Todestag. Alit 15 Abb. Karlsruhe, C. F. Müller 10*20. ( 0 S. 1,80 Mk.
(Vom Bodensee zum Main, hsg. vom Landesverein Badische Heimat, 30). — Während
man bisher der Ansicht war, daß die Webersche Familie aus Alt-Oesterreich stamme,
wie dies auch der Sohn Karl Marias in seiner Biographie des Vaters behauptet, wird
hier von dem Freiburger Stadtarchivar auf Grund eingehendster Detailstudien der
Nachweis geführt, daß der älteste feststellbare Ahnherr unseres volkstümlichen
Komponisten in Stetten bei Lörrach am Südabhang des Schwarzwaldes, auftritt.
(Ende des 17. Jahrh.) Auch die Schicksale der nächsten zwei Generationen spielten
sich im Breisgan ab. Nicht Gelehrte, sondern juristisch vorgebildete Amtmänner
waren diese Vorfahren; ihre Streitigkeiten mit ihren adligen Patronen — der eigene
Adel ist selbstverliehen — bieten lebensvolle Bilder zur Kulturgeschichte des 18. Jhs..
und anziehend ist es, gewisse Züge des Komponisten in den Ähnenporträts wieder-
zufinden. — (F. B.)
Johannes Hertel, Die arische Feuerlehre, 1. Teil. Leipzig. H. Kaessel 1025.
188 S. (Indo-iranische Quellen und Forschungen G). — H. gründet auf eine neue
Deutung des W’ortes brähman (Feuer) und vieler Synonyma im Rigveda und Awesta,
die von den späteren Parsen und heutigen Iranisten falsch ausgelegt worden, eine
neue Auffassung der arischen Religion: Feuer wohnt in dem die ganze Erde um¬
gebenden Himmel, gelangt durch Blitz und Regen auf die Erde und erfüllt alle Lebe¬
wesen; Opfer und Leichen gelangen nur durch Verbrennung zu den Göttern. Auf
diese altarische Anschauung gehen Zarathustra im G. und Heraklit im 5. Jahrh.
zurück. Die durch ausführliche etymologische Untersuchungen gestützte Aufstellung
des hochverdienten Gelehrten bedarf natürlich sorgsamer Prüfung durch Fach¬
männer. — (J. B.
J. Horäk, Les etudes etlmographiques en Teheco-Slovaquie: la civilisation
materielle (Revue des etudes slaves 1, 228— 23G . — Histoire de Fethnographie et du
folk-lore tchecoslovaque (Anthropologie 2, Supplement 1524. 15 S.)
Jahresbericht der estnischen Philologie und Geschichte, hsg. von der Gelehrten
estnischen Gesellschaft bei der Universität Dorpat, Bd. o. Jahrg. 1020. Dorpat 192G.
XII, 283 8. — Dieser in der Hauptsache von Walter Anderson hergestellte Bericht
umfaßt in G Abteilungen Sprachforschung. Literaturgeschichte, Volkskunde, Ethno¬
graphie, Geschichte, Biographien und verdient das Lob großer Reichhaltigkeit und
Genauigkeit. So sind in dem Abschnitte ’ Volkskunde 4 (S. 59 -114), der 152 Nummern
enthält, sämtliche in Büchern und Zeitungen veröffentlichten Märchen, Sagen und
Schw*änke durch Inhaltsangaben, Verweise auf Aarnes Typenkatalog und besondere
Register kenntlich gemacht. Wichtigen Werken w r ie Krnusbergs Vorhistorischer
Familie (S. 120) sind ausführliche Referate gewidmet. — (J. B.)
E. Janietz u. D. Giebel, Neue märkische Tänze. Klaviersatz von P>. Schneider.
Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 192G. 39 S. Quer 8 U mit 8 Bildern. — In einer
Arbeitsgemeinschaft des Märkischen Volkstanzkreises sind im Anschluß an ältere
Bauerntänze diese 10 Neugestaltungen entstanden, unter denen wir den Senftenberger
(Nr. 2; und den Singetanz Nr. 10 nach Zuccalmaglios Lied ’Es fiel ein Reif in der
Frühlingsnacht 4 hervorheben. — (J. B.)
Gustav Jungbauer, Dreißig Jahre Volksliedarbeit. Sonderdruck aus der
‘Heimatbildung’, Reichenberg, Kraus. 11 S. — Ders. Volkskundliche Heimatforschung,
dsgl. 0 S. — Der erste Aufsatz gibt nach einer kurzen Übersicht über die Volkslied-
forschung auf sudetendeutschem Boden vom Jahre 181G bis zur Begründung der
‘Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen'
(1894) mit ihren seit 189G unter Hauffens Leitung erscheinenden ’Beiträgen zur deutsch¬
böhmischen Volkskunde 4 Bericht über die seitdem systematisch betriebene Volkslied¬
arbeit, an der der Verf. neben Hauff en, Pommer u. a. in hervorragendem Maße be¬
teiligt ist. Erfreulich ist das Gedeihen des Unternehmens auch nach Errichtung der
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1925 26. -i r;
Notizen.
Ul 4
Tsche<lu»lowakisehen Republik. Das zweite Heft dient vor allem zur Aufklärung
und Einführung der an der volkskundlichen Arbeit des sudetondeutschen ’Deutschen
Verbandes für Klimaforschung und Ileimatbildung* beteiligten Sammler. — (F. B.)
Rudolf Kap ff. Schwäbische Sagen. Jena, E. Diederichs 192b. Stuttgart, Silber-
bürg. 219 S, mit Abbildungen — In zusammenhänge nder Darstellung führt der Vf.
die Natursagen Schwabens von der Vluetesjagd, Kiesen und Zwergen, Wald- und
Wassergeistern bis zu den Legenden vor; eine zweite Gruppe bilden die geschicht¬
lichen Sagen, unter denen eine Auswahl getroffen ist, eine dritte die Schwänke,
Ortsneekoreien und Aurbachers Historie der sieben Schwaben. Die Zimmcrsche
rhronik und die gedruckten Sammlungen E. Meiers, Birlingers, Reisers u. a., auch Hauffs
Erzählungen sind fleißig ausgenutzt; viele andere Stücke, die leider in dem etwas
kärglichen (Quellennachweis fehlen, sollen aus dem Volksmunde geschöpft sein.
Allein beispielsweise das Märchen vom Schwaben, der das Leberlein gegessen (S. 17b),
ist offenbar aus Bechstein entlehnt, der wiederum Martin Montanus benutzte. Ebenso
sucht man für Graf Eberhard im Wildbad (S. 114), für die tapferen Weiber von
Schorndorf 8. 1G5 , für die neueren Untersuchungen über die treuen Weiber von
Weinsberg (S. 1G7 vergeblich nach einer Literaturangabe. Strenggenommen gehören
auch die Märchen vom Machandelboom JS. bl) und von der neuen Eva (S 108 nicht
in eine Sagensammlung, da sie nicht wie die von Kind und Schlange (S. Sb» und
vom Höllenheizer (S. 113} lokalisiert sind. Diese Bedenken fallen jedoch bei der
Keichhaltigkeit des Inhalts, der flüssigen Durstellu